In einer kleinen Stadt
Melanie Rae Thon - Das zweite Gesicht des Mondes

"White Falls" ist ein kleines Nest in Idaho, und wer da wohnt und aufwächst, weiß genau, wie sein Leben verlaufen wird, wenn die Schulzeit erst einmal beendet ist.

Doch wer, wie Iona Moon aus "Kila Flats", einem schäbigen Vorort von "White Falls" stammt, jeden Morgen die Kühe melken muß, mit Stiefeln zur Schule geht, an denen Kuhmist klebt, und nachmittags die todkranke Mutter pflegt, der hat am Ende der Schulzeit gar nichts zu lachen. "Wer zog schon aus der Stadt weg, um woanders ein neues Leben anzufangen? Bis September würde die Hälfte der Mädchen verheiratet sein. Das erste Kind kann jederzeit kommen; danach dauert es immer neun Monate."

Iona verläßt eines nachts das verhaßte Kuhnest samt ihren Brüdern und dem Vater, dessen Gedanken jahrein jahraus um den befürchteten oder erhofften Regen kreisen, fährt nach Seattle und tauscht ihr armseliges Leben auf dem Hof eines Kartoffelbauern gegen ein leeres Zimmer und die öde Nachtschicht in einem Tankstellen-Shop ein. Ohne es zu wollen landet sie genau da, wo schon viele Mädchen vor ihr gestrandet sind - und erkennt, daß der eingeschlagene Weg eine Einbahnstraße ist.

Zurückgekehrt nach "Kila Flats", wird Iona an der Haustür von ihrer besten Freundin Jeweldeen empfangen. Jeweldeen hat in der Zwischenzeit Ionas ältesten Bruder Leon geheiratet und erwartet bereits ihr erstes Kind. Für ihn war sie ein gutes Geschäft, denn Leon ist davon überzeugt, daß "eine Ehefrau billiger ist als eine Melkmaschine".

Die amerikanische Autorin Melanie Rae Thon hat sich in ihrem ersten auf deutsch erschienen Roman "Das zweite Gesicht des Mondes" eine Hand voll Menschen einer typisch amerikanischen Kleinstadt herausgegriffen. Es sind nicht allein die Jugendlichen, die Schwierigkeiten haben, ihr Leben in den Griff zu bekommen, mit der Schuld fertig zu werden, die sie sich in einem leichtsinnigen Moment aufgeladen haben. Ihre nicht eingestandene Suche nach Liebe, die sich oftmals zu einem erniedrigenden Buhlen um Anerkennung auswächst, treibt sie alle um.

Iona wünscht sich nichts sehnlicher, als daß ihr Vater "so nett mit ihr redet, wie mit den Kühen, wenn sie fällig waren und er ihre Not kannte. Das war die Wunde, die nie zuheilte: das schlichte Verlangen zu lieben, nicht einfach irgendwen, sondern diese vier", ihre drei Brüder und ihren Vater. "Sie wünschte sie würden alle etwas tun, nur eine Kleinigkeit, etwas Nettes, damit sie zumindest an die Möglichkeit von Liebe glauben konnte..., denn dann hätte sie die vier jetzt nicht hassen müssen."

Melanie Rae Thon schält die Verletzungen der gekränkten Seele ihrer Personen immer weiter heraus, bis am Schluß nichts übrig bleibt, als ein Flüstern: "Es ist das verwundete Herz, das uns am Ende zu Menschen macht, mein Liebster." Und der Trost des letzten Satzes eines wunderbaren Debüts: "Manchmal gab einem der Snake River eine zweite Chance, ob man sie nun haben wollte oder nicht."




Melanie Rae Thon -
Das zweite Gesicht des Mondes
Deutsch von Sabine Hedinger
Originaltitel: 1993, "Iona Moon"
1998, Reinbek, Rowohlt Verlag, 427 S., (unverb. Preis)

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© by Manuela Haselberger
rezensiert am 1999-01-30
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Quelle: http://www.bookinist.de
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