Das Grab von Jesus entdeckt?
Jacques Neirynck - Die letzten Tage des Vatikans

Eigentlich hatte er bzw. sein Bruder Emmanuel gar nie beabsichtigt einmal die letzten Tage des Vatikan einzuläuten, aber genau das geschieht auf Anordnung von Johannes XXIV.

Nur weil er, Theo de Fully, französisch-schweizer Bürger, Physiker und Nobelpreisträger, überzeugter Katholik und lupenreiner Pedant, wie ihn die Welt selten sieht, an einer der heiligsten Reliquien der römischen Kurie, nämlich dem Grabtuch von Turin, im Jahr 1988 eine wissenschaftliche Datierungsbestimmung mit der Radiokarbonmethode C14 unternimmt.

"Im gleichmäßigen Tempo eines Metronoms schritt Theo durch die Via della Scrofa, ohne sich von den vielfältigen Verlockungen einer römischen Straße ablenken zu lassen. Ihm blieben nur noch zwei Minuten bis zu seiner Verabredung, bei der er es ebensowenig ertrüge, zu spät zu kommen, wie zu früh dort einzutreffen. Er führte über die Zeit, die er sich selbst gönnte und anderen zubilligte, gewissenhaft Buch und lebte nach einem strengen Terminplan, um sich jegliches Warten zu ersparen. Da andere diese Grundregel der Höflichkeit jedoch mißachteten, mußte Theo sich dennoch bisweilen gedulden, litt aber nicht allzu sehr darunter, denn sein wenigstens in diesem Punkt reines Gewissen gestattete ihm, die Sorglosigkeit der anderen zu tadeln, die er gern als Zeitfresser brandmarkte. Im Grunde kämpfte er mit seiner übertriebenen Pünktlichkeit vor allem gegen geheime Befürchtungen an. Er zimmerte nämlich durch einen erbarmungslosen Umgang mit der Zeit, über die er sehr gut Bescheid mußte, an seiner Ewigkeit, von der er nichts wußte.

Kaum zehn Sekunden später als geplant betrat er das Restaurant. Der Oberkellner begrüßte ihn mit jener unvergleichlichen Mischung aus Ehrerbietung und Herablassung, mit der nur ein Römer einen Gast empfängt, und geleitete ihn an den Tisch neben der offenstehenden Terrassentür, den Theo noch kurz vor dem Weggehen von seinem Hotelzimmer aus telefonisch bestellt hatte."

Im Gegensatz zu den anderen Laboratorien gelangt das Institut von Theo nicht zu dem Schluss, dass das Grabtuch eine geschickte Fälschung aus dem Mittelalter ist und damit das Ostermysterium der Kirche, die Auferstehung Jesu, nur eine biblische Metapher, sondern er vermutet einen noch unbekannten physikalischen Vorgang beim Verschwinden des darin eingewickelten Körpers, der auf die Anzahl der C14-Isotope in diesem Leinentuch eingewirkt haben musste.

Kardinal Weiss, Chef der Kongregation für die Glaubenslehre und direkter Vorgesetzter von Theos Bruder Emmanuel de Fully, sieht in Theos Spekulation über die Echtheit des Grabtuches eine Chance die Existenz der historischen Person Jesus zu beweisen. Er unterstützt daher Theos Versuch in Jerusalem unterhalb des Areals auf dem Tempelberg das wahre Grab von Jesus zu finden und so durch wissenschaftlich erhärtete Fakten zu beweisen, dass Jesus vor 2000 Jahren wirklich auferstanden ist - ein Gottesbeweis, den die allenthalben wackelnde Kirche gut gebrauchen könnte.

Jacques Neirynck, der Ideenspinner dieses Buches, verbeißt sich über große Strecken in den Charakter und die Psyche des Physikers Theo de Fully. Auch seine Schwester Colombe und selbstverständlich sein Bruder Emmanuel, im Grunde ähnlich gestrickt, aber nicht so perfekt wie der ältere Bruder, werden unter das Mikroskopokkular des Schriftstellers gezogen. Einzig das appetitanregend geschilderte Essen in den verschiedenen römischen Restaurantes und die Kochkünste der Geschwister macht die drei für den Leser eine Spur menschlicher und normaler, gleichwohl die Schwester bei weitem nicht dauernd so asketisch wie die Brüder zu leben gewohnt ist.

Etwas stolpernd schlittert Neirynck mit dem Leser in den Epilog des Buches, der der deutschen Ausgabe auch den zum gesamten Roman unpassenden Titel verleiht. Doch auch wenn der szenische Zusammenhang mit den vorhergehenden Kapiteln etwas leidet, hier trumpft Neirynck noch einmal gewaltig auf und rechnet im "Gleichnis vom schlechten Hirten" mit der Institution der katholischen Kirche brillant ab.

Neiryncks Roman setzt sich zwischen den Zeilen sehr kritisch mit der augenblicklich existierenden Kirche auseinander und wenn man so will, sind seine drei Hauptfiguren durchaus als Parabeln auf die seit Jahrhunderten verbreitete Lehre der römischen Kirche hinsichtlich der richtigen christlichen Lebensweise anzusehen.


Jacques Neirynck -
Die letzten Tage des Vatikans
aus dem Französischen von
Originaltitel: 1994, "Le manuscrit du Saint-Sépulcre"
© 1999, Reinbek, Rowohlt Verlag, 396 S.,, 19.3.1999 Erscheinungstermin
© 2000, Reinbek, Rowohlt, 396 S., 8.50 € (TB)>br>



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© by Manuela Haselberger
rezensiert am 1999/03/19

Quelle: http://www.bookinist.de
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