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Den Fisch hat man erst, wenn er im Boot liegt. Es ist ein Fehler, schon zu rufen, man habe ihn, wenn er eben erst angebissen hat und man sein Gewicht in der Hand, die die Angelschnur hält, vibrieren fühlt. Man hat den Fisch erst, wenn er an Bord ist. Du mußt ihn mit einer sanften und gleichmäßigen Bewegung aus dem Wasser ziehen, schnell und nicht ruckartig. Sonst entwischt er dir. Du darfst nicht unruhig werden, wenn du spürtst, wie er da unten tobt und dir wer weiß wie groß erscheint durch die Kraft, mit der er sich vorn Haken loszureißen sucht.

Nicola hat mir das Fischen beigebracht. Das Boot ge-hörte nicht ihm, sondern meinem Onkel. Nicola benutzte es das ganze Jahr hindurch, und wenn die schöne Jahreszeit kam, dann half er dem Onkel an Sonntagen und in den Sommerferien. Nachts fischte er mit Lampen nach Tòtani, einer Art Tintenfisch, um sie als Köder zu benutzen. In der Frühe machte er das Boot fertig, und wir fuhren zeitig los.

Die Insel lag still da, und ein Junge konnte sich, wenn er barfuß zum Strand lief, geschmeidig fühlen wie die Steine unter seinen Füßen, duftend wie das Brot, dessen Geruch ihm von den Backstuben her in die Nase stieg, und erwachsen, weil er aufs offene Meer hinausfuhr, um cm Handwerk auszuüben. Die anderen Jungen kamen später an den Strand, wegen der Mädchen und um zu baden.


Das Meer der Erinnerung
Erri de Luca - Das Meer der Erinnerung

(Buchthema im Lit. Quartett am 18.6.99)

Es ist ein heißer Sommer in den fünfziger Jahren auf der Insel Ischia und für den sechzehnjährigen, stillen, grüblerischen Jungen der letzte Sommer seiner Kindheit.

Die langen Ferientage verbringt er mit dem Fischer Nicola. Von ihm läßt er sich draußen auf dem Meer erzählen, wie es im Krieg war. Nicola hat während des II. Weltkriegs in der Infanterie in Sarajevo gekämpft. Eigentlich möchte er über seine damaligen Erlebnisse nicht mehr reden. "Er erzählte mir diese Dinge nur unter der Bedingung, daß ich versprach, sie für mich zu behalten, denn er verstehe nichts von Politik, das seien bloß Geschichten aus den Zeiten des Krieges, wie es Zeiten des Südwestwinds und der Trockenheit gab oder Zeiten, in denen keine Thunfischschwärme durchzogen. Es gab: Diese beiden Wörter bestimmten alles Gute und Schlechte, das den Menschen widerfuhr."

Eines Tages taucht am Strand ein fremdes Mädchen aus. Caia hat nicht nur einen ungewöhnlichen Namen, sie spricht auch mit einem unbekannten Akzent und sie gefällt ihm sofort. Nach und nach puzzelt der Junge immer mehr Einzelheiten aus Caias Leben zusammen. Sie ist Jüdin und ihre Eltern wurden während des Holocausts ermordet.

Während seine Umgebung, Nicola und Caia eingeschlossen, verbissen versucht, den Krieg schleunigst zu vergessen, geht es dem Jungen darum, zu verstehen, was während des Krieges geschehen ist, um seinen eigenen Standpunkt im Leben zu bestimmen.

Es kommt zur Eskalation, als eine Gruppe deutscher Touristen abends in einem Lokal Nazi-Lieder anstimmt. Der aufkommende Schirokko bringt die Gemüter zum Kochen. "Das ist kein Wind; der Schirokko ist eine Wut. Der Himmel verschwindet, und die heiße Luft packt den Kopf, du kannst nicht mehr denken. Man soll keine Kinder machen, wenn der Schirokko geht, und keine Entscheidungen fällen."

Den Jungen treibt diese aufgeladene Atmosphäre, zu einer gräßlichen, unüberlegten Tat, die für die Erwachsenen, die sich darum bemühen, nicht mehr in alten Feindbildern zu denken, unverständlich ist. Für ihn aber ist es eine Frage der Verantwortung, die er so gerne für die Vergangenheit übernehmen möchte, aber dabei vergißt er, daß er neue Schuld auf sich lädt.

"Das Meer der Erinnerung" ist ein schmaler Roman, der vom Charakter eher eine Novelle ist, jedoch nach der Lektüre eine lange Nachwirkzeit hat.




Erri de Luca - Das Meer der Erinnerung
Übersetzt von Tobias Eisermann
Originaltitel: © 1998, "Tu, mio"
1999, Reinbek, Rowohlt Verlag, 127 S., 32 DM

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© by Manuela Haselberger
rezensiert am 1999-06-12

Quelle: http://www.bookinist.de
layout © Thomas Haselberger