Autoren über die Schulter geschaut
Herlinde Koelbl - Im Schreiben zu Haus

Die Fotografin Herlinde Koelbl ist seit ihren "Jüdischen Porträts" dafür bekannt, daß sie nicht nur eine Meisterin mit der Kamera ist, sondern auch eine sensible und gut informierte Interviewerin.

In ihrem neuen Bildband "Im Schreiben zu Haus", erschienen bei Knesebeck, knöpft sie sich die nicht ganz einfach zu handhabende Gruppe der Autoren vor. Sie besucht sie zu Hause, schaut ihnen beim Schreiben auf die Feder oder in den Laptop und in den aufgezeichneten Gesprächen erfährt der Leser eine ganze Menge über die Eigenheiten seiner Favoriten.

Wie gehen sie zu Werke, wann küßt sie die Muse und mit welchen Hilfsmitteln notieren sie ihre Texte?

So arbeitet, das heißt schreibt, Peter Bichsel am liebsten in Eisenbahnzügen und H. C. Artmann braucht zur Inspiration das Hämmern der Tasten seiner uralten Schreibmaschine. Viele junge Autoren, wie Ingo Schulze beispielsweise, können sich ein Schreiben ohne Notebook gar nicht mehr vorstellen.

Und die Einrichtung der Arbeitszimmer spricht Bände. Da herrscht das pure Chaos bei Friederike Mayröcker, oder es gibt das gemütliche Durcheinander bei Bichsel. Die Tür öffnet sich für die Kamera bei Reiner Kunze und gibt den Blick frei auf eine asketische Klause. Hier ist auf dem Schreibtisch nicht ein einziges Blatt Papier zu finden.

Herlinde Koelbl hat aber auch schwierige Kunden wie Sten Nadolny, der sich weigert, Besuch in seinem Arbeitszimmer zu empfangen, da er danach nicht mehr in der Lage ist, dort ungestört zu schreiben und Hans Magnus Enzensberger zieht die Trennung zwischen privater Wohnung und Arbeitswohnung vor.

So unterschiedlich wie ihre Bücher sind die aufgesuchten Autoren und eine Spezialität von Herlinde Koelbl ist das individuelle Eingehen auf jeden von ihnen. Auch wenn nicht alle gleich auskunftsfreudig sind, so bieten sie wunderbare Einblicke in ihr Schaffen. Wer vermutet, daß Peter Handke seine Romane mit langen, feingliedrigen Dichterhänden verfaßt, den belehrt der unbestechliche Blick der Kamera eines anderen. Seine Hände tragen unübersehbar die Spuren intensiver Gartenarbeit. Erschreckend und anrührend zugleich ist das schmale, von der Krankheit zerfurchte und gezeichnete Gesicht Jurek Beckers, der in großer Gelassenheit über seinen heranrückenden Tod spricht.

"Im Schreiben zu Haus" ist ein Bildband zum Schauen, Schmökern, Blättern, der das Herz jedes Literaturfreundes höher schlagen läßt und wer es nicht verschenken möchte, der sollte sich selbst damit etwas Gutes tun.

Und die Aussage Enzensberges bewahrheitet sich beim Lesen dieses außergewöhnlichen Buches überhaupt nicht: "Das Interessante an Schriftstellern sind ihre Bücher. Persönlich sind viele Autoren ausgemachte Langeweiler." Im Gegenteil: Die Menschen hinter ihren Texten sind so spannend wie ihre Bücher.


Herlinde Koelbl - Im Schreiben zu Haus
1998, München, Knesebeck Verlag, 257 S., 49.90 € (HC)

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© by Manuela Haselberger
rezensiert am 1998-Nov-06
Quelle: http://www.bookinist.de
layout © Thomas Haselberger