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Drachenreiter
Cornelia Funke - Drachenreiter
anz hinten, in einem verlassenen Tal herrscht Aufregung. Stimmt es wirklich, daß die Menschen kommen und das ganze Tal
überfluten wollen?
Die Drachen, die sich hierher zurückgezogen haben, beratschlagen was zu tun ist.
Lung, ein junger, mutiger und abenteuerlustiger Drache folgt dem Rat des weisen Schieferbart und macht sich auf, den Saum
des Himmels zu suchen, die ursprüngliche Heimat der Drachen.
Doch nicht nur er und das Koboldmädchen Schwefelfell sind dorthin unterwegs.
Auch der geheimnisvolle Goldene hat schon seine Raben auf die Suche geschickt.
Die bekannte Kinder- und Jugendbuchautorin Cornelia Funke erzählt eine spannende und überaus fesselnde Geschichte
zwischen Phantasie und Wirklichkeit, die sie selbst mit zahlreichen Bildern von Schwefelfell und all den anderen trefflich
illustriert hat.
manuela haselberger
Lesealter ab 10 Jahren
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Cornelia Funke - Drachenreiter
© 1997, Hamburg, Dressler, 448 Seiten, 15.90 € (HC)
© 1999, Hamburg, Jumbo Neue Medien, 4 Cass, 1950 € (MC)
© 2000, Hamburg, Jumbo Neue Medien, 4 CDs, 29.80 € (CD)
gebundenes Buch
4 Audio - CDs
4 Audio - Cassetten
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1. Kapitel
SCHLECHTE NACHRICHTEN
Nichts rührte sich im Tal der Drachen. Nebel trieb vom nahen Meer
herbei und blieb zwischen den Ber- gen hängen. Vögel zwitscherten zaghaft in dem feuchten Dunst und die Sonne verbarg
sich hinter den Wolken. Da huschte eine Ratte die Hänge hinunter. Sie überschlug sich, kugelte über die vermoosten Felsen
und rappelte sich wieder auf. »Hab ich's nicht gesagt?«, schimpfte sie vor sich hin. »Hab ich's ihnen nicht gesagt?«
Schnuppernd hob sie die spitze Nase, lauschte und lief auf eine Gruppe krumm gewachsener Tannen zu, die am Fuße
des höchsten Berges standen. »Vor dem Winter«, murmelte die Ratte. »Schon vor dem Winter hab ich es gerochen, aber
nein, sie wollten es nicht glauben. Sie fühlen sich hier sicher. Sicher! Pah!« Unter den Tannen war es dunkel, so dunkel, dass
man den Spalt kaum sah, der in der Bergflanke klaffte. Wie ein Schlund schluckte er den Nebel. »Sie wissen nichts«, schimpfte
die Ratte. »Das ist das Problem. Sie wissen gar nichts von der Welt. Nichts, überhaupt nichts.« Vorsichtig sah sie sich noch
einmal um, dann verschwand sie in der Spalte. Eine große Höhle verbarg sich dahinter. Die Ratte huschte hinein, aber sie kam
nicht weit. Jemand packte ihren Schwanz und hob sie in die Luft. »Hallo, Ratte! Was machst du denn hier?« Ratte
schnappte nach den pelzigen Fingern, die sie festhielten, aber außer ein paar Koboldhaaren bekam sie nichts zu fassen.
Wütend spuckte sie sie aus. »Schwefelfell!«, fauchte sie. »Lass mich auf der Stelle los, du hohlköpfige Pilzfresserin! Ich
habe keine Zeit für Koboldscherze.« »Keine Zeit?« Schwefelfell setzte Ratte auf ihre Pfote. Sie war noch ein junges
Koboldmädchen, klein wie ein Menschenkind, mit geflecktem Fell und hellen Katzenaugen. »Wieso, Ratte? Was hast du
denn so Wichtiges vor? Brauchst du einen Drachen, der dich vor hungrigen Katzen beschützt?« »Es geht nicht um
Katzen!«, zischte Ratte wütend. Sie mochte Kobolde nicht. Aber alle Drachen liebten die Pelzgesichter. Sie lauschten ihren
seltsamen kleinen Liedern, wenn sie nicht schlafen konnten. Und wenn sie traurig waren, konnte niemand sie besser trösten
als so ein frecher, nichtsnutziger Kobold. »Wenn du es wissen willst, ich habe schlechte Nachrichten, sehr schlechte«,
näselte Ratte. »Aber die werde ich nur Lung erzählen, ganz bestimmt nicht dir.« »Schlechte Nachrichten? Pfui, Schimmelpilz.
Was denn für welche?« Schwefelfell kratzte sich den Bauch. »Setz - mich - runter!«, knurrte Ratte. »Na gut.«
Schwefelfell seufzte und ließ Ratte auf den felsigen Boden hüpfen. »Aber er schläft noch.« »Dann werde ich ihn wecken!«,
fauchte Ratte und lief tiefer in die Höhle hinein, dorthin, wo ein blaues Feuer brannte und Dunkelheit und Nässe aus dem Bauch
des Berges vertrieb. Hinter den Flammen schlief der Drache. Er hatte sich zusammengerollt. Den Kopf hatte er auf die Tatzen
gelegt. Sein langer, gezackter Schwanz ringelte sich um das wärmende Feuer. Die Flammen ließen seine Schuppen leuchten
und warfen seinen Schatten an die Höhlenwand. Ratte huschte auf den Drachen zu, kletterte auf seine Tatze und zupfte ihn am
Ohr. »Lung!«, rief sie. »Lung, wach auf. Sie kommen!« Verschlafen hob der Drache den Kopf und öffnete die Augen.
»Ach, du bist es, Ratte!«, murmelte er. Seine Stimme war ein bisschen rau. »Ist die Sonne schon untergegangen?«
»Nein, aber du musst trotzdem aufstehen! Du musst die anderen wecken!« Ratte sprang von Lungs Pfote und lief unruhig
vor ihm auf und ab. »Ich habe euch gewarnt. Aber ihr wolltet ja nicht hören.« »Wovon redet sie?« Fragend sah der Drache
zu Schwefelfell hinüber, die sich ans Feuer gesetzt hatte und an einer Wurzel knabberte. »Keine Ahnung!«, schmatzte
Schwefelfell. »Sie redet schon die ganze Zeit so wirres Zeug. Es passt eben nicht viel Verstand in so einen kleinen Kopf.«
»Ach ja?« Ratte schnappte empört nach Luft. »Das, das ...« »Hör nicht auf sie, Ratte!« Lung stand auf, reckte den langen
Hals und schüttelte sich. »Sie hat schlechte Laune, weil ihr Fell feucht ist von dem Nebel.« »Ach was!« Ratte warf Schwefelfell
einen giftigen Blick zu. »Kobolde haben immer schlechte Laune. Seit Sonnenaufgang bin ich auf den Pfoten, um euch zu warnen.
Und was ist der Dank?« Ihr graues Fell sträubte sich vor Ärger. »Ich muss mir ihre pelzigen Dummheiten anhören!«
»Wovor denn warnen?« Schwefelfell warf den abgeknabberten Rest ihrer Wurzel gegen die Höhlenwand.
»Bleichstieliger Schüpperling! Wenn du nicht endlich aufhörst, es so spannend zu machen, bind ich dir einen Knoten in den
Schwanz!« »Schwefelfell!« Lung schlug ärgerlich mit der Tatze ins Feuer. Blaue Funken flogen dem Koboldmädchen auf
den Pelz und erloschen dort wie winzige Sternschnuppen. »Ja, ja, schon gut!«, brummte sie. »Aber diese Ratte kann einen
wirklich verrückt machen mit ihrem ewigen Drumherumgerede.« »Ach ja? Dann hör mir jetzt mal zu!« Die Ratte richtete sich
zu ihrer vollen Größe auf, stemmte die Pfoten in die Seiten und bleckte die Zähne. »Diiieee Menschen kommen!«, fauchte sie
so schrill, dass ihre Stimme in der Höhle widerhallte. »Die Menschen kommen! Weißt du, was das heißt, du blätterwühlender,
pilzfressender, zottelköpfiger Kobold? Sie kommen hiiiierheeer!« Totenstill war es plötzlich. Schwefelfell und Lung saßen
da wie erstarrt. Nur Ratte zitterte immer noch vor Wut. Ihre Schnurrbarthaare bebten und ihr Schwanz zuckte auf dem
Höhlenboden hin und her. Lung regte sich als Erster wieder. »Die Menschen?«, fragte er, beugte den Hals und hielt
Ratte seine Tatze hin. Mit beleidigter Miene trippelte sie hinauf. Lung hob sie vor seine Augen. »Du bist sicher?«, fragte er.
»Ganz sicher«, antwortete die Ratte. Lung senkte den Kopf. »Es musste so kommen«, sagte er leise.
»Sie sind schon überall. Ich glaube, es werden immer mehr.« Schwefelfell saß immer noch da wie betäubt.
Plötzlich sprang sie auf und spuckte ins Feuer. »Unmöglich!«, rief sie. »Hier ist nichts, was sie mögen. Gar nichts!«
»Pah!« Die Ratte lehnte sich so weit hinunter, dass sie fast von Lungs Tatze kippte. »Rede nicht so einen Unsinn.
Du warst doch selbst schon bei den Menschen. Es gibt nichts, was sie nicht mögen. Es gibt nichts, was sie nicht haben wollen.
Hast du das schon vergessen?« »Ja, ja, schon gut!«, brummte Schwefelfell. »Du hast Recht. Sie sind gierig. Sie wollen alles
für sich.« »Ja, das wollen sie!« Die Ratte nickte. »Und ich sage euch, sie kommen hierher.« Das Drachenfeuer flackerte.
Die Flammen sanken zusammen, bis die Dunkelheit sie fraß wie ein schwarzes Tier. Nur eins ließ Lungs Feuer so schnell
verlöschen: Traurigkeit. Der Drache blies sacht auf den felsigen Boden und die Flammen flackerten wieder auf. »Das sind
wirklich schlimme Neuigkeiten, Ratte«, sagte Lung. Er ließ Ratte auf seine Schulter springen und ging langsam auf den
Höhlenausgang zu. »Komm, Schwefelfell«, sagte er. »Wir müssen die anderen wecken.« »Na, die werden sich freuen!«,
knurrte Schwefelfell, strich sich das Fell glatt und folgte Lung hinaus in den Nebel. VERSAMMLUNG IM REGEN
Schieferbart war der älteste Drache im Tal. Er hatte mehr erlebt, als seine Erinnerung festhalten konnte.
Seine Schuppen schimmerten schon lange nicht mehr, aber Feuer speien konnte er noch, und die Jüngeren fragten ihn um
Rat, wenn sie nicht weiterwussten. Lung weckte Schieferbart, als alle anderen Drachen sich schon vor seiner Höhle drängten.
Die Sonne war untergegangen. Die Nacht hing schwarz und sternenlos über dem Tal und es regnete immer noch.
Missmutig sah der alte Drache zum Himmel, als er aus seiner Höhle trat. Seine Knochen schmerzten von der
Feuchtigkeit und die Kälte machte seine Gelenke steif. Die anderen Drachen wichen respektvoll vor ihm zurück.
Schieferbart sah sich um. Keiner fehlte, aber Schwefelfell war der einzige Kobold, der da war. Mit schweren Schritten und
schleifendem Schwanz ging der alte Drache durch das feuchte Gras auf einen Felsen zu, der wie der moosbewachsene Kopf
eines Riesen im Tal aufragte. Schnaufend stieg er hinauf und sah sich um. Wie erschrockene Kinder blickten die anderen
Drachen zu ihm hoch. Einige waren noch sehr jung und kannten nur dieses Tal, andere waren mit ihm von weit, weit her
gekommen und erinnerten sich daran, dass die Welt nicht immer den Menschen gehört hatte. Sie alle rochen das Unglück
und sie hofften, dass er es verscheuchen würde. Aber er war alt und müde. »Komm herauf, Ratte«, sagte er mit heiserer
Stimme. »Erzähl, was du gesehen und gehört hast.« Flink sprang die Ratte den Felsen hinauf, kletterte Schieferbarts
Schwanz hoch und hockte sich auf seinen Rücken. Es war so still unter dem dunklen Himmel, dass nur das Rauschen des
Regens zu hören war und das Rascheln der jagenden Füchse in der Nacht. Ratte räusperte sich. »Die Menschen kommen!«,
rief sie. »Sie haben ihre Maschinen geweckt, sie gefüttert und auf den Weg gebracht. Nur zwei Tage von hier fressen sie sich
schon durch die Berge. Die Feen werden sie noch eine Weile aufhalten, aber irgendwann sind sie hier, denn ihr Ziel ist euer Tal.«
Die Drachen stöhnten auf, hoben die Köpfe und drängten sich noch dichter um den Felsen, auf dem Schieferbart stand.
Lung hielt sich etwas abseits. Schwefelfell hockte auf seinem Rücken und knabberte an einem getrockneten Pilz herum. »Na, na,
Ratte«, murmelte sie. »Hätte man das nicht etwas netter sagen können?« »Was heißt das?«, rief einer der Drachen. »Was
wollen sie hier? Sie haben doch alles, da, wo sie sind?« »Sie haben nie alles, was sie wollen«, antwortete die Ratte. »Wir
verstecken uns, bis sie wieder weg sind!«, rief ein anderer Drache. »So wie wir es immer gemacht haben, wenn sich einer von
ihnen hierher verirrt hat. Sie sind doch so blind, sie sehen nur, was sie sehen wollen. Sie werden uns wieder für Felsen halten
oder für abgestorbene Bäume.« Aber die Ratte schüttelte den Kopf. »Schon lange warne ich euch!«, rief sie mit schriller
Stimme. »Hundertmal habe ich euch gesagt, dass die Menschen Pläne schmieden. Aber Große hören nicht auf Kleine, nicht
wahr?« Ärgerlich sah sie sich um. »Ihr versteckt euch vor den Menschen, aber euch interessiert nicht, was sie treiben. Meine
Sippe ist nicht so dumm. Wir gehen in ihre Häuser. Wir belauschen sie. Und deshalb wissen wir, was sie mit eurem Tal vorhaben.«
Ratte räusperte sich und strich über ihren grauen Schnurrbart. »Jetzt macht sie es wieder spannend«, flüsterte Schwefelfell
Lung ins Ohr, aber der Drache beachtete sie nicht. »Was haben sie vor?«, fragte Schieferbart müde. »Sag schon, Ratte.«
Die Ratte zwirbelte nervös an einem Barthaar. Es machte wirklich keinen Spaß, schlechte Nachrichten zu überbringen. »Sie -
werden euer Tal fluten«, antwortete sie zögernd. »Hier wird bald nichts als Wasser sein. Eure Höhlen werden überschwemmt
und von den hohen Bäumen da«, sie zeigte mit der Pfote in die Dunkelheit, »werden nicht einmal mehr die Spitzen aus dem
Wasser ragen.« Sprachlos starrten die Drachen sie an. »Das ist unmöglich!«, stieß schließlich einer hervor. »Niemand
kann das. Nicht einmal wir, obwohl wir größer und stärker sind als sie.« »Unmöglich?« Die Ratte lachte spöttisch. »Größer,
stärker? Ihr versteht gar nichts. Sag du es ihnen, Schwefelfell. Sag ihnen, wie die Menschen sind. Vielleicht glauben sie dir ja.«
Beleidigt rümpfte sie die spitze Nase. Die Drachen wandten sich zu Lung und Schwefelfell um. »Ratte hat Recht«, sagte
das Koboldmädchen. »Ihr habt keine Ahnung.« Sie spuckte auf die Erde und zupfte an einem Stück Moos, das zwischen ihren
Zähnen klemmte. »Die Menschen laufen nicht mehr in Rüstungen herum wie damals, als sie euch gejagt haben, aber gefährlich
sind sie immer noch. Sie sind das Gefährlichste, was es gibt auf der Welt.« »Ach was!«, rief ein großer, dicker Drache.
Verächtlich drehte er Schwefelfell den Rücken zu. »Lasst die Zweibeiner ruhig kommen. Ratten und Kobolde müssen sich
vielleicht vor ihnen fürchten, aber wir sind Drachen. Was können sie uns schon an-haben?« »Was sie euch anhaben
können?« Schwefelfell warf ihren angeknabberten Pilz weg und richtete sich auf. Jetzt war sie ärgerlich und mit verärgerten
Kobolden ist nicht zu spaßen. »Du bist noch nie aus diesem Tal herausgekommen, du Hohlkopf!«, rief sie. »Du denkst bestimmt,
Menschen schlafen auf Blättern, so wie du. Du denkst, sie können nicht mehr ausrichten als eine Fliege, weil sie kaum länger
leben. Du denkst, sie haben nichts im Kopf als Fressen und Schlafen. Aber so sind sie nicht. O nein!« Schwefelfell schnappte
nach Luft. »Die Dinger, die manchmal über den Himmel ziehen und die du Dummkopf Lärmvögel nennst, sind Flugmaschinen,
die die Menschen gebaut haben. Sie können miteinander reden, obwohl sie nicht einmal im selben Land sind. Sie können Bilder
machen, die sich bewegen und sprechen, Gefäße aus Eis formen, das nie schmilzt, ihre Häuser nachts zum Leuchten bringen,
als hätten sie die Sonne eingefangen, sie, sie«, Schwefelfell schüttelte den Kopf, »sie können wunderbare Dinge tun - und
abscheuliche. Wenn sie dieses Tal unter Wasser setzen wollen, dann werden sie es tun. Ihr müsst fort, ob es euch passt oder
nicht.« Die Drachen starrten sie an. Auch der, der sich vorhin noch umgedreht hatte. Einige blickten hinauf zu den Bergen,
als erwarteten sie, dass im nächsten Moment die Maschinen über die schwarzen Gipfel kröchen. »Verflixt!«, murmelte
Schwefelfell. »Jetzt hat der Kerl mich so wütend gemacht, dass ich diesen köstlichen Pilz weggeworfen habe. War ein
Schwarzschuppiger Ritterling. So was Schmackhaftes findet man selten.« Ärgerlich kletterte sie von Lungs Rücken und
suchte im nassen Gras herum. »Ihr habt es gehört!«, sagte Schieferbart. »Wir müssen fort.« Zögernd, mit Gliedern,
die schwer waren vor Angst, wandten die Drachen sich ihm wieder zu. »Für einige von euch«, fuhr der alte Drache fort,
»ist es das erste Mal, aber viele von uns sind schon oft vor den Menschen geflohen. Diesmal wird es allerdings besonders
schwer werden, einen Ort zu finden, der ihnen nicht schon gehört.« Er wiegte traurig den Kopf. »Es werden mehr, scheint mir.
Mit jedem Mond.« »Ja, sie sind überall«, sagte der, der eben noch über Schwefelfells Worte gespottet hatte. »Nur wenn
ich über das Meer fliege, sehe ich ihre Lichter nicht in der Tiefe.« »Dann müssen wir endlich versuchen mit ihnen zu leben!«,
rief ein anderer. Aber Schieferbart schüttelte den Kopf. »Nein«, sagte er. »Man kann nicht mit den Menschen leben.«
»Oh, das kann man schon.« Die Ratte strich sich über das regennasse Fell. »Hunde und Katzen tun es, Mäuse, Vögel, selbst wir
Ratten. Aber ihr«, sie ließ ihren Blick über die Drachen wandern, »ihr seid zu groß, zu klug, zu ...«, sie zuckte die Achseln,
»... zu anders! Ihr würdet ihnen Angst machen. Und was den Menschen Angst macht, das ...« »Das ...«, sagte der alte Drache
mit müder Stimme, »zerstören sie. Sie haben uns schon einmal fast ausgerottet, vor vielen, vielen hundert Jahren.« Er hob den
schweren Kopf und blickte die jüngeren an, einen nach dem anderen. »Ich hatte gehofft, dass sie uns wenigstens dieses Tal
überlassen. Das war töricht.« »Aber wo sollen wir denn dann hin?«, rief einer der Drachen verzweifelt. »Das hier ist unser
Zuhause.« Schieferbart antwortete nicht. Er blickte hinauf zum Nachthimmel, an dem die Sterne sich immer noch hinter
den Wolken verbargen, und seufzte. Dann sagte er mit rauer Stimme: »Kehrt zurück zum Saum des Himmels. Das Davonlaufen
muss ein Ende haben. Ich bin zu alt. Ich werde mich in meiner Höhle verkriechen, aber ihr Jüngeren könnt es schaffen.«
Erstaunt sahen die Jungen ihn an. Die anderen aber hoben die Köpfe und blickten sehnsüchtig nach Osten.
»Der Saum des Himmels«, Schieferbart schloss die Augen. »Seine Berge sind so hoch, dass sie den Himmel berühren.
Höhlen aus Mondstein verbergen sich in ihren Hängen und das Tal in ihrem Schoß ist bedeckt von blauen Blumen. Als ihr
Kinder wart, haben wir euch Geschichten erzählt über diesen Ort. Vielleicht habt ihr sie für Märchen gehalten, aber einige von
uns haben ihn wirklich gesehen.« Er öffnete die Augen wieder. »Ich wurde dort geboren, vor so langer Zeit, dass Ewigkeiten
zwischen mir und der Erinnerung daran liegen. Ich war jünger als die meisten von euch, als ich fortflog, weil mich der weite
Himmel lockte. Ich flog nach Westen, immer weiter. Nie wieder konnte ich seitdem wagen im Sonnenlicht zu fliegen. Verstecken
musste ich mich vor Menschen, die mich für einen Vogel des Teufels hielten. Ich habe versucht zurückzukehren, aber ich habe
den Weg nie wieder gefunden.« Der alte Drache blickte die jüngeren an. »Sucht den Saum des Himmels! Kehrt zurück zwischen
seine schützenden Gipfel, vielleicht müsst ihr dann nie wieder vor den Menschen fliehen. Noch sind sie nicht hier«, er wies mit
dem Kopf auf die dunklen Bergkuppen ringsum, »aber sie werden kommen. Ich spüre es schon lange. Fliegt! Fliegt fort! Bald.«
Wieder wurde es ganz still. Fein wie Staub fiel der Regen vom Himmel. Schwefelfell zog fröstelnd den Kopf zwischen
die Schultern. »Na, danke sehr«, flüsterte sie Lung zu. »Der Saum des Himmels, ts. Das hört sich viel zu schön an, um wahr zu
sein. Der Alte wird geträumt haben, nichts weiter.« Lung sagte gar nichts, nachdenklich blickte er zu Schieferbart hoch. Dann
machte er plötzlich einen Schritt nach vorn. »He!«, zischte Schwefelfell erschrocken. »Was hast du vor? Mach keine
Dummheiten.« Aber Lung beachtete sie nicht. »Du hast Recht, Schieferbart!«, sagte er. »Ich bin es sowieso leid, mich zu
verstecken und nur über diesem Tal zu kreisen.« Er drehte sich zu den anderen um. »Lasst uns den Saum des Himmels
suchen. Lasst uns noch heute aufbrechen. Der Mond nimmt zu. Es gibt keine bessere Nacht für uns.« Die anderen wichen
vor ihm zurück, als wäre er verrückt geworden. Schieferbart aber lächelte, zum ersten Mal in dieser Nacht. »Du bist noch
ziemlich jung«, stellte er fest. »Ich bin alt genug«, antwortete Lung und hob den Kopf noch etwas höher. Er war nicht viel
kleiner als der alte Drache. Nur seine Hörner waren kürzer und seine Schuppen glänzten im Mondlicht. »Halt, halt, Moment
mal!« Hastig kletterte Schwefelfell an Lungs Hals empor. »Was ist das für ein Blödsinn? Du bist vielleicht zehnmal über diese
Hügel hinausgeflogen. Du, du«, sie breitete die Arme aus und zeigte auf die Berge ringsum. »Du hast keine Ahnung, was dahinter
kommt. Da kannst du doch nicht einfach losfliegen, quer durch die Menschenwelt, um einen Ort zu suchen, den es vielleicht
gar nicht gibt!« »Sei still, Schwefelfell«, sagte Lung ärgerlich. »Nein, das bin ich nicht!«, fauchte das Koboldmädchen.
»Guck dir die andern an. Sehen die aus, als ob sie losfliegen wollen? Nein. Also, vergiss das Ganze. Wenn die Menschen
wirklich kommen, dann finde ich schon eine schöne neue Höhle für uns!« »Hör auf sie!«, sagte einer der anderen Drachen
und trat auf Lung zu. »Den Saum des Himmels gibt es nur in Schieferbarts Träumen. Die Welt gehört den Menschen. Wenn wir
uns verstecken, lassen sie uns in Ruhe. Und kommen sie wirklich hierher, dann müssen wir sie eben verjagen.« Da lachte
die Ratte. Schrill und laut. »Hast du schon mal versucht das Meer zu verjagen?«, rief sie. Aber der Drache antwortete ihr nicht.
»Kommt!«, sagte er zu den anderen. Dann drehte er sich um und ging durch den strömenden Regen zu seiner Höhle zurück.
Einer nach dem anderen folgte ihm. Bis nur noch Lung und der alte Drache übrig waren. Schieferbart stieg steifbeinig von dem
Felsen herunter und blickte Lung an. »Ich kann verstehen, dass sie den Saum des Himmels nur für einen Traum halten«, sagte
er. »An manchen Tagen geht es mir selbst schon so.« Lung schüttelte den Kopf. »Ich werde ihn finden«, sagte er und sah
sich um. »Selbst wenn Ratte nicht Recht hat und die Menschen bleiben, wo sie sind - es muss einen Ort geben, an dem wir uns
nicht verstecken müssen. Und wenn ich ihn gefunden habe, komme ich zurück um euch zu holen. Ich fliege noch heute Nacht.«
Der alte Drache nickte. »Komm in meine Höhle, bevor du aufbrichst«, sagte er. »Ich werde dir alles erzählen, was ich noch
weiß. Auch wenn das nicht viel ist. Aber jetzt muss ich aus dem Regen heraus, sonst kann ich diese alten Knochen morgen
überhaupt nicht mehr bewegen.« Mühsam stapfte er zurück zu seiner Höhle. Lung blieb mit Schwefelfell und Ratte allein
zurück. Das Koboldmädchen hockte auf seinem Rücken und machte ein grimmiges Gesicht. »Dummkopf!«, schimpfte sie leise.
»Muss den Helden spielen, etwas suchen, was es gar nicht gibt. Ts.« »Was murmelst du denn da?«, fragte Lung und drehte
sich zu ihr um. Da platzte Schwefelfell der Kragen. »Und wer soll dich wecken, wenn die Sonne untergeht?«, rief sie. »Wer
soll dich vor den Menschen beschützen, in den Schlaf singen und hinter den Ohren kraulen?« »Ja, wer bloß?«, fragte Ratte
schnippisch. Sie saß immer noch auf dem Felsen, auf dem der alte Drache gestanden hatte. »Na, ich natürlich!«, raunzte
Schwefelfell sie an. »Bleibt mir ja gar nichts anderes übrig, zum Keulenfüßigen Trichterling noch mal!« »Aber nein!«
Lung drehte sich so heftig um, dass Schwefelfell fast von seinem regennassen Rücken rutschte. »Du kannst nicht mit.«
»Ach, und wieso nicht?« Schwefelfell verschränkte beleidigt die Arme. »Weil es gefährlich ist.« »Ist mir doch egal.«
»Aber du hasst das Fliegen. Dir wird schlecht davon!« »Ich werd mich dran gewöhnen.« »Du wirst Heimweh
bekommen!« »Wonach? Meinst du, ich warte hier, bis mich die Fische beißen? Nein, ich komme mit.« Lung seufzte.
»Gut«, murmelte er. »Du kommst mit. Aber beklage dich nicht irgendwann, dass ich dich mitgenommen habe.« »Das macht
sie bestimmt«, sagte Ratte. Sie kicherte und sprang von dem Felsen ins feuchte Gras. »Kobolde sind nur glücklich, wenn sie
etwas zu meckern haben. Aber jetzt lasst uns zu dem alten Drachen gehen. Wenn du noch heute Nacht aufbrechen willst,
bleibt dir nicht mehr viel Zeit. Bestimmt nicht genug, um dich mit dieser holzköpfigen Pilzfresserin zu Ende zu streiten.«
Lesezitat nach Cornelia Funke - Drachenreiter
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