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EINES NASSKALTEN APRIL- MORGENS bestieg Glass, die linke Hand am Griff ihres Koffers aus abgewetztem Lederimitat, die rechte am Geländer einer wackeligen Gangway, einen Ozeanriesen, der im Hafen von Boston zum Auslaufen nach Europa bereitlag. Menschen wimmelten über den Pier, Wasser schlug aufgebracht gegen die Kaimauer. In der Luft hing ein stechender, Übelkeit erregender Gestank, eine Mischung von verbranntem Teer und faulendem Fisch. Glass legte den Kopf in den Nacken und betrachtete mit zusammengekniffenen Augen die dickbauchigen Wolkenbänke, die sich über der Küste von Massachusetts stapelten. Nieselregen jagte gegen den dünnen Mantel, der ihre unmöglich mageren Beine umschlackerte. Sie war siebzehn Jahre alt und im neunten Monat schwanger.

Abschiedsrufe erklangen, weiße Taschentücher flatterten im Wind, Motoren erwachten zum Leben. Inmitten der wogenden Menschenmenge, die sich am Pier versammelt hatte, um Verwandten und Bekannten Lebewohl zu winken, stand ein Kind. Lachend erhob es eine Hand und deutete in den grauen Himmel. Hoch oben, auf salzigem Wind, tanzten Möwen wie die Papierfetzen bei einer Parade zur Feier des Unabhängigkeitstages. Die unschuldige Geste rührte Glaas und reichte beinahe aus, ihren Entschluss, Amerika zu verlassen, ins Wanken zu bringen. Doch plötzlich hatte der Dampfer es eilig. Mit einem wehmütigen Tuten legte er ab und ließ den Hafen hinter sich. Sein Bug drückte tief ins Wasser. Glass wandte dem Festland den Rücken zu. Sie schaute nie zurück.


Buxtehuder Bulle für Andreas Steinhöfel
Andreas Steinhöfel - Die Mitte der Welt

So wie jedes Jahr wurde auch 1999 wieder die Buxtehuder Bulle, ein immerhin mit 10.000 DM ausgestatteter Preis, für das beste Jugendbuch vergeben. Ausgezeichnet hat die Jury, die sich aus 22 Mitgliedern (je zur Hälfte Jugendliche und Erwachsene) zusammensetzt, den Roman "Die Mitte der Welt" von Andreas Steinhöfel. Vor ihm wurden bereits Autoren wie Michael Ende und Ralf Isau mit der begehrten "Bulle" prämiert.

"Die Mitte der Welt" ist die Geschichte eines Zwillingspaares, Phil und Dianne. Die beiden werden von ihrer Mutter, Glass, alleine groß gezogen. Die Umstände ihrer Geburt sind ziemlich ungewöhnlich und die Kinder werden von den Kameraden aus dem Dorf häufig als "Hexenkinder" bezeichnet. Denn auch die junge Glass, bei der Geburt ist sie noch keine achtzehn Jahre alt, paßt nicht in das Klischee der perfekten Mutter. Doch eines gibt sie ihren Kindern mit: "Seid stark und wehrt euch. Wer euch verletzt, dem tut doppelt weh oder geht aus dem Weg, aber laßt euch niemals vorschreiben, wie ihr zu leben habt. Ich liebe euch, wie ihr seid."

Es sind keine leichten Kämpfe, die Dianne und Phil führen. Phil erkennt mit zunehmendem Alter, daß er schwul ist. Er findet einen Freund, doch leider bleiben bei der ersten großen Liebe die Enttäuschungen nicht aus. "Wenn ich seinen Namen flüstere, spüre ich Scherben im Mund. Wenn ich sein Bild vor mich befehle, legt sich Eis auf meine Gedanken. Wenn ich mir vorstelle ihn zu streicheln, öffnen Skalpelle mir Finger und Hände."

Die poetische Sprache Steinhöfels sind eine Stärke des Buches. Zum anderen erzählt er nicht nur die Geschichte einer Pubertät, die mit dem Coming-out des Jungen endet. Nein, jede Figur hat ihre Geschichte und natürlich ihre eigenen Geheimnisse, die sich langsam vor den Augen des Lesers entwickeln. Der humorvolle Ton, die Slapstick-Einlagen, erinnern an John Irvings "Hotel New Hampshire." Ein ausgezeichneter Jugendroman - auch für Erwachsene.

Lesealter ab 12 Jahren


Andreas Steinhöfel - Die Mitte der Welt

1998, Hamburg, Carlsen Verlag, 460 S., 36 DM

Ausgezeichnet mit dem begehrten Jugendbuchpreis der "Buxtehuder Bulle"
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© by Manuela Haselberger
rezensiert am 1999-07-22

Quelle: http://www.bookinist.de
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