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Gegenstück zu diesem Buch ?

Bookinists Buchtipp zur ...
Antwort des Bruders:


Der Junge aus Limerick

von Malachy McCourt




Bookinists Buchtipp zu
einem ähnlichen
Schriftsteller
aus Schweden


Populärmusik aus Vittula

von Mikael Niemi



Eine irische Kindheit -
aber was für eine
Frank McCourt - Die Asche meiner Mutter

n einem Interview, das der amerikanische Autor, Frank Mc Court kürzlich gegeben hat, sagte er, daß er, als er 1995 in Pension ging, nur zwei Möglichkeiten sah: Entweder er mußte diesen Teil seines Lebens vergessen, oder er konnte ihn aufschreiben.

Er hat sich für die zweite Möglichkeit entschieden und die Leser können ihm dankbar sein, daß er sie an seiner Geschichte teilhaben läßt. "Wenn ich auf meine Kindheit zurückblicke, frage ich mich, wie ich überhaupt überlebt habe. Natürlich hatte ich eine unglückliche Kindheit; eine glückliche Kindheit lohnt sich ja kaum. Schlimmer als eine normale unglückliche Kindheit ist die unglückliche irische Kindheit, und noch schlimmer ist die unglückliche irische katholische Kindheit."

Geboren wurde Frank McCourt 1930 in Amerika, als Sohn irischer Einwanderer. Seinen Eltern ging es im Land der unbegrenzten Möglichkeiten, es ist das New York zur Zeit der Prohibition, erbärmlich. Zu ihrem Elend in Brooklyn kommt jedes Jahr ein Kind dazu, für das nicht die mindesten Voraussetzungen an Nahrung oder Kleidung vorhanden sind.

Nach dem Tod ihrer kleinen Tochter, die vom Vater geradezu vergöttert wurde, beschließen sie wieder zurück nach Irland zu gehen. Sie wechseln allerdings nur die eine elendigliche Umgebung mit der anderen. Als es ihnen gelungen ist, in Irland eine Unterkunft zu finden, Wohnung kann es beim besten Willen nicht genannt werden, erklärt die Familie, nachdem die untere Etage im Winter ständig überflutet ist, diese zu Irland und der erste Stock, der leidlich trocken und ab und zu sogar warm ist, zu Italien.

Immer wieder versucht die Familie dem erbärmlichen Leben noch einen letzten Rest an Witz und Freude abzutrotzen. Geld ist absolute Mangelware und sollte tatsächlich einmal ein Penny im Haus sein, so wird dieser vom Vater sofort in Alkohol umgesetzt. Irgendwann verschwindet er ganz in´s feindliche England und läßt seine Frau mit einer Horde Kinder zurück, die an Verwahrlosung und Hunger fast umkommen.

Mit aller Macht versucht Frank an Geld zu kommen, denn er will wieder zurück nach Amerika. Seinen Traum kann er sich mit neunzehn Jahren erfüllen, doch bis dahin hat er eine Menge durchzustehen und jede Menge Lebenserfahrung zu sammeln. "Die Läuse sind schlimmer als die Flöhe. Läuse hocken und saugen, und durch ihre Haut können wir unser Blut sehen. Flöhe hüpfen und beißen, und sie sind sauberer als Sachen, die hocken."

Das Faszinierende der Geschichte Frank McCourts ist die Beschreibung einer Familie aus der Sicht eines Kindes. Frank nimmt das Elend wahr, doch er jammert nicht, er nennt es beim Namen, daß dem Leser beim Umblättern der Atem stockt. McCourt erzählt seine Geschichte wie locker aus dem Handgelenk geschüttelt und der Leser fragt sich am Ende des Romans verwundert, ob ein Kind dieses Leid wirklich aushalten kann. Unbeschadet sicher nicht.
Es ist keine Unterteibung, wenn Frank McCourts Kindheitsgeschichte als die Neuerscheinung des Herbstes 1996 bzw. Herbstes 1998 (TB) gewertet wird.


Frank McCourt - Die Asche meiner Mutter
übersetzt von Harry Rowohlt
© Original: 1996, Angela´s Ashes
1998, München, btb, 508 S., 10.-- € (broschiert)
1996, Frankfurt, Luchterhand, 508 S., 24.50 € (HC)
2000, Frankfurt, Luchterhand, 508 S., 13.-- € (HC)
1997, Hörbuch mit 12 Cassetten, 76.-- € (CD)





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Kapitel 1

Mein Vater und meine Mutter hätten in New York bleiben sollen, wo sie sich kennengelernt und geheiratet haben und wo ich geboren wurde. Statt dessen sind sie nach Irland zurückgekehrt, als ich vier war und mein Bruder Malachy drei, und die Zwillinge Oliver und Eugene waren eben gerade ein Jahr alt, und meine Schwester Margaret war tot und weg.
Wenn ich auf meine Kindheit zurückblicke, frage ich mich, wie ich überhaupt überlebt habe. Natürlich hatte ich eine unglückliche Kindheit; eine glückliche Kindheit lohnt sich ja kaum. Schlimmer als die normale unglückliche Kindheit ist die unglückliche irische Kindheit, und noch schlimmer ist die unglückliche irische katholische Kindheit. Überall prahlen oder winseln die Menschen ob des Jammers ihrer frühen Jahre, aber nichts läßt sich mit der irischen Version vergleichen: die Armut; der träge, redselige, trunksüchtige Vater; die fromme, vom Schicksal besiegte Mutter, die am Herdfeuer stöhnt; pompöse Priester; drangsalierende Schulmeister; die Engländer und die gräßlichen Dinge, die sie uns achthundert lange Jahre lang angetan haben.
Hauptsächlich waren wir: naß.
Draußen im Atlantischen Ozean ballten sich die Regenmassen zusammen, um langsam den Shannon hinaufzutreiben und sich auf immer in Limerick niederzulassen. Von der Beschneidung des Herrn bis Silvester durchfeuchtete der Regen die Stadt. Er schuf eine Kakophonie aus trockenem Husten, bronchitischem Rasseln, asthmatischem Keuchfauchen, schwindsüchtigem Krächzen. Nasen verwandelte er in schleimige Quellen, Lungen in prall mit Bakterien vollgesogene Schwämme. Er regte zu einer Fülle von Heilverfahren an: Um den Katarrh zu lindern, koche man Zwiebeln in von Pfeffer geschwärzter Milch; um die verstopften Luftwege zu reinigen, bereite man eine Paste aus Mehl, mit Brennesseln gekocht, welche man in einen Lumpen wickle und das Ganze, siedend heiß, dem Patienten auf den Brustkorb klatsche.
Von Oktober bis April glänzten Limericks Mauern von der Feuchtigkeit. Kleider trockneten nie: Tweed und wollene Jacken beherbergten Lebewesen, ließen zuweilen geheimnisvolle Vegetation keimen. In Kneipen stieg Dampf von feuchten Leibern und Gewändern auf, um, zusammen mit Zigaretten- und Pfeifenrauch, mit dem schalen Dunst verschütteten Starkbiers und Whiskeys versetzt und abgeschmeckt mit einem Hauch Pisse, der aus den Außenklos hereinzog, auf welchen so mancher Mann seinen Wochenlohn auskotzte, eingeatmet zu werden.
Der Regen trieb uns in die Kirche – unsere Zuflucht, unsere Kraft, unser einziges trockenes Haus. Zu Messe, Segen und Novene drängten wir uns in dicken, feuchten Klumpen zusammen, durchdösten das Geleier des Priesters, und wieder stieg Dampf auf von unseren Gewändern, um sich mit der Süße von Weihrauch, Blumen und Kerzen zu mischen.

Limerick war für seine Frömmigkeit berühmt, aber wir wußten, es war nur der Regen.

Mein Vater, Malachy McCourt, wurde auf einem Bauernhof in Toome in der Grafschaft Antrim geboren. Wie vorher sein Vater wuchs er wild auf, in ständigen Schwierigkeiten mit den Engländern oder mit den Iren oder mit beiden. Er kämpfte in der guten alten IRA, und wegen irgendeiner verzweifelten Tat wurde er zum Flüchtling, auf den ein Kopfgeld ausgesetzt war.
Als Kind sah ich oft meinen Vater an, das dünner werdende Haar, die verfaulenden Zähne, und dann fragte ich mich, wer wohl für so einen Kopf Geld ausgeben mochte. Als ich dreizehn war, erzählte mir die Mutter meines Vaters ein Geheimnis: Dein Vater ist auf den Kopf gefallen, als er noch ein ganz kleiner Kerl war. Es war ein Unfall, und danach war er nie mehr derselbe, und Menschen, das mußt du dir merken, die auf den Kopf gefallen sind, können ein wenig eigentümlich sein.
Wegen des Geldes, welches man auf den Kopf ausgesetzt hatte, auf den er gefallen war, mußte er per Frachtschiff ab Galway aus Irland geschafft werden. In New York, wo die Prohibition tobte, dachte er, er wäre tot und für seine Sünden zur Hölle gefahren. Dann entdeckte er die Flüsterkneipen und jauchzte im Herrn.
Nach Trink- und Wanderjahren in Amerika und England sehnte er sich gegen Ende seiner Tage nach Frieden. Er kehrte nach Belfast zurück, welches rings um ihn explodierte. Er sagte, die Blattern auf jedes ihrer Häuser! und schwatzte mit den Damen von Andersonstown. Sie versuchten ihn mit Köstlichkeiten, doch er tat sie ab und trank seinen Tee. Er rauchte oder trank nicht mehr, was also sollte es noch? Es war Zeit zu gehen, und er starb im Royal Victoria Hospital.
Meine Mutter, die frühere Angela Sheehan, wuchs bei ihrer Mutter und mit zwei Brüdern, Thomas und Patrick, und ihrer Schwester Agnes in einem Slum von Limerick auf. Ihren Vater hat sie nie gesehen, denn dieser war ein paar Wochen vor ihrer Geburt nach Australien durchgebrannt. Nach einer in Limericks Kneipen porterdurchzechten Nacht wankt er die Gasse entlang und singt sein Lieblingslied.

Wer hat den Blaumann in den Suppentopf geschmissen?
Lauter! Ich höre nichts! Ich will es endlich wissen.
Es ist eine Sauerei, und ich schlag den Mann zu Brei,
Denn eine Blaumannsuppe schmeckt nun mal beschissen.

Er ist in Bestform, und er denkt, jetzt spielt er ein bißchen mit dem kleinen Patrick; Alter: ein Jahr. Ganz süßer kleiner Bengel. Liebt seinen Daddy. Lacht, wenn Daddy ihn in die Luft schmeißt. Hopsasa, kleiner Paddy, hopsasa, hoch in die Luft in der Dunkelheit, dunkle, dunkle Dunkelheit, und Jeeesus, fällt das Kind auf dem Weg nach unten doch daneben, und der arme kleine Patrick landet auf dem Kopf, gluckst ein bißchen, winselt, verstummt. Großmutter wuchtet sich aus dem Bett, schwer von dem Kind in ihrem Bauch, meiner Mutter. Kaum kann sie den kleinen Patrick vom Fußboden aufheben. Sie stöhnt einen langen Stöhner über dem Kind und richtet das Wort an Großpapa. Mach, daß du rauskommst. Raus. Wenn du nur eine Minute länger bleibst, erhebe ich das Beil gegen dich, du versoffener Irrer. Bei Jesus dem Herrn, ich werde für dich am Richtseil baumeln. Raus.
Großpapa weicht mannhaft keinen Zollbreit. Er sagt, ich habe das Recht, in meinem eigenen Haus zu bleiben.
Sie geht auf ihn los, und der heulende Derwisch mit einem beschädigten Kind auf dem Arm und einem gesunden, das sich bereits im Bauche regt, jagt ihm schreckliche Angst ein. Er stolpert aus dem Haus, die Gasse entlang, und er bleibt nicht stehen, bis er Melbourne in Australien erreicht hat.
Der kleine Pat, mein Onkel, war nachher nie mehr derselbe. Er wuchs weich im Kopf heran, mit einem linken Bein, das in die eine, und einem Körper, der in die andere Richtung ging. Nie lernte er Lesen oder Schreiben, aber Gott begabte ihn auf andere Weise. Als er im Alter von neun Jahren anfing, Zeitungen zu verkaufen, war er besser im Geldzählen als der Herr Schatzkanzler persönlich.
Niemand weiß, warum er Ab Sheehan, der Abt, genannt wurde, aber ganz Limerick liebte ihn.
Für meine Mutter fing der Ärger in der Nacht ihrer Geburt an. Da liegt meine Großmutter im Bett, krümmt sich und keucht in den Wehen und betet zu Gerhard Majella, dem Schutzheiligen der werdenden Mütter. Da steht Schwester O'Halloran, die Hebamme, ganz fein angezogen. Es ist Silvester, und Mrs. O'Halloran möchte, daß dieses Kind zügig geboren wird, damit sie endlich zu den Partys und Feiern abschwirren kann. Sie sagt zu meiner Großmutter, pressen Sie doch, pressen, Sie doch. Jesus, Maria und heiliger Joseph, wenn Sie sich mit diesem Kind nicht beeilen, wird es erst im neuen Jahr geboren, und was nützt mir das dann noch mit meinem neuen Kleid? Ihren heiligen Gerhard Majella können Sie vergessen. Was kann in dieser Lage ein Mann denn schon für eine Frau tun, selbst wenn er ein Heiliger ist? Heiliger Gerhard Majella am Arsch.
Meine Großmutter schaltet ihre Gebete zur heiligen Anna um, der Schutzheiligen für schwierige Wehen. Aber das Kind kommt nicht. Schwester O'Halloran sagt zu meiner Großmutter, beten Sie zum heiligen Judas, dem Schutzpatron für verzweifelte Fälle.
Heiliger Judas, Schutzpatron für verzweifelte Fälle, hilf mir. Ich bin verzweifelt. Sie grunzt und preßt, und der Kopf des Kindleins erscheint, nur der Kopf, meine Mutter, und es ist Schlag Mitternacht, das neue Jahr. Limerick explodiert mit Pfeifen, Tröten, Sirenen, Blaskapellen, die Menschen schreien und singen, Prost Neujahr, For Auld Lang Syne, und von allen Kirchtürmen ertönt das Angelusläuten, und Schwester O'Halloran weint, schade um das Kleid, das Kind ist immer noch da drin, und ich hab mich extra schön gemacht. Kommst du da vielleicht endlich mal raus, Kind? Oma preßt noch mal heftig, und das Kind ist auf der Welt, ein wunderschönes Mädchen mit schwarzem Lockenhaar und traurigen blauen Augen.
Ach, Gott im Himmel, sagt Schwester O'Halloran, dieses Kind ist in einer Zeitgrätsche geboren, mit dem Kopf im neuen Jahr und mit dem Arsch im alten, oder war es mit dem Kopf im alten Jahr und mit dem Arsch im neuen. Sie müssen dem Papst schreiben, Missis, damit Sie herausfinden, in welchem Jahr dieses Kind geboren wurde, und das Kleid hebe ich für nächstes Jahr auf.
Und das Kind wurde auf den Namen Angela getauft, nach dem Angelusläuten, welches die Mitternacht anzeigte und das neue Jahr, die genaue Minute ihres Kommens, und weil sie sowieso ein kleiner Engel war.

Liebe dein Mutterherz,
Solang es noch schlägt.
Später, wenn es begraben,
Ist es zu spät.

In der Schule vom Hl. Vincent de Paul lernte Angela Lesen, Schreiben und Rechnen, und als sie etwa neun wurde, war ihre Ausbildung abgeschlossen. Sie versuchte sich als Putzfrau, als Magd und als Dienstmädchen mit einer kleinen weißen Haube, das die Tür aufmacht, aber sie schaffte den kleinen Knicks nicht, der da verlangt wird, und ihre Mutter sagte, dir fehlt das gewisse Avec. Du bist völlig nutzlos. Warum gehst du nicht nach Amerika, wo Platz ist für alle Sorten von Nutzlosigkeit? Ich geb dir das Geld für die Überfahrt.
Gerade rechtzeitig zum ersten Thanksgiving der Großen Depression kam sie in New York an. Malachy lernte sie auf einer Party kennen, die Dan McAdorey und seine Frau Minnie in der Classon Avenue in Brooklyn gaben. Malachy mochte Angela, und sie mochte ihn. Er wirkte zerknirscht, was daher rührte, daß er gerade wegen einer Lastwagenentführung drei Monate im Gefängnis verbracht hatte. Er und sein Freund John McErlaine hatten geglaubt, was man ihnen in der Flüsterkneipe erzählt hatte: Der Laster sei bis obenhin beladen mit Kartons voll Schweinefleisch mit Bohnen in Dosen. Beide konnten nicht fahren, und als die Polizei sah, wie der Laster in ruckartigen Schlangenlinien durch die Myrtle Avenue holperte, hielt sie ihn an. Die Polizei durchsuchte den Lastwagen und fragte sich, warum wohl jemand einen Lastwagen entführt, dessen Ladung aus Kartons bestand, die nicht etwa Dosenfleisch mit Bohnen, sondern Knöpfe enthielten.
Da Angela sich von der zerknirschten Art angezogen fühlte und da Malachy nach den drei Monaten Gefängnis einsam war, ließ sich absehen, daß es bald zwei Paar Zitterknie geben würde.
Zwei Paar Zitterknie nennt man den Akt als solchen, und zwar im Stehen gegen eine Hauswand ausgeführt, wobei Mann und Frau jeweils auf den Zehen stehen und vor Anstrengung und wegen der damit verbundenen Aufregung mit den Knien zittern.
Diese vier Zitterknie brachten Angela in interessante Umstände, und es gab naturgemäß Gerede. Angela hatte Cousinen, die Schwestern MacNamara, Delia und Philomena, jeweils mit Jimmy Fortune aus der Grafschaft Mayo und Tommy Flynn aus Brooklyn als solchem verheiratet.
Delia und Philomena waren große Frauen, breitbrüstig und ungestüm. Wenn sie in voller Fahrt auf Brooklyns Bürgersteigen herandampften, machten ihnen mindere Geschöpfe Platz, und Respekt wurde bekundet. Die Schwestern wußten, was richtig war, und sie wußten, was falsch war, und in Zweifelsfällen hatte die Eine, Heilige, Römische, Katholische und Apostolische Kirche das letzte Wort. Sie wußten, daß Angela, unverheiratet, nicht das Recht hatte, in interessanten Umständen zu sein, weshalb sie Schritte unternehmen mußten. Und sie unternahmen Schritte. Mit Jimmy und Tommy im Schlepp marschierten sie zur Flüsterkneipe in der Atlantic Avenue, in welcher Malachy an Freitagen zu finden war, am Zahltag, wenn er einen Job hatte. Der Mann vom Flüsterer, Joey Cacciamani, wollte die Schwestern nicht reinlassen, aber Philomena sagte ihm, falls er auch weiterhin seine Nase am Gesicht und diese Tür da in den Angeln haben will, soll er lieber aufmachen, sie sind nämlich in Gottes Angelegenheiten da. Jey sagte, schone gute, schone gute, ihre Irenne. Jesusse! Ärgere, Ärgere.
Malachy, am hinteren Ende des Tresens, erbleichte, bedachte die Breitbrüstigen mit einem kränklichen Lächeln und bot ihnen was zu trinken an. Sie widerstanden dem Lächeln und verschmähten die Getränke. Delia sagte, wir wissen nicht mal, von welcher Sorte von Stamm im Norden von Irland du kommst.
Philomena sagte, es besteht der Verdacht, du könntest Presbyterianer in der Familie haben, welches erklären würde, was du unserer Cousine angetan hast.
Jimmy sagte, na na, aber aber. Ist ja nicht seine Schuld, wenn er Presbyterianer in der Familie hat.
Delia sagte, duhaltsmaul.
Tommy mußte mitziehen. Was du diesem armen unglücklichen Mädchen angetan hast, ist eine Schmach für die irische Rasse, und du solltest dich lieber was schämen. Och, tu ich ja auch, sagte Malachy Ehrlich wahr. Dir hat keiner das Wort erteilt, sagte Philomena. Du hast mit deinem Gequatsche schon genug Unheil gestiftet, also mach den Mund zu.
Und wo dein Mund gerade so schön zu ist, sagte Delia, wir sind hier, um dafür zu sorgen, daß du das, was du unserer armen Cousine Angela Sheehan angetan hast, wieder in Ordnung bringst.
Malachy sagte, och, aber klar, aber klar. In Ordnung, ich bringe alles in Ordnung, und ich spendiere euch gern jedem ein Getränk, während wir das alles bereden.
Dein Getränk, sagte Tommy, kannst du dir in den Arsch stecken.
Philomena sagte, unsere kleine Cousine ist noch nicht ganz vom Schiff runter, da fällst du sie schon an. Wir haben nämlich Moral in Limerick, verstehst du, Moral. Wir sind keine Rammler aus Antrim, wo es vor Presbyterianern nur so wimmelt.
Jimmy sagte, er sieht gar nicht aus wie ein Presbyterianer.
Duhaltsmaul, sagte Delia.
Noch was ist uns aufgefallen, sagte Philomena. Du hast so eine komische Art.
Malachy lächelte. Eine komische Art?
Genau, sagte Delia. Ich glaube, das war so ziemlich das erste, was uns an dir aufgefallen ist, diese komische Art, und die verursacht bei uns ein ziemlich unbehagliches Gefühl.
Das ist dies verschlagene Presbyterianerlächeln, sagte Philomena.
Och, sagte Malachy, das sind nur die schlechten Zähne.
Zähne hin, Zähne her, komische Art hin, komische Art her, du wirst das Mädchen heiraten, sagte Tommy. Zum Traualtar wirst du sie führen.
Och, sagte Malachy, ich hatte gar nicht vor zu heiraten, versteht ihr. Es gibt keine Arbeit, und wie soll ich eine Familie ...
Heiraten ist genau das, was du sie wirst, sagte Delia.
Zum Traualtar, sagte Jimmy.
Duhaltsmaul, sagte Delia.

Malachy sah ihnen beim Verlassen der Kneipe zu. Jetzt bin ich dran, sagte er zu Joey Cacciamani.
Wohle wahre, sagte Joey. Wenn diese Puppene wolle zu mire, icke springe ine die 'udson River.
Malachy bedachte seine verzwickte Lage. Von seinem letzten Job hatte er ein paar Dollar in der Tasche, und er hatte einen Onkel in San Francisco oder in San Sowieso, auf jeden Fall in Kalifornien. Würde er sich in Kalifornien nicht viel besser stellen, weit weg von den breitbrüstigen Schwestern MacNamara und ihren ergrimmten Ehemännern? O doch, viel besser, und darauf brauchte er ein Tröpfchen Irischen, um Absicht und Abschied zu feiern. Joey schenkte ein, und das Getränk ätzte Malachy fast die innere Beschichtung von der Speiseröhre. Irisch, was? Er sagte Joey, dies sei eine ganz üble Prohibitionsmischung aus des Teufels eigener Brennerei. Joey zuckte die Achseln. Icke nixe wisse. Icke nure schenke eine. Immerhin, es war besser als gar nichts, und Malachy bestellte noch einen, und für dich auch einen, Joey, und frag doch auch die beiden liebenswürdigen italienischen Herrn, was sie gern hätten, und was redest du denn, natürlich hab ich Geld dabei.
Er erwachte auf einer Bank in einem Bahnhof der LongIsland-Vorortbahn, weil ein Polizist ihm mit seinem Schlagstock auf die Schuhe klopfte; das Geld für seine Flucht war weg, und die Schwestern MacNamara warteten nur darauf, ihn bei lebendigem Leibe zu verspeisen. In Brooklyn.

Zum Fest des heiligen Joseph, dem zweiten Mittwoch nach Ostern mit Oktav, einem bitterkalten Tag im März, vier Monate nach den vier Zitterknien, heiratete Malachy Angela, und im August wurde das Kind geboren. Im November betrank sich Malachy und entschied, es sei an der Zeit, die Geburt des Kindes standesamtlich eintragen zu lassen. Er dachte, er wollte das Kind Malachy, nach sich selbst, benennen lassen, aber sein aus dem Norden von Irland stammender Akzent und das alkoholbedingte Nuscheln verwirrten den Beamten so sehr, daß er einfach das Wort Männlich auf das Formular schrieb.
Erst gegen Ende Dezember trugen sie Männlich in die St. Paul's Church, auf daß er dort auf den Namen des Vaters seines Vaters und jenes reizenden Heiligen aus Assisi getauft werde, nämlich Francis. Angela wollte ihm einen zweiten Vornamen geben, Munchin, nach dem Schutzheiligen von Limerick, aber Malachy sagte, nur über meine Leiche. Meine Söhne kriegen keine Namen, die aus Limerick stammen. Außerdem ist das mit dem Zwischennamen eine gräßliche Manie der Amerikaner, und man braucht keinen zweiten Vornamen, wenn man schon nach dem Manne aus Assisi heißt. Am Tag der Taufe entstand eine Verzögerung, als John McErlaine, der als Patenonkel vorgesehen war, sich in der Flüsterkneipe betrank und seine Pflichten vergaß. Philomena sagte zu ihrem Mann Tommy, dann müsse eben er Patenonkel werden. Die Seele des Kindes ist in Gefahr, sagte sie. Tommy ließ den Kopf sinken und murrte. Na gut. Ich werde Patenonkel, aber meine Schuld ist es nicht, wenn er so wird wie sein Vater und immer nur Ärger macht und mit dieser komischen Art durchs Leben geht, denn wenn er das doch macht, dann kann er auch gleich zu John McErlaine in die Flüsterkneipe gehen. Der Priester sagte, wahr gesprochen, Tom, anständiger Mensch, der du bist, guter Mann, du, der du nie die Schwelle einer Flüsterkneipe betrittst. Malachy, selbst gerade frisch aus der Flüsterkneipe eingetroffen, fühlte sich beleidigt und wollte mit dem Priester streiten, gleich zwei Frevel auf einmal. Nimm diesen Kragen ab, und dann wollen wir doch mal sehen, wer ein Mann ist. Er mußte von den Breitbrüstigen und deren ergrimmten Männern zurückgehalten werden. Angela, noch nicht lange Mutter, aufgewühlt, vergaß, daß sie das Kind hielt, und ließ es ins Taufbecken gleiten – Taufe durch Untertauchen, wie bei den Protestanten. Der Meßdiener fischte den Säugling heraus und reichte ihn an Angela zurück, welche ihn schluchzend tropfnaß an ihren Busen drückte. Der Priester lachte und sagte, solche habe er ja noch nie gesehen, das Kind sei ja jetzt ein regelrechter kleiner Baptist und brauche kaum noch einen Priester. Dies erzürnte nun wieder Malachy, und er wollte sich auf den Priester stürzen, weil dieser das Kind als irgendeine Sorte von Protestant bezeichnet habe. Der Priester sagte, stille doch, guter Mann, du bist im Hause Gottes, und als Malachy sagte, Hause Gottes, am Arsch, wurde er rausgeschmissen, direkt auf die Court Street, weil man im Hause Gottes nicht Arsch sagt.
Nach der Taufe sagte Philomena, bei ihr zu Hause um die Ecke gebe es Tee und Schinken und Kuchen. Malachy sagte, Tee? und sie sagte, ja, Tee, oder hättest du lieber Whiskey? Er sagte, Tee sei ganz toll, aber zuerst müsse er sich noch mit John McErlaine unterhalten, der nicht den Anstand besessen habe, seinen Pflichten als Patenonkel nachzukommen. Angela sagte, du suchst ja nur nach einem Vorwand, um in die Flüsterkneipe zu rennen, und er sagte, so wahr Gott mein Zeuge ist, an etwas zu trinken zu denken käme mir eben jetzt zuallerletzt in den Sinn. Angela begann zu weinen. Dein Sohn wird getauft, und du mußt saufen gehen. Delia sagte ihm, er sei ein ekelerregendes Exemplar, aber was konnte man sonst aus dem Norden von Irland erwarten.
Malachy blickte vom einen zum andern, trat von einem Fuß auf den andern, zog sich die Mütze tief über die Augen, rammte die Hände tief in die Hosentaschen, sagte, och, aye, wie sie es alle machen in den entlegenen Gebieten der Grafschaft Antrim, und eilte die Court Street entlang, der Flüsterkneipe in der Atlantic Avenue entgegen, wo man ihm, da war er ganz sicher, zu Ehren der Taufe seines Sohnes Gratisgetränke aufnötigen würde.

Bei Philomena aßen und tranken die Schwestern mit ihren Männern, während Angela in einer Ecke saß, dem Kind die Brust gab und weinte. Philomena stopfte sich den Mund mit Schinkenbrot voll und redete auf Angela ein. Das hast du nun davon, daß du so dumm bist. Noch nicht ganz vom Schiff runter, und schon fällst du auf diesen Wahnsinnigen herein. Du hättest ledig bleiben sollen, das Kind zur Adoption freigeben, dann wärst du heute ein freier Mensch. Angela weinte noch lauter, und Delia führte den Angriff fort. Hör bloß auf damit, Angela, hör bloß auf. Ist doch einzig und allein deine Schuld, wenn dich ein Trunkenbold aus dem Norden in so eine Lage bringt, ein Mann, der nicht mal katholisch aussieht, der mit seiner komischen Art. Ich würde sogar soweit gehen zu sagen, daß dieser... dieser... Malachy irgendwie was Presbyterianisches an sich hat. Duhaltsmaul, Jimmy.
Wenn ich du wäre, sagte Philomena, würde ich sichergehen, daß es bei dem einen Kind bleibt. Er hat keine Arbeit, Arbeit hat er nämlich schon mal nicht, und so, wie er säuft, kriegt er auch keine. Also: Keine weiteren Kinder, Angela. Hörst du mir überhaupt zu?
Ich höre jedes Wort, Philomena.

Ein Jahr später wurde ein zweites Kind geboren. Sie tauften ihn Malachy nach seinem Vater und gaben ihm einen zweiten Vornamen, Gerard, nach dem Bruder seines Vaters.
Die Schwestern MacNamara sagten, Angela vermehre sich wie die Karnickel, und sie wollten nichts mehr mit ihr zu tun haben, bis sie endlich zur Vernunft komme.
Ihre Männer fanden das auch.

Ich bin mit meinem Bruder Malachy auf einem Spielplatz in der Classon Avenue in Brooklyn. Er ist zwei, ich bin drei. Wir sitzen auf der Wippe.
Rauf, runter, rauf, runter.
Malachy wippt rauf.
Ich steige ab.
Malachy wippt runter. Wippe haut auf den Boden. Er schreit. Er hat die Hand auf dem Mund. Blut.
O Gott. Blut ist schlimm. Meine Mutter bringt mich um.
Und da ist sie schon, sie trabt über den Spielplatz. Wegen ihres dicken Bauches kann sie nicht so schnell.
Sie sagt, was hast du da gemacht? Was hast du dem Kind angetan?
Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Ich weiß nicht, was ich gemacht habe.
Sie zieht mich am Ohr. Geh nach Hause. Geh ins Bett.
Bett? Am hellichten Tag?
Sie schubst mich zum Ausgang. Geh.
Sie hebt Malachy auf und watschelt davon.

Mr. McAdorey, ein Freund meines Vaters, steht vor unserem Haus. Er steht mit seiner Frau Minnie am Rand des Bürgersteigs und betrachtet einen Hund, der im Rinnstein liegt. Am Kopf des Hundes ist überall Blut. Es hat dieselbe Farbe wie das Blut aus Malachys Mund.
Malachy hat Hundeblut, und der Hund hat Malachy-Blut. Ich zupfe Mr. McAdorey an der Hand. Ich sage ihm, daß Malachy auch so ein Blut hat wie der Hund.
Ja, stimmt, Francis, tatsächlich, sagt er. Katzen auch. Und Eskimos. Alles das gleiche Blut.
Minnie sagt, laß das, Dan. Bring den kleinen Kerl nicht durcheinander. Sie sagt mir, der arme kleine Hund sei von einem Auto überfahren worden und hätte sich den ganzen Weg von der Mitte der Fahrbahn bis zum Rinnstein geschleppt, bevor er starb. Wollte nach Hause, die arme kleine Kreatur.

Mr. McAdorey sagt, geh lieber nach Hause, Francis. Ich weiß nicht, was du mit deinem kleinen Bruder angestellt hast, aber deine Mutter hat ihn ins Krankenhaus gebracht. Geh nach Hause, Kind.
Stirbt Malachy jetzt auch? Wie der Hund, Mr. McAdorey?

Minnie sagt, er hat sich auf die Zunge gebissen. Daran stirbt er nicht.
Warum ist der Hund gestorben?
Seine Zeit war gekommen, Francis.

Die Wohnung ist leer, und ich wandere zwischen den beiden Zimmern auf und ab, dem Schlafzimmer und der Küche. Mein Vater ist auf Arbeitsuche, und meine Mutter ist mit Malachy im Krankenhaus. Ich hätte gern etwas zu essen, aber im Eisschrank schwimmen nur ein paar Kohlblätter im geschmolzenen Eis. Mein Vater hat gesagt, iß nie etwas, was im Wasser schwimmt, wegen der Fäulnis, die im Wasser sein könnte. Ich schlafe auf dem Bett meiner Eltern ein, und als meine Mutter mich wachrüttelt, ist es schon fast dunkel. Dein kleiner Bruder wird jetzt lange schlafen. Hätte sich beinahe die Zunge abgebissen. Mußte genäht werden. Jede Menge Stiche. Geh ins andere Zimmer.
Mein Vater sitzt in der Küche und trinkt schwarzen Tee aus seiner großen weißen Emailletasse. Er hebt mich auf seinen Schoß.
Dad, erzählst du mir die Geschichte von Kuu ... Kuu ... ?
Cuchulain. Sprich es mir nach: Kuu-huu-lin. Ich erzähl dir die Geschichte, wenn du den Namen richtig sagst. Ku-hu-lin. Ich sage ihn richtig, und er erzählt mir die Geschichte von Cuchulain, der als Junge noch anders hieß: Setanta. Er wuchs in Irland auf, wo Dad auch gewohnt hat, als er noch ein Junge war, in der Grafschaft Antrim. Setanta hatte einen Stock und einen Ball, und eines Tages schlug er den Ball mit seinem Stock, und der Ball flog einem großen Hund, der Culain gehörte, ins Maul, und der Hund erstickte. Oh, Culain war wütend, und er sagte, was soll ich nun machen ohne meinen großen Hund, der mein Haus und meine Frau und meine zehn kleinen Kinder bewacht und beschützt hat sowie zahlreiche Schweine, Hühner und Schafe?
Setanta sagte, es tut mir leid. Ich werde dein Haus hüten, mit meinem Stock und mit meinem Ball, und ich werde meinen Namen ändern und fortan Cuchulain heißen, der Hund des Culain. So geschah es. Er hütete das Haus und die Gebiete, die jenseits davon lagen, und wurde ein großer Held, der Hund von Ulster persönlich. Dad sagte, er war ein größerer Held als Herkules oder Achilles, mit denen die Griechen immer prahlen, und in einem fairen Kampf konnte er es sogar mit König Artus und all seinen Rittern aufnehmen, aber ein fairer Kampf ist natürlich von einem Engländer ein bißchen viel verlangt.
Das ist meine Geschichte. Malachy oder den anderen Kindern auf unserer Etage kann Dad die Geschichte nicht erzählen.
Er erzählt die Geschichte zu Ende, und ich darf einen Schluck von seinem Tee trinken. Er ist bitter, aber dort, auf seinem Schoß, bin ich glücklich.

Malachys Zunge ist noch tagelang geschwollen, und er kann kaum einen Laut von sich geben, geschweige denn sprechen. Aber selbst wenn er könnte, würde niemand zuhören, weil wir zwei neue Babys haben, die mitten in der Nacht von einem Engel vorbeigebracht worden sind. Die Nachbarn sagen, ooh, aah, das sind aber niedliche Buben, seht euch mal die großen Augen an.
Malachy steht mitten im Zimmer, sieht von unten alle Leute an, zeigt auf seine Zunge und sagt, ugk, ugk. Als die Nachbarn sagen, siehst du nicht, daß wir uns deine kleinen Brüder ansehen? weint er, bis Dad ihm den Kopf tätschelt. Zieh die Zunge ein, mein Sohn, geh vor die Tür und spiel mit Frankie. Nun mach schon.
Auf dem Spielplatz berichte ich Malachy von dem Hund, der auf der Straße gestorben ist, weil ihm jemand einen Ball ins Maul geschlagen hat. Malachy schüttelt den Kopf. Kein ugk Ball. Auto ugk Hund ügkerfahren. Er weint, weil seine Zunge weh tut und er kaum sprechen kann und es schrecklich ist, wenn man nicht sprechen kann. Er setzt sich auf die Schaukel und will nicht, daß ich ihn anschubse. Er sagt, auf der ugk Wippe wolltest du mich ugkbringkn. Freddie Leibowitz soll ihn anschubsen, und er ist glücklich und lacht und schaukelt bis zum Himmel hoch. Freddie ist schon groß, er ist sieben, und ich bitte ihn, daß er mich auch anschubst. Er sagt, nein, du hast versucht, deinen Bruder umzubringen.
Ich versuche, die Schaukel allein in Schwung zu bringen, aber mehr als ein bißchen Auf und Ab schaffe ich nicht, und ich bin sauer, weil Freddie und Malachy darüber lachen, wie ich nicht schaukeln kann. Sie sind jetzt dicke Freunde, Freddie sieben, Malachy zwei. Sie lachen jeden Tag, und Malachys Zunge geht es von dem vielen Lachen immer besser.
Wenn er lacht, kann man sehen, wie weiß und klein und hübsch seine Zähne sind, und man kann sehen, wie seine Augen leuchten. Er hat blaue Augen wie meine Mutter. Er hat goldenes Haar und rosa Backen. Ich habe braune Augen wie Dad. Ich habe schwarze Haare, und meine Backen sind im Spiegel weiß. Meine Mutter sagt zu Mrs. Leibowitz im selben Stock, daß Malachy das glücklichste Kind von der ganzen Welt ist. Sie sagt zu Mrs. Leibowitz im selben Stock, daß Frankie diese komische Art hat, genau wie sein Vater. Ich wüßte gern, was die komische Art ist, aber ich kann nicht fragen, weil niemand wissen darf, daß ich heimlich zuhöre.

Ich würde gern bis in den Himmel hoch schaukeln, bis in die Wolken. Dann könnte ich vielleicht um die ganze Welt fliegen und müßte mir nicht mehr anhören, wie meine beiden neuen Brüder, Oliver und Eugene, mitten in der Nacht weinen. Meine Mutter sagt, sie haben immer Hunger. Sie weint auch mitten in der Nacht. Sie sagt, sie kann nicht mehr, Stillen und Füttern und Windelnwechseln und vier Jungs sind zuviel für sie. Lieber hätte sie ein kleines Mädchen ganz für sich allein. Für ein einziges kleines Mädchen würde sie alles geben.
Ich bin mit Malachy auf dem Spielplatz. Ich bin vier, er ist drei. Ich darf ihn anschubsen, weil er noch nicht gut von selber schaukeln kann und weil Freddie Leibowitz in der Schule ist. Wir müssen auf dem Spielplatz bleiben, weil die Zwillinge schlafen und weil meine Mutter sagt, sie kann nicht mehr. Geht spielen, sagt sie, und gönnt mir ein bißchen Ruhe. Dad ist wieder unterwegs und sucht Arbeit, und manchmal riecht er nach Whiskey wenn er nach Hause kommt und all die Lieder vom notleidenden Irland singt. Dann wird Mam wütend und sagt, Irland kann sie mal am Arsch lecken. Er sagt, das sind ja schöne Ausdrücke, und das in Gegenwart der Kinder, und sie sagt, er soll sich mal um die Ausdrücke keine Sorgen machen, sie will was zu essen auf den Tisch und kein notleidendes Irland. Sie sagt, das war ein trauriger Tag, an dem die Prohibition aufgehoben wurde, denn jetzt kommt Dad an seine Getränke, indem er die Runde durch die Kneipen macht und sagt, für einen Whiskey oder ein Bier fegt er die Gaststätte oder schleppt Fässer. Manchmal bringt er was von seinem kostenlosen Mittagessen mit nach Hause, Corned beef auf Roggenbrot, saure Gurken. Er legt das Essen auf den Tisch und trinkt selber Tee. Er sagt, Nahrung ist ein Schock für den Verdauungsapparat, und er weiß nicht, woher wir immer unseren Appetit haben. Mam sagt, ihren Appetit haben sie daher, daß sie fast immer am Verhungern sind.

Wenn Dad Arbeit findet, ist Mam fröhlich, und dann singt sie:

Von deinem Mund wollte ich einen Kuß.
Aus gutem Grund sagte ich mir: Ich muß!
Denn ich trau mir nicht zu,
Daß jemand wie du
Mich lieben könnte, mich lieben ...

Wenn Dad den ersten Wochenlohn nach Hause bringt, ist Mam entzückt, weil sie den reizenden italienischen Mann im Lebensmittelladen bezahlen kann, und sie kann wieder erhobenen Hauptes vor die Tür gehen, denn es gibt nichts Schlimmeres auf der Welt, als jemandem etwas schuldig zu bleiben und für etwas verpflichtet zu sein. Sie macht die Küche sauber, wäscht Tassen und Teller, wischt Krümel und Essensreste vom Tisch, reinigt den Eisschrank und bestellt einen frischen Eisblock bei einem anderen Italiener. Sie kauft Klopapier, welches wir mitnehmen können aufs Etagenklo und welches, sagt sie, besser ist, als sich von den Schlagzeilen der Daily News einen schwarzen Arsch zu holen. Sie kocht Wasser auf dem Herd und verbringt einen ganzen Tag am großen Blechbottich, in dem sie unsere Hemden und Socken wäscht, Windeln für die Zwillinge, unsere zwei Laken, unsere drei Handtücher. Sie hängt alles auf die Wäscheleine hinter dem Mietshaus, und wir können zusehen, wie unsere Klamotten in Wind und Sonne tanzen. Sie sagt, man will zwar nicht, daß die Nachbarn sehen, was man für Wäsche hat, aber es geht eben doch nichts über den Duft von Wäsche, die an der Sonne getrocknet ist.
Wenn Dad freitagabends den ersten Wochenlohn nach Hause bringt, wissen wir, daß das Wochenende wunderbar wird. Am Samstagabend wird Mam auf dem Herd Wasser kochen und uns in der großen Blechwanne waschen, und Dad wird uns abtrocknen. Malachy wird sich umdrehen und seinen Hintern zeigen. Dad wird so tun, als wäre er schockiert, und wir werden alle lachen. Mam wird heißen Kakao machen, und wir werden lange aufbleiben dürfen, während Dad uns eine Geschichte aus seinem Kopf erzählt. Wir müssen nur einen Namen sagen, Mr. McAdorey oder Mr. Leibowitz auf derselben Etage, und schon erzählt Dad, wie die beiden in Brasilien einen Fluß hinaufrudern und dabei von Indianern mit grünen Nasen und rotbraunen Schultern gejagt werden. An so einem Abend können wir ganz allmählich in den Schlaf hinüberschlittern, und beim Einschlafen wissen wir, daß es ein Frühstück geben wird, mit Eiern, gebratenen Tomaten und geröstetem Brot, Tee mit massenhaft Zucker und Milch, und später am Tage ein großes Mittagessen mit Kartoffelbrei und Erbsen und Schinken und einer Nachspeise, die nur Mam machen kann: ein Trifle mit Schichten aus Obst und warmer, köstlicher Vanillesauce auf einem Tortenboden, der mit Sherry getränkt ist.
Wenn Dad den ersten Wochenlohn nach Hause bringt und das Wetter schön ist, geht Mam mit uns auf den Spielplatz. Sie sitzt auf einer Bank und unterhält sich mit Minnie McAdorey. Sie erzählt Minnie Geschichten über Leute in Limerick, und Minnie erzählt ihr Geschichten über Leute in Belfast, und dann lachen sie, denn es wohnen komische Menschen in Irland, im Norden wie im Süden. Dann bringen sie sich gegenseitig traurige Lieder bei, und Malachy und ich steigen von der Wippe oder der Schaukel herunter, um bei ihnen auf der Bank zu sitzen und zu singen:

Ein Zug Rekruten im Felde bei Nacht
Sprach über das Liebste, was man so hat.
Guter Dinge ein jeder, nur ein junger Soldat
Schien ihnen traurig und matt.
Komm und schließ dich uns an, sagte einer der Jungs,
Erzähl schon und zier dich nicht so.
Doch Ned schüttelt den Kopf und sagt nur ganz glatt:
Ich lieb nämlich zwo, wie eine Mutter mir lieb,
Und für keine gibt es Ersatz.
Meine Mutter die eine, Gott geb' ihr das Seine,
Die andere aber mein Schatz.

Malachy und ich singen dieses Lied, und Mam und Minnie lachen, bis sie weinen müssen, weil Malachy am Schluß eine tiefe Verbeugung macht und Mam seine Arme entgegenstreckt. Dan McAdorey kommt auf dem Weg von der Arbeit vorbei und sagt, Rudy Vallee soll schon mal anfangen, sich Sorgen zu machen, bei der Konkurrenz.
Wenn wir wieder zu Hause sind, macht Mam Tee und Marmeladenbrot oder Kartoffelbrei mit Butter und Salz. Dad trinkt den Tee und ißt nichts. Mam sagt, Gott in der Höhe, wie kannst du den ganzen Tag arbeiten und dann nichts essen? Er sagt, der Tee ist völlig ausreichend. Sie sagt, du wirst dir deine Gesundheit ruinieren, und er sagt ihr wieder, Nahrung sei ein Schock für den Verdauungsapparat. Er trinkt seinen Tee und erzählt uns Geschichten und zeigt uns Buchstaben und Wörter in der Daily News, oder er raucht eine Zigarette, leckt sich die Lippen und starrt die Wand an.
Wenn Dads Arbeit in die dritte Woche geht, bringt er den Lohn nicht mehr nach Hause. Am Freitagabend warten wir auf ihn, und Mam gibt uns Brot und Tee. Die Dunkelheit senkt sich herab, und auf der Classon Avenue gehen die Lichter an. Andere Männer, die Arbeit haben, sind schon zu Hause, und es gibt Eier zum Abendessen, weil man freitags kein Fleisch essen darf. Man hört, wie die Familien ein Stockwerk höher und ein Stockwerk tiefer und auf derselben Etage reden, und im Radio singt Bing Crosby Brother, Can You Spare a Dime? Malachy und ich spielen mit den Zwillingen. Wir wissen, daß Mam nicht Von deinem Mund wollte ich einen Kuß singen wird. Sie sitzt am Küchentisch und spricht mit sich selbst, was soll ich bloß machen? bis es schon spät ist und Daddy die Treppe heraufwankt und Roddy McCorley singt. Er stößt die Tür auf und ruft nach uns, wo sind meine Truppen? Wo sind meine vier Krieger?
Mam sagt, laß diese Jungs zufrieden. Sie sind halbhungrig ins Bett gegangen, weil du dir den Bauch mit Whiskey füllen mußt.
Er kommt an die Schlafzimmertür. Auf, Jungens, auf. Fünf Cent für jeden, der verspricht, daß er für Irland sterben will. Wir sind zwar vielleicht in Amerika, aber unser Herz ist in Irland.

Nach Kanada, wo man die Baumriesen sägt,
Von einer strahlenden Insel geflohn -
Hier ist es zwar schön, doch das Herz, ach, es schlägt
Für Irland trotz Hunger und Fron.

Auf, Jungens, auf. Francis, Malachy, Oliver, Eugene. Die Ritter vom Roten Zweig, die wackeren Gälen, die IRA. Sie leben hoch, steht auf, steht auf.
Mam steht am Küchentisch und zittert, das Haar hängt ihr feucht ins Gesicht, das Gesicht ist naß. Kannst du sie nicht zufrieden lassen? sagt sie. Jesus, Maria und Joseph, ist es denn nicht genug, daß du ohne einen Penny in der Tasche nach Hause kommst, mußt du da auch noch die Kinder veralbern? Sie kommt zu uns. Geht zurück ins Bett, sagt sie. Ich will, daß sie auf sind, sagt er. Ich will, daß sie bereit sind für den Tag, da Irland frei ist von aller Tyrannei.
Wag dich bloß nicht an mir vorbei, sagt sie, denn wenn du dich an mir vorbeiwagst, wird das ein trauriger Tag im Hause deiner Mutter sein.
Er zieht sich die Mütze ins Gesicht und jammert, meine arme Mutter. Armes Irland. Och, was sollen wir bloß tun? Mam sagt, du bist ganz einfach stockverrückt, und wieder sagt sie uns, wir sollen ins Bett gehen.
Am Morgen des vierten Freitags von Dads Arbeit fragt Mam ihn, ob er heute abend mit seinem Lohn nach Hause kommt oder ob er ihn wieder komplett vertrunken haben wird. Er sieht uns an, dann sieht er Mam an und schüttelt den Kopf, als wollte er sagen, och, so spricht man aber nicht in Gegenwart der Kinder.
Mam bleibt an ihm dran. Ich frage dich, kommst du nach Hause, so daß wir ein bißchen zum Abendessen haben, oder wird es Mitternacht ohne Geld in der Tasche und du singst Kevin Barry und die übrigen traurigen Lieder?
Er setzt die Mütze auf, rammt die Hände in die Hosentaschen, seufzt und blickt zur Zimmerdecke. Ich habe dir doch schon gesagt, daß ich nach Hause komme, sagt er.


Lesezitat nach Frank McCourt - Die Asche meiner Mutter








© by Manuela Haselberger
rezensiert am 7.10.1996 / 25.7.1998
Quelle: http://www.bookinist.de