Das Jahr 1492 ist heute untrennbar mit der Entdeckung Amerikas durch Kolumbus verbunden.
Es mußten im gleichen Jahr jedoch erst umwälzende Dinge in der alten Welt geschehen, damit
die spanischen Könige Ferdinand und Isabella das zu Beginn gar nicht so aussichtsreiche
Seeabenteuer des Christoph Kolumbus finanzieren konnten.
Beinahe 800 Jahre beherrschten und bewirtschafteten die Anhänger Mohammeds,
die Mauren, große Teile der spanischen Halbinsel. Seit Karl dem Großen wurde im Namen
der katholischen Kirche deren Rückeroberung (reconquista) betrieben.
Als letzte Bastion der Mauren fiel die al-Hamra in Granada kampflos den Christen in die
Hände.
Die Moslems hatten eine unvergleichlich blühende Kultur in al-Andalus geschaffen.
Nirgendwo anders auf der Welt überdauerte das alte Wissen und die Kultur der Antike
wie dort in Spanien. Ohne die spanischen Mauren, ihre religiöse Toleranz, ihren Hang
zu Wissenschaft, Literatur und schönen Künsten, würde die Europäische
Geschichte heute zwangsläufig anders aussehen, ganz sicher ärmer.
Doch 1492 ist für die dort lebende islamische Bevölkerung ein böses Jahr.
Der Sultan des letzten Königreichs geht unter dem Ansturm der christlichen Heere
gewaltlos ins Exil, wenn auch unter der Bedingung, daß seine ehemaligen Untertanen weiterhin
ihrem Glauben und ihrer Lebensweise unbehelligt nachgehen dürfen.
Acht Jahre später, 1500, setzt die Familiensaga des englischen Schriftstellers Tariq Ali ein.
Zu dieser Zeit lebt die andalusische Bevölkerung immer noch in dem bangen Glauben,
einmal ihren Kindern eine gesicherte Zukunft ermöglichen zu können.
Doch die Vertrauten "Ihrer Allerkatholischen Majestäten" betreiben eine andere Politik:
Allen voran der Erzbischof Jimenez, ein religiöser Fanatiker, der die reconquista mit Hilfe
der heiligen Inquistion nun erst richtig forciert: Konvertierung der Moslems zum katholischen
Glauben oder deren Vertreibung, auf jeden Fall die Annexion des moslemischen Besitzes und
Kapitals - ein bewährtes Vorgehen in der Geschichte des Fanatismus.
In einer schaurigen Großaktion läßt er am 1. Dezember des Jahres 1499 alle arabischen
Bücher und Handschriften der Heilkunst, Astronomie, Theologie und Philosophie,
erlesene Abschriften des Koran in feinster Kalligraphie aus den einhunderfünfundneunzig
(!) Bibliotheken der Stadt zu einem gigantischen Haufen türmen und verbrennen.
Umar bin Abdallah, der Gutsherr und Vater der Familie, ist ohnmächtiger Zeuge des
Beginns der Vernichtung seiner Lebensart. Doch kehrt er nach einigen Tagen aus Granada
nach Hause zurück zu seiner Frau, seinen vier Kindern und seinem Dorf mit fast
zweitausend maurischen, christlichen und jüdischen Bauern und Handwerkern, die seiner
Familie seit Jahrhunderten Gefolgschaft leisten und dem kargen, rauhen Land die Früchte
des Lebens abringen.
Umar will nicht konvertieren, er hofft auf Toleranz und friedliche Koexistenz. Allein sein
21jähriger Sohn Suhayr nimmt die Fehde auf: Kampflos will er nicht dem Untergang seiner
Kultur zusehen. Er schließt sich mit anderen jungen maurischen Adeligen zusammen und
verschanzt sich in der Unzugänglichkeit der andalusischen Berge - auch dies erweist sich
als ein folgenschwerer Fehler.
Tariq Alis Buch ist eine hinreißende Schilderung der maurischen Lebensart und gleichzeitig
eine dramatische Parabel für all jene, die in der Vergangenheit oder Zukunft die Zeichen
der Zeit nicht deuten wollen: Umars Zaudern und Zögern, sein Unvermögen,
die Gefährlichkeit der Andersdenkenden einzuschätzen, seinen Glauben zu verraten
oder die Verantwortung für seinen Besitz aufzugeben, zeigt symptomatisch das Verhalten
von Menschen in historischen Umbruchzeiten. Umar steht letztlich auf der Seite der Verlierer.
Wie sagte Gorbatschow erst in unseren Tagen:
Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben.