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Ein türkischer Spagat
Emine Sevgi Özdamar - Die Brücke vom Goldenen Horn
Thema im Literarischen Quartett am 5.Juni 1998
Daheim in Istanbul hat die junge Türkin
Emine Sevgi Özdamar jeden Tag Streit mit ihrer Mutter und
nachdem sie in der Zeitung gelesen hat, daß in Deutschland
Arbeiterinnen gesucht werden, macht sie sich auf den Weg. 1966
kommt sie nach Berlin, ohne ein Wort deutsch zu können. Hier
findet sie, wie viele ihrer Mitreisenden, Arbeit bei der Firma
"Telefunken" und kommt im Frauenwohnheim unter - kurz
"Wonaym" genannt. Alles ist dem jungen Mädchen
fremd. Tagsüber der Akkord, den sie leisten soll, nachmittags
einkaufen bei "Hertie" und abends gibt´s im "Wonaym"
eine wilde Mischung aus Beethovens Neunter und "Junge komm
bald wieder", während das Fernsehgerät die gleichmäßige
Untermalung übernimmt.
Ein Trost für Emine ist, daß genügend Bücher
im Umlauf sind, von Tschechow über Brecht bis Dostojewskij
reicht das Angebot.
In großen Schlagzeilen begegnet ihr die ungewohnte Sprache
jeden Tag am Kiosk:"Harte Bandagen", "Gucken kostet
mehr", "Sowjets bleiben nur Zaungäste". So
lernt sie ganze Sätze auswendig, wie eine Schauspielerin
ihren Text.
"Die Straßen und Menschen waren für mich wie ein
Film, aber ich selbst spielte nicht mit in diesem Film. Ich sah
die Menschen, aber sie sahen uns nicht."
Aus dieser Fremdheit entwickelt Emine Sevgi Özdamar einen
sehr genauen, oft ungewohnten Blick auf die Gegebenheiten in Berlin.
Sie beschreibt die aufkeimenden Studentenunruhen, das Treffen
in Künstlerkneipen, ihr eigenes erwachendes politisches Bewußtsein.
Zunächst wollte sie nur für ein Jahr in Berlin bleiben,
doch es werden zwei daraus.
Mit gestärktem Selbstvertrauen kehrt sie in ihre Heimat,
nach Istanbul, zurück. Sie wohnt wieder bei ihren Eltern
auf der asiatischen Seite der Stadt und jeden Tag pendelt sie
zum Europäischen Teil, um dort den heiß ersehnten Schauspielunterricht
zu nehmen. Auch hier bewegt sie sich in Künstlerkreisen und
erlebt die erbitterte Verfolgung der Linken, auf deren Seite sie
steht, in der Türkeit, mit.
Das Buch "Die Brücke vom Goldenen Horn" ist ein
Spagat zwischen der türkischen Tradition und der Moderne.
Das Besondere ist die ganz eigene, sehr poetische Sprache, mit
der Emine Sevgi Özdamar die politische Atmosphäre und
die dazugehörenden Geräusche und Gerüche der 60er
und 70er Jahre einfängt.
Bereits im Jahr 1991 erhielt Emine Sevgi Özdamar den Ingeborg-Bachmann-Preis
für ihren Erstling: "Das Leben ist eine Karawanserei".
Sie beweist auch mit ihrem neuen Buch, daß sie richtig eingeschätzt
wurde.
Emine Sevgi Özdamar - Die Brücke vom Goldenen Horn
1998, Köln, Verlag Kiepenheuer & Witsch, 333 S.
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