Michael Wallner - Cliehms Begabung (Buchtipp/Rezension/lesen)
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Cliehm ißt nicht mehr. Er zieht sich weder an noch aus, und gäbe es seine Blase nicht, Cliehm würde nicht mehr aufstehen.
Es ist doch nicht November, sagt der April. Na und, knurrt Cliehm und läßt die Jalousien herunter.
Im November könnte ich deine Stimmung verstehen.
Halt's Maul, sagt Cliehm zum April und tappt aus Bett. Im Vorübergehen streift er das Seil.
Am ersten Tag, an dem Cliehm nicht ißt, klingelt das Telefon. Und am zweiten Tag und am dritten. Am fünften Tag läutet es zum letzten Mal. Am sechsten Tag schleicht Cliehm hin, um nachzusehen, ob es kaputt ist. Freizeichen. Keiner ruft an. Gut. Cliehm legt sich wieder ins Bett.
Am achten Tag will er sehen, wie die Luft ist. Vorsicht, sagt die Luft, als er aus dem Haus tritt. Da liegt Cliehm schon auf der Straße. Ich habe dich gewarnt, sagt die Luft.


Lesezitat nach Michael Wallner - Cliehms Begabung


"Jetzt" ist ein ungenauer Begriff
Michael Wallner - Cliehms Begabung

Anton Cliehm ist Physiker, theoretischer Physiker. Seine Arbeit beschreibt er so: "Meine Tätigkeiten sind Sitzen, Aufundabgehen, Denken und Rechnen. Normalerweise." Doch die Lösung einer Aufgabe stürzt ihn in eine schwere Krise, denn er selbst hat entdeckt, dass er schon in der dritten Zeile seiner genialen Formel einen gravierenden Fehler übersehen hat.

Cliehm lässt das Institut, die Kollegen und seine Freundin Tilly, die Opernsängerin, hinter sich und reist überstürzt nach Lissabon. Hier will er seinem Leben ein Ende setzen und stößt dabei auf eine erstaunliche Entdeckung: Er kann in der Zeit reisen.

Nun beginnt Autor Michael Wallner in seinem Debüt Kapriolen zu schlagen. Es genügt ihm nicht, dass Cliehm in seiner Erinnerung reist, nein, Cliehm gelingt auch das frappierende Kunststück, seine Zeit neu zu gestalten.

So tritt eine junge Frau in Cliehms Leben, die aufregende Bedienung aus seinem Lissabonner Café mit dem ungewöhnlichen Namen Gredkulla. Der knochentrockene Physiker geht aufs Ganze. Er verwirklicht ein ideales Leben. Mit Gredkulla zeugt er ein Kind, doch die Gegenwart des Instituts und seine Freundin Tilly existieren parallel dazu. Cliehm allein kann in den verschieden Realitäten hin- und herspringen.

Gespannt verfolgt der Leser die phantasievollen Purzelbäume des Protagonisten, denn Wallner versteht sein Handwerk ausgezeichnet. Bei aller Komplexität der Handlung unterhält er sein Publikum auf bestem Niveau, ohne dass die Lektüre zu einem anstrengenden intellektuellen Kraftakt wird.

Doch wie kommt Cliehm aus diesen unterschiedlichen Zeitebenen wieder heraus? Diese Frage beschäftigt den Leser und lässt ihn bis zur letzten Seite nicht los.

Eins sei versichert, ohne dass zu viel verraten wird, Michael Wallner hat sich einen Überraschung-Coup für den Schluss ausgedacht.

Ein wunderbarer Roman, für Leser, die Spaß an geistreichen Knobeleien haben und dazu Wert auf gute Unterhaltung legen.

Michael Wallner - Cliehms Begabung
2000, Frankfurt, Frankfurter Verlagsanstalt, 319 S.

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Fortsetzung des Lesezitats ...

Acht Tage nichts gegessen. Cliehm schleppt sich auf sein Zimmer zurück. Oben findet er den Geruch von alter Luft und alten Wänden und alter Bettwäsche erschreckend. Ich geht nicht wieder an die Luft, sagt er zum April.
Ich bin ein Mai, antwortet der Mai.
Heute ist der sechzehnte Tag. Cliehm pinkelt in die Blumenvase. In der Nacht hat er geschwitzt, darum zieht er das grüne Hemd aus. Es ist nicht sein Hemd, es gehört Tilly. Jetzt gehöre ich dir, sagt das Hemd.

Du stinkst, sagt Cliehm.
Ich stinke nach dir, antwortet das Hemd. Früher stank ich nach Tilly.
Cliehm wirft Tillys Hemd, so weit er werfen kann. Es landet auf dem Telefon, und das ist nicht sehr weit. Er läßt sich in das blaue Kissen sinken und wendet den Kopf. Dort, inmitten des Zimmers, hängt das Seil, weiß und fest und still. Neben Cliehms Wange ist es feucht. Flecken auf dem Kissen. Speichel, während der Nacht aus dem Mund gelaufen. Er wendet das Kissen. Die gleichen Flecken. Sie riechen.
Ich will in der Zeit gehen, denkt Cliehm.
In welche Richtung? fragt die Erinnerung.
Rückwärts, bestimmt Cliehm. Er wälzt sich auf die Seite, streckt die nackten Füße unter der Decke hervor und geht los. Rückwärts.

Lesezitate nach Michael Wallner - Cliehms Begabung


© 3.10.2000 by
Manuela Haselberger
Quelle: http://www.bookinist.de