Die Probleme begannen natürlich gleich auf dem Lastwagen, wo der Alte den anderen zeigen. wollte, wer der Chef ist. Der Dicke bekam trotz seiner Körperfülle eine tüchtige Abreibung, und seitdem klafft ein tiefer Riß unter seinem Auge.
Darüber sprechen wir heute morgen und untersuchen die Wunde. Kein schöner Anblick. Sie ist leicht vereitert und zu groß, um von allein zu verheilen.
"Du hättest sie nähen sollen."
"Zu spät."
Die Feuchtigkeit macht alles noch schlimm er. Diane reinigt die Wunde mit einem Antiseptikum, während ich Montaine auf dem Arm habe. Sie kann hier nicht laufen, denn der Boden ist mit Erlen überwuchert und mit dichtem Gras bedeckt, das zu hoch für sie ist.
Ich seufze. Von heute an muß einer von uns beiden ständig auf sie aufpassen, rund um die Uhr und das ein Jahr lang, ohne auch nur eine Sekunde nachlässig zu werden. Ob wir das durchhalten werden?
Montaine quengelt und klammert sich noch stärker an mich.
"Nicht sehr lustig, der Regen, was, mein kleiner Liebling?"
"Hmmm."
Ich lege sie wieder ins Zelt und bleibe, einen neuerlichen Seufzer ausstoßend, bei ihr. Ich warte, bis Diane mich ablöst, und schlüpfe dann wieder ins Freie. S. 19
Unsere Reise soll, grob skizziert, von Prince George in British Columbia über die Rocky Motintains des kanadischen Nordens nach Alaska führen. 700 Kilometer zu Pferd und über 1700 Kilometer mit dem Hundeschlitten. Ein Jahr, vielleicht etwas weniger, wenn die Runde schnell sind. In der Übergangszeit, wenn der hohe Norden den Atem anhält, ehe der Winter Seen und Flüsse erstarren läßt, werden wir in einer Blockhütte wohnen, die wir uns in den Cassiar-Bergen bauen wollen. In einer der wildesten Gegenden, die ich kenne, über 200 Kilometer Luftlinie vom nächsten Dorf und einen guten Monat zu Fuß von der nächsten Straße entfernt. Ein viermonatiger Aufenthalt, den der Wechsel der Jahreszeiten erzwingt und den ich dazu nutzen möchte, bestimmte Tiere, insbesondere Bären und Wölfe, zu beobachten.
Ich habe viele Jahre meines Lebens damit zugebracht, wie ein Nomade den hohen Norden zu durchstreifen und Landstriche zu durchqueren, langsam zwar, aber ohne jemals irgendwo länger zu verweilen. Um so mehr freue ich mich auf diesen mehrmonatigen Aufenthalt. Die andere Besonderheit dieser Reise ist natürlich die Zusammensetzung des Teams .... S. 23
Wir gönnen den Pferden eine Ruhetag. Sowie es etwas aufklart, werde ich auf den Berg klettern oder den Flußlauf nach einer Furt absuchen, doch ich bezweifle, daß es eine Passage gibt. Diane macht sich auf die Suche nach den Pferden, und ich bleibe mit Montaine am Feuer. Eine Plane, die ich zwischen den Bäumen gespannt habe, schützt uns vor dem Regen. Montaine macht bei ihren Gehversuchen im Wald erstaunliche Fortschritte. Sie hat schnell gelernt, den Hindernissen auszuweichen, über die sie anfangs gestolpert ist: Wurzeln, Kriechpflanzen, lose Steine, Grasbüschel. Vor allem rappelt sie sich alleine wieder auf, und das ist für uns, die wir zigmal am Tag unsere Arbeit unterbrechen mußten, um der kleinen Waldprinzessin aufzuhelfen, der erfreulichste Fortschritt.
Sie spielt am Feuer mit Otchum. Der Regen stört sie nicht, ja, sie scheint ihn nicht einmal zu bemerken. Drei Wochen sind wir nun schon unterwegs, und das Glück ist uns wahrlich nicht hold. Scheußliches Wetter, Wege, die nur auf der Karte existieren, unpassierbare Flüsse, ein Grizzly und ein Vielfraß. Was haben wir getan, daß der Gott der Taiga uns so bestraft?
Ich höre von Diane kein Wort der Klage. Mit stoischem Gleichmut erträgt sie die Widrigkeiten einer Reise, die unter denkbar ungünstigen Umständen begonnen hat. Doch im Grunde erstaunt mich das nicht. S. 68
So viele Kilometer und Wochen trennen uns noch davon... Das Ziel erscheint uns so fern!
"Was glaubst du, wie viele Wochen brauchen wir?" fragt Diane, über die Karten gebeugt.
"Wenn es uns gelingt, 60 Kilometer Piste zu Spuren, also von hier bis zum Ausgang des Canyons, können wir es meines Erachtens in vier Wochen schaffen."
"350 Kilometer in vier Wochen?"
"Am Anfang können wir nicht mit dem ganzen Gepäck reisen. Wir müssen die Strecke zweimal fahren."
"Das ist doch Walmsinn."
"Nein, das habe ich schon oft so gemacht."
Man läßt die Hälfte des Gepäcks im Lager zurück, zum Beispiel die Säcke mit dem Hundefutter, fährt bis i6 Uhr, baut das Zelt auf, flitzt auf der mittlerweile gut präparierten Piste zurück, holt die Säcke und so weiter.
"Aber warum nehmen wir nicht gleich alles mit?"
"Am Anfang haben wir 300 Kilo auf dem Schlitten, inklusive 200 Kilo Hundefutter. Der Weg führt durch tiefen Schnee. Wir müssen mit den Schneeschuhen vor den Hunden eine Piste anlegen, und eine so schwere Last können sie nicht ziehen. Außerdem baut sie das wieder auf, wenn sie am Abend mit leerem Schlitten über eine schön harte Piste traben können."
"Das kann ja heiter werden!"
"Und ob!"
An den folgenden vier Tagen mache ich mich in aller Frühe, wenn es noch dunkel ist, mit neun Hunden auf den Weg. Wenn ich so zeitig aufbreche, kann ich eine möglichst große Strecke zurücklegen und habe, falls es Probleme gibt, trotzdem noch ein beruhigendes Zeitpolster für den Rückweg. Die Piste ist nicht leicht zu spuren. An manchen Stellen wird der Fluß zu gefährlich, dann muß ich eine Bresche durch den Wald schlagen. Oder ich muß auf Sümpfe ausweichen, um slush-Zonen zu umgehen S. 238
Dann taucht das Auto in der Ferne auf, ein kleiner schwarzer Punkt auf dem grauen Band der Straße.
Montaine hat es gesehen. Sie ist total aufgeregt. "Elle, Papa, da, Elle!" sagt sie mit einem fragenden Ton in der Stimme.
"Nein, Montaine, das ist ein Auto."
Sie kennt dieses Tier nicht. Es kommt näher. Das Brummen wird aggressiv. Montaine kommt zu uns gerannt.
Sie runzelt die Stirn und wirft sich mir in die Arme.
"Taitaine Angst!"
"Hab keine Angst, Montaine. Das Auto ist nicht gefährlich. Autos sind lieb."
Der Geländewagen rollt auf uns zu. Das laute Motorgeräusch wirkt beängstigend.
Montaine umklammert mich mit der ganzen Kraft ihrer kleinen Arme und zittert am ganzen Leib. Sie weint vor Angst. Sie sieht weg und birgt das Gesicht an meinem Hals. Das Auto hält direkt neben uns an.
Die Hunde sind aufgestanden und knurren nervös. "Ganz ruhig, meine Hundchen. itz!" befiehlt ihnen Diane, während ich versuche, Montaine zu beruhigen.
Sie heult ohne Unterlaß.
Es ist schrecklich!
"Taitaine Angst!" Sie klammert sich mit aller Kraft an mich.
Ich entferne mich mit ihr von Straße und Auto und gehe in den Wald. Erst im Schutz der Bäume beruhigt sie sich etwas.
"Hab keine Angst, Montaine. Das ist ein Auto. Wir sind am Ziel, verstehst du? Wir werden Häuser sehen, Menschen. Du brauchst keine Angst zu haben."
"Taitaine Angst!"
Was tun?
Ich deute durch die Tannenzweige, die eine Art Schutzschlld bilden, auf das Auto. Schließlich siegt die Neugier über die Angst, und sie sieht hin.
Diane hat die Hunde beruhigt und tritt jetzt an den Wagen, in dem ein bärtiger Mann um die Fünfzig sitzt. Er guckt ebenso erstaunt wie Montaine.
"Guten Tag!" sagt Diane auf englisch. "Das ist das erste Auto, das wir seit acht Monaten sehen. Meine Tochter hat Angst, deswegen ist mein Mann mit ihr in den Wald gegangen. Das Auto macht ihr angst!
Der Mann stammelt mehrmals verdutzt:
"My God, my God!"
Er kann es nicht fassen, der Arme.
Wir treten ganz langsam näher. Montaine hat sich beruhigt. Sie hält mich umklammert und sagt nur immerzu:
"Taitaine Angst."
Seit einigen Wochen bemerken wir eine ziemlich einschneidende Veränderung in ihrem Verhalten. Zu Beginn der Reise hat sie sich stets an ihre Mutter gewandt, wenn sie Angst oder Kummer hatte. Nur Diane konnte sie beruhigen oder trösten. Jetzt läßt sie sich von Mama trösten und von Papa beruhigen, als hätte sie begriffen, daß ich in dieser Welt, in der sich bei Gefahr auch Diane auf mein Urteil und meinen Schutz verläßt, erfahrener und kompetenter bin.
Montaine hat sehr gut verstanden, oder zumindest aufgrund ihrer Beobachtungen gespürt, daß ich ihr mehr Schutz bieten kann. Als das Auto, dieses furchterregende Ungetüm, auf uns zufuhr, hat sie keine Sekunde gezögert und ist, obwohl Diane näher bei ihr stand, zu mir gerannt. Papa, beschütz mich!
Ich halte sie fest in den Armen und drücke meine Wange an ihr Gesicht. Der körperliche Kontakt beruhigt sie, und ich erkläre es ihr immer wieder. S. 323
Lesezitate nach Nicolas Vanier - Das Schneekind