EINS
"Wer mus nicht mit der erbärmlichen Absicht solcher Leute, die selbst an sich Hand anlegen und sich umbringen, Mitleiden haben? Der Teufel täte desgleichen, wen es in seiner Macht wäre."
Religio Medid 1, 51
"Gott wandelt sich nicht", sagte Diakonin Sally Appleyard. "Aber wir wandeln uns."
Sie hielt inne und sah in die Kirche hinunter. Nicht, daß sie steckengeblieben wäre oder Angst gehabt hätte: Es war die Zeit selbst, die unvermittelt gelähmt war. Da die Zeit nicht von der Stelle kam, war alle Zeit gegenwärtig.
Schon als Kind hatte sie diese Attacken gehabt, allerdings waren sie, seit sie das Jugendalter hinter sich gelassen hatte, seltener geworden; oft kamen sie kurz vor Beginn einer emotionalen Erschütterung. Gekennzeichnet waren sie durch ein traumgleiches Gefühl des Unvermeidlichen - vergleichbar, vermutete Sally, den Vorboten eines epileptischen Anfalls. Nicht ausgeschlossen, daß es eine spirituelle Gabe war, die Sally allerdings eher als lästig empfand und in der sie keinen konkreten Nutzen zu entdecken vermochte.
Ihre Nervosität war verflogen. Typischerweise herrschte tiefe Stille. Niemand hustete, die Babys schliefen, und die Kinder verhielten sich ruhig. Selbst der Verkehrslärm war verhallt. S. 15
"Ich hab gleich gewußt, daß ich mit der noch mal Ärger kriege", sagte Mrs. Gunter über die Schulter. "Leute wie Audrey kommen einfach mit der Realität nicht zurecht." Keuchend blieb sie auf dem Treppenabsatz stehen und sah Sally aus hellen, blutunterlaufenen Augen an. "Bekloppt ist bekloppt, da kann einer sagen, was er will. Solche Leute kann man nicht frei rumlaufen lassen, die brauchen Aufsicht."
Langsam gingen sie die letzte Treppe hoch. In einem Zimmer unter ihnen spielte jemand Rockmusik. Es roch nach Küchendünsten und nach Zigaretten. Vor einer der drei Türen blieb Mrs. Gunter stehen und fummelte an ihrem Schlüsselring herum.
"Heut früh hab ich die Frau vom Sozialamt angerufen. Tut mir leid, hab ich gesagt, ich kann sie nicht wieder nehmen, das geht einfach nicht. Von mir kriegt sie ein Zimmer und ihr Frühstück, dafür werde ich bezahlt, aber für Wunder bin ich nicht zuständig." Mrs. Gunter warf Sally einen feindseligen Blick zu. "Die überlaß ich Ihnen."
Sie schloß auf und öffnete die Tür. Das Zimmer war klein und schmal und hatte eine Dachschräge. Das erste, was Sally auffiel, war der Hausaltar. Auf der Kommode lag eine weiße Decke, darauf stand, flankiert von zwei Messingleuchtern, ein etwa zwanzig Zentimeter hohes, hölzernes Kruzifix ....S. 51
"Hier ist das Muster, das diese Sache mit St. Michael von gestern und Paradise Gardens von heute verbindet." Er inhalierte tief. "Wer immer hinter dieser Tat steckt, dürfte katholisch oder zumindest oberflächlich mit katholischen Theologie vertraut sein."
"Aber St. Michael ist eine anglikanische Kirche", wandte Michael ein.
David schwenkte ungeduldig die Zigarette, und ein Aschenkegel fiel auf den Teppich. "Katholisch im weiteren Sinne, nicht unbedingt römisch-katholisch." Die Zigarettenspitze wanderte zwischen Sally und Michael hin und her, und in diesem Augenblick begriff sie, wie eindrucksvoll David Byfield als Lehrer gewesen sein mochte. "Wißt ihr, was die vier letzten Dinge sind?"
Michael sah kurz zu Sally hin und schüttelte den Kopf
"Tod und Gericht", sagte Sally automatisch, während ihre Gedanken um Lucy kreisten. "Himmel und Hölle. Nach römisch-katholischem Verständnis sollte man ihrer immer eingedenk sein."
"Ganz genau", bestätigte Hudson halblaut. Die res novissimae. Vortridentinisch, nicht?"
David nickte. "Die theologische Basis ist ein Abschnitt aus den Apokryphen, in Ecclesticaticus. Die Viererteilung ist nicht offiziell, sondern eher volkstümlich, aber schon lange schriftlich fixiert, im Katechismus des heiligen Peter Canisius zum Beispiel. ....." S. 309
Lesezitate nach Andrew Taylor - Die vier letzten Dinge