Andrew Taylor - Die vier letzten Dinge (Buchtipp/Rezension/lesen)
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PROLOG

"Kurz, wir sind alle Misgeburten, d. i. ein Geschöpf, das aus einem Menschen und Vieh zusammengesetzt ist ....
Religio Medici 1, 55

Eddie glaubte an den Weihnachtsmann. Schon von jeher. Sein Kinderglauben war naiv und unreflektiert gewesen, er hatte länger daran festgehalten als seine Altersgenossen und sich nur ungern von ihm getrennt. An seine Stelle war eine andere Überzeugung, ein anderer Weihnachtsmann getreten, der weniger scharf konturiert war als der erste und deshalb auch weniger angreifbar.

Bei seinem neuen Weihnachtsmann handelte es sich um eine private Gottheit, eine Quelle kleiner Wunder und unerwarteter Freuden. Und diesem Weihnachtsmann - wem sonst? - verdankte er Lucy Appleyard.

Lucy stand im Garten hinter Carla Vaughans Haus. Eddie war auf dem Weg im Schatten, Lucy aber neben einem erleuchteten Fenster, ein Irrtum war ausgeschlossen. Es regnete, und in ihrem dunklen Haar hingen Wassertropfen, die wie Perlen glänzten. Es war, als warte sie auf ihn. Ein vorgezogenes Geschenk, dachte er, in Weihnachtspapier eingewickelt. Er ging näher heran und blieb vor dem Tor stehen.
"Hallo", sagte er sanft und leise. "Hallo, Lucy."
Sie antwortete nicht und hatte offenbar auch nicht registriert, daß er sie beim Namen genannt hatte. Geradezu erschreckend, diese Selbstsicherheit. Er war nie so gewesen und würde nie so sein. Einen langen Moment schauten sie sich unverwandt an. Eddie sah, daß sie den Mantel anhatte, den sie meist für draußen trug, etwas Grüngestepptes mit Kapuze. Er war ihr zu lang, sie wirkte darin jünger, als sie war. Die Hände, die unter den Manschetten fast verschwanden, hatte sie ineinandergelegt. Er hatte den Eindruck, daß sie etwas festhielt. An den Füßen trug sie die roten Cowboystiefel. Die Hintertür war zu. Im Haus brannte Licht, aber man sah keine Bewegung. Eddie war ihr noch nie so nah gewesen. Wenn er sich vorbeugte und die Hand ausstreckte, konnte er sie anfassen.

"Bald ist Weihnachten", sagte er. "Nur noch dreieinhalb Wochen."
Lucy warf den Kopf zurück. Vier Jahre, und schon groß im Kokettieren.
"Hast du dem Weihnachtsmann geschrieben, was du dir wünschst?"
Sie sah ihn groß an, dann nickte sie.
"Und was willst du von ihm haben?"
"Viele Sachen." Sie sprach gut für ihr Alter, die Artikulation war klar, die Stimme schön moduliert. Sie sah zu dem erleuchteten Fenster zurück. Jetzt erkannte er, was sie in der Hand hatte. Eine Geldbörse, die der Größe nach kaum ihr gehören konnte. Sie wandte sich wieder zu ihm um.

"Wer bist du?"
Eddie strich sich über den Bart. "Ich arbeite für den Weihnachtsmann." Es gab eine lange Pause, und er überlegte, ob er zu weit gegangen war. "Was meinst du wohl, wie er in all diese Häuser kommen soll?" Er deutete über die Häuserzeile hin, auf die lange Reihe der Dächer und Kamine, Gartenschuppen und Satellitenschüsseln. Zwei Häuserzeilen waren hier Rücken an Rücken gebaut, und Eddie stand auf dem Weg, der zwischen den zwei Reihen handtuchschmaler Gärten verlief. S. 9-10


Lesezitat nach Andrew Taylor - Die vier letzten Dinge


Lucy
Andrew Taylor - Die vier letzten Dinge

ally und Michael Appleyard sind beide berufstätig und mehr mit ihrem Job verheiratet als miteinander. Sally arbeitet als Diakonin und Michael ist Polizist. "Ihr Zusammenleben bestand nur noch aus einem ständigen Einerlei lästiger Pflichten, die ein komplizierter, unerbittlich strikter Zeitplan regelte." Die beiden erleben den Alptraum eines jeden Elternpaares, als ihre vierjährige Tochter Lucy vor dem Haus der Pflegemutter entführt wird. Von den Tätern keine Spur. Niemand von den Nachbarn hat etwas bemerkt.

Lucy konnte nicht ahnen, als sie dem freundlichen Herrn folgte, dass er ihr nicht den heiß ersehnten Zauberkasten kaufen würde, sondern sie in einen schallisolierten Keller sperren würde. Am schlimmsten ist die Frau, die sie ebenfalls bewacht und sehr streng und unnachgiebig mit Lucy umgeht.

Und dann tauchen in einer Kirche, auf dem Friedhof und in einer verlassenen Wohnung höchst makabere Hinweise auf das entführte Kind auf. Die Eltern sind entsetzt, als sie eine abgetrennte Kinderhand, ein Bein und ein kleines Ohr identifizieren sollen. Könnten sie von Lucy stammen? Sicher ist nur, dass die Haare, die in einem Briefumschlag stecken, von ihr sind.

Sally dämmert langsam, dass es sich um drei symbolträchtige Fundorte handelt und die Entführer ihr damit einen Hinweise geben wollen. Unter den vier letzten Dingen versteht man in der Kirche: Tod und Gericht, Himmel und Hölle. Der Tod bezieht sich auf den Fundort Friedhof, das Gericht auf eine Statue in der Kirche, in der das abgetrennte Bein gefunden wurde und der Himmel, das ist klar, ist mit der Straße Paradise Road gemeint, in der sich die leere Wohnung befindet, in der das Haar und das abgeschnittene Ohr hinterlegt waren. So bleibt die Hölle übrig.

Es ist ein hervorragend erzählter und gut konstruierter Krimi, mit dem der englische Autor Andrew Taylor im deutschen Sprachraum sein Debüt gibt. In seiner Heimat wurde er bereits mehrfach für seine Krimis und Jugendbücher ausgezeichnet.

Besonders der Spannungsaufbau ist kaum zu überbieten. In abwechselnden Kapiteln beschreibt Taylor die Angst der Eltern, ihre gegenseitigen Vorwürfe, das allmähliche Auseinanderleben und die Entfremdung, die immer mehr um sich greift. Was hat Michael mit seinem Patenonkel David Byfield für Geheimnisse, an denen er Sally nicht teilhaben lässt?

Unterbrochen werden diese Abschnitte mit den Appelyards vom Leben Lucys mit ihren Entführern. Die Vorliebe von Eddie Grace, der eher schüchtern und zurückhaltend auftritt, für kleine Mädchen ist unübersehbar, die hatte bereits sein Vater. Doch wer ist die Frau, die unter falschem Namen mit ihm seine Wohnung teilt und woher rührt ihre Brutalität gegenüber Kindern?

Nicht alle Fragen werden in diesem ersten Band der Roth-Trilogie beantwortet. Roth ist eine Kleinstadt in Middlesex und hier haben sich in den sechziger und siebziger Jahren die Leben der Familien Appelyard und Byfield miteinander verheddert. Die offenen Fäden sind vom Autor sehr geschickt als Köder ausgelegt, so dass dem Erscheinen des neuen Bandes "Das Recht des Fremdlings" im Frühjahr 2001 entgegengefiebert wird.
© manuela haselberger


Andrew Taylor - Die vier letzten Dinge
Originaltitel: The Four Last Things, 1997
Übersetzt von Renate Orth-Guttmann
2000, München, Zsolnay Verlag, 364 S.

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Fortsetzung des Lesezitats ...

EINS

"Wer mus nicht mit der erbärmlichen Absicht solcher Leute, die selbst an sich Hand anlegen und sich umbringen, Mitleiden haben? Der Teufel täte desgleichen, wen es in seiner Macht wäre."
Religio Medid 1, 51

"Gott wandelt sich nicht", sagte Diakonin Sally Appleyard. "Aber wir wandeln uns."
Sie hielt inne und sah in die Kirche hinunter. Nicht, daß sie steckengeblieben wäre oder Angst gehabt hätte: Es war die Zeit selbst, die unvermittelt gelähmt war. Da die Zeit nicht von der Stelle kam, war alle Zeit gegenwärtig.

Schon als Kind hatte sie diese Attacken gehabt, allerdings waren sie, seit sie das Jugendalter hinter sich gelassen hatte, seltener geworden; oft kamen sie kurz vor Beginn einer emotionalen Erschütterung. Gekennzeichnet waren sie durch ein traumgleiches Gefühl des Unvermeidlichen - vergleichbar, vermutete Sally, den Vorboten eines epileptischen Anfalls. Nicht ausgeschlossen, daß es eine spirituelle Gabe war, die Sally allerdings eher als lästig empfand und in der sie keinen konkreten Nutzen zu entdecken vermochte.

Ihre Nervosität war verflogen. Typischerweise herrschte tiefe Stille. Niemand hustete, die Babys schliefen, und die Kinder verhielten sich ruhig. Selbst der Verkehrslärm war verhallt. S. 15

"Ich hab gleich gewußt, daß ich mit der noch mal Ärger kriege", sagte Mrs. Gunter über die Schulter. "Leute wie Audrey kommen einfach mit der Realität nicht zurecht." Keuchend blieb sie auf dem Treppenabsatz stehen und sah Sally aus hellen, blutunterlaufenen Augen an. "Bekloppt ist bekloppt, da kann einer sagen, was er will. Solche Leute kann man nicht frei rumlaufen lassen, die brauchen Aufsicht."

Langsam gingen sie die letzte Treppe hoch. In einem Zimmer unter ihnen spielte jemand Rockmusik. Es roch nach Küchendünsten und nach Zigaretten. Vor einer der drei Türen blieb Mrs. Gunter stehen und fummelte an ihrem Schlüsselring herum.

"Heut früh hab ich die Frau vom Sozialamt angerufen. Tut mir leid, hab ich gesagt, ich kann sie nicht wieder nehmen, das geht einfach nicht. Von mir kriegt sie ein Zimmer und ihr Frühstück, dafür werde ich bezahlt, aber für Wunder bin ich nicht zuständig." Mrs. Gunter warf Sally einen feindseligen Blick zu. "Die überlaß ich Ihnen."

Sie schloß auf und öffnete die Tür. Das Zimmer war klein und schmal und hatte eine Dachschräge. Das erste, was Sally auffiel, war der Hausaltar. Auf der Kommode lag eine weiße Decke, darauf stand, flankiert von zwei Messingleuchtern, ein etwa zwanzig Zentimeter hohes, hölzernes Kruzifix ....S. 51

"Hier ist das Muster, das diese Sache mit St. Michael von gestern und Paradise Gardens von heute verbindet." Er inhalierte tief. "Wer immer hinter dieser Tat steckt, dürfte katholisch oder zumindest oberflächlich mit katholischen Theologie vertraut sein."

"Aber St. Michael ist eine anglikanische Kirche", wandte Michael ein.
David schwenkte ungeduldig die Zigarette, und ein Aschenkegel fiel auf den Teppich. "Katholisch im weiteren Sinne, nicht unbedingt römisch-katholisch." Die Zigarettenspitze wanderte zwischen Sally und Michael hin und her, und in diesem Augenblick begriff sie, wie eindrucksvoll David Byfield als Lehrer gewesen sein mochte. "Wißt ihr, was die vier letzten Dinge sind?"
Michael sah kurz zu Sally hin und schüttelte den Kopf
"Tod und Gericht", sagte Sally automatisch, während ihre Gedanken um Lucy kreisten. "Himmel und Hölle. Nach römisch-katholischem Verständnis sollte man ihrer immer eingedenk sein."
"Ganz genau", bestätigte Hudson halblaut. Die res novissimae. Vortridentinisch, nicht?"
David nickte. "Die theologische Basis ist ein Abschnitt aus den Apokryphen, in Ecclesticaticus. Die Viererteilung ist nicht offiziell, sondern eher volkstümlich, aber schon lange schriftlich fixiert, im Katechismus des heiligen Peter Canisius zum Beispiel. ....." S. 309

Lesezitate nach Andrew Taylor - Die vier letzten Dinge













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Am dunklen Ende der Nacht

© 2001


The Four Last Things

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gebunden:


Das Recht des Fremdlings

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© 9.5.2001 by
Manuela Haselberger
Quelle: http://www.bookinist.de