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So erfährt Laurent Grimond de la Reynière mit mehr als einstündiger Verspätung, daß er an diesem 20. November einen Sohn bekommen hat.

Ein Kind gebähren, befindet er, sei eine vulgäre Aktion, die man gut Frauen überlassen kann, aber einen Namen gebären, erfordert männlichen Feingeist.

Laurent denkt in großen Dimensionen. Also an Helden und an die Geschichte.

Alexandre - das ist ein würdiger erster Name. Und weil Suzannes Vater, ein bankrotter Versager, aber einer, dessen adlige Familie schon seit dem elften Jahrhundert nachgewiesen ist, Balthazar heißt, steht auch Name Nummer zwei fest. Und als Steigerung kann dann nur ein dritter Name Folgen: Laurent.

Er flaniert die Treppe hinauf und genießt den Wohllaut seiner Stimme als er, am Fuß des Wochenbetts stehend, sagt: "Mein Sohn wird hören auf den Namen Alexandre-Balthazar-Laurent Grimond de la Reynière."

"Zeigen Sie es ihm", sagt Suzanne. "Zeigen Sie ihm, was er zustande gebracht hat."

Die Hebamme legt das Bündel in die Kissen zurück und macht sich daran zu schaffen. Und hält es dem jungen Vater wieder entgegen. Nun sieht Laurent nicht nur das Gesicht, er sieht auch die Unterarme seines Sohns. Dort, wo die Hände des Kinds sein sollten, sieht er etwas Entsetzliches. Aus dem linken Arm wächst statt einer Hand ein Gebilde, verhornt und gebogen wie die Klaue eines Geiers. Und aus dem rechten eine fleischige Krebszange, zwischen deren beiden Hälften eine dünne Membran gespannt ist, die an die Füße von Gänsen erinnert.

Während Laurent seine Stopfleber in die Porzellanschüssel erbricht, beginnt die schöne Suzanne-Francoise-Elizabeth, geborene de Jarente, 24 Jahre jung, hemmungslos zu heulen.

Laurent weiß, was da zu tun ist. Er sagt der Hebamme in beherrschtem Ton, sie möge ihm Bescheid geben, wenn das alles vorüber sei. Weil Suzannes Weinwn ziemlich leise ist, entkräftet, wie er sich sagt, hält er diesmal den Rückzug in seine Bibliothek eine Etage tiefer für ausreichend.

Er ist bei Casanovas Gefängnisbericht gerade dort angelangt, wo von verfaultem Kalbfleisch die Rede ist, das den Häftlingen serviert wird , als die Hebamme meldet, die Tränen der jungen Mutter seien versiegt. Sie wird diesen Balg nicht als ihr Kind anerkennen. S. 10

........... weiter....


Lesezitat nach Lea Singer - Die Zunge, S.



als Nachtisch dazu
einen Gourmet-Krimi:
von Michael Dibdin

La trifola


oder einen weiteren
historischen Roman
über einen
genialen Koch

von Belinda Rodik

Trimalchios Fest



Die Zunge
Lea Singer - Die Zunge

"Im achtzehnten Jahrhundert lebte in Frankreich ein Mann, der zu den genialsten und abscheulichsten Gestalten dieser an genialen und abscheulichen Gestalten nicht armen Epoche gehörte. Seine Geschichte soll hier erzählt werden. Er hieß Jean-Baptiste Grenouille, und wenn sein Name im Gegensatz zu den Namen anderer genialer Scheusale, wie etwa de Sades, Saint-Justs, Fouchés, Bonapartes usw., heute in Vergessenheit geraten ist, so sicher nicht deshalb, weil Grenouille diesen berühmteren Finstermännern an Selbstüberhebung, Menschenverachtung, Immortalität, kurz an Gottlosigkeit nachgestanden hätte, sondern weil sich sein Genie und sein einziger Ehrgeiz auf ein Gebiet beschränkte, welches in der Geschichte keine Spuren hinterlässt: auf das flüchtige Reich der Gerüche."

Mit diesen Worten beginnt Patrick Süßkinds 1985 gefeierte Geschichte eines Mörders "Das Parfum"

Und ebenso wie Süßkind seinen abartigen Romanhelden Grenouille durch das Paris der vorrevolutionären Zeit schickt, gelingt es Lea Singer in ihrem Roman "Die Zunge" eine brillante Facette dieser von Verruchtheiten strotzenden Ära des 18. Jahrhunderts einzufangen. Ihr Titelheld, Alexandre-Balthazar-Laurent Grimond de la Reynière, wird wenige Jahre nach Süßkinds Grenouille ebenfalls in Paris geboren. Allerdings nicht als Kind eines armen Fischweibs vom Markt, sondern als Sohn eines vermögenden, adligen Steuerpächters. Doch Grimod ist wie Quasimodo mit fürchterlichen Entstellungen auf die Welt gekommen. Anstelle zweier Hände besitzt er nur Klauen an den verkrüppelten Armen, deren Scheren und Zangen es ihm wahrhaft schwer machen, Gottes Schöpfungen zu begreifen.

Seine Eltern hoffen zunächst auf eine schnelle Erlösung und, nachdem ihnen diese Gnade nicht zuteil wird, bringen sie das Gerücht in Umlauf, dass eine Sau in einem unachtsamen Augenblick des Kindermädchens dem Knaben die Gliedmaßen abgefressen habe.

Trotzdem verstecken sie Grimod und so ist der Junge häufig nur in der Obhut des Hauspersonals, vornehmlich in der Küche. Und genau dort, im flüchtigen Reich der Kräuter, Düfte, Dämpfe, im Sumpf der geschlachteten Tiere, beginnt Grimod seine Sinne zu schärfen, allen voran seinen Geschmackssinn, dessen wichtigstes Instrument, die Zunge, er fortan beharrlich trainiert und verfeinert.

Als Sohn eines Adligen entwickelt sich Grimod wie andere reiche Nichtstuer nicht zur Freude seiner Eltern. Als junger Herr bereitet es ihm diebisches Vergnügen seine Eltern, die ihn so gnadenlos jahrelang verleugnet haben, von einem gesellschaftlichen Affront in den nächsten zu ziehen. Seine Spottsucht bringt ihn in die Theater der Stadt und er entwickelt sich zu einem der geschätztesten Theaterkritiker des Landes. Aber auch seine berufliche Laufbahn als Anwalt krönt der händelose Krüppel mit zahllosen Erfolgen.

Trotzdem ereilt ihn zweimalige Verbannung - einmal durch die Eltern in seiner Jugend, später durch den König selbst - eine herzlose Zeit für G. de la Reynière, der mit Paris verwurzelt ist.

Doch das Schicksal erspart ihm während seiner zweiten Abwesenheit die Wirren der großen Revolution, das tödliche Sirren der Guillotine, dessen Erfinder er neben Lavater, Mirabeau und Voltaire gelegentlich trifft - ja sogar Napoleon, dem kleinen Korsen, begegnet er -unerkannt- auf einem von G. veranstalteten Fest.

Doch ständig lebt der Gourmet, Verfechter und gelegentlich auch Verächter des guten Geschmacks, und Erfinder des Feinschmecker-Lokale-Tests, einer Ausweichtätigkeit seines Rezensentendaseins, nachdem Fouchés, Paris gewalttätiger Polizeikommissar, ihm die Theaterkritiken verboten hat, am Rande des Ruins. Und dies nicht nur, weil er hin und wieder ein haltloser Genießer und Verschwender ist, sondern ganz besonders auch, weil er sich oft in der Ehrlichkeit und Lauterkeit seiner Umwelt täuscht, vornehmlich in den Frauen, die er einerseits auf das Vorzüglichste mit seinem gut durchtrainierten Geschmacksorgan beglückt, andererseits deren Gier aber auch völlig unterschätzt.

Einzig die letzten Seiten des Buches hätte sich die Autorin Lea Singer, die so gelungene Stimmungsbilder in der wuchtigen Sprache des Ancien Paris einfängt, im Prinzip ersparen können: Es ist nicht notwendig die Lebensgeschichte des Helden bis in sein hohes Alter zu verfolgen - alles, was dem Leser nahe zu bringen ist, hätte auch mit dem folgenden ihrer Sätze enden können: "Moralisten lassen sich keine Zeit. Menschen mit Geschmack dagegen immer. Denn Genuß macht langsam."

Schade, dass " Die Zunge" bereits nach rund 300 Seiten verkostet ist, denn der Büchergourmet würde sich gerne noch etwas mehr dieses exzellenten Buchstabengerichts einverleiben wollen.



Lea Singer - Die Zunge
© 2000, Stuttgart, Klett-Cotta, 318 S.

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Fortsetzung des Lesezitats ...

Natürlich sperrt Suzanne üblicherweise das Monster weg, wenn Gäste da sind. Vor der gesamten Familie wird das Kind ohnehin völlig versteckt. Aber die Freundinnen, alle angesteckt von jener Gier auf Neuigkeiten, die in Paris wie eine Seuche grassiert, gibbern danach, es zu sehen, Suzanne jedoch verweigert es, ihren Sohn zu zeigen. S. 19

Die taubstumme Amme öffnet das Mieder und ihre butterweiche Hand nimmt den gewohnten Weg unter die Decke.

Wenn sie wortlos ihre weichen großen Brüste auspackt und so auf sein Gesicht bettet, daß er gerade noch atmen kann im Tal dazwischen, wird er ruhig, ganz ruhig. S. 26

17. Juni 1763: A. hat seine Prothesen bekommen. Meisterwerke. Als ich zurückgekehrt bin mit ihm und S. vorführen wollte wie genial ich dieses ärgerliche Problem in unserem Leben gelöst habe, hat sie gesagt: "Belästige mich nicht mit solchen Banalitäten. Damit habe ich nichts zu schaffen." S. 32

Nur die Amme ahnt mittlerweile, an welcher Krankheit ihr Liebling leidet. Es kreischt in seinem schönen Kopf, es kreischt empört, entsetzt und angewidert.

So geschieht es Nacht für Nacht. Bis zu dem Tag, an dem Mademoiselle Quinault zu Besuch kommt, die Hausherrin aber nicht vorfindet und den Abend mit Alexandre im Salon verbringt.

In er darauffolgenden Nacht schläft das Kind ruhig und lächelt sogar im Traum.

Im Nachthemd steht er vor dem Spiegel und streckt die Zunge heraus. Er bibbert im kalten Zimmer, als die Amme hereinkommt und erschrocken sieht, was ihr Liebling treibt. S. 37

Nie kommt sie dahinter , daß Mademoiselle Quinault ihm verraten hat, wie auch er teilhaben kann an diesem Spiel. Daß sie ihm zu einer sensationellen Entdeckung verholfen hat: der Entdeckung seines dritten Arms. Mit ihm könne er verführen, genießen, verwöhnen. Er müsse diesen Arm, hat die Quinault ermahnt, nur eisern trainieren.

Und von diesem Tag an trainiert Alexandre seine Zunge. Als das Instrument, das mit Worten verführen kann. Das unendlich viele Nuancen des Geschmacks genießen kann. Und mit dem er jede Frau verwöhnen kann. Nicht nur beim Küssen, hat Mademoiselle Quinault betont. Sondern erst recht bei jenen Zärtlichkeiten, die eine Frau besonders beglückten. Weil sie ungleich erregender seien als die einer kundigen Hand. S. 38-39

 

Überall holt er sich das Wissen und schärft dieses Waffe. In der Bibliothek, im Boudoir seiner Mutter, das er heimlich erforscht, auf dem Schoß von Mademoiselle Quinault, am weichen, weißen Körper der stummen Amme und in der Küche. Die Köchin ist eine große Frau aus dem Massif Central mit fleischigen weißen Unterarmen, die fast immer beben, weil sie fast immer etwas rührt oder knetet, aufschlägt, tranchiert oder hackt. Sie hat sich daran gewöhnt, daß das verkrüppelte Kind die Mittagszeit bei ihr im der Küche zubringt. S. 39

Sie holt die Leber aus der Gans heraus. "Na also. Du siehst, das wirkt."

Alexandre spürt, wie sein Magen aufbegehrt. Ihm graust nicht nur vor der Vorstellung, daß Menschen menschliche Eingeweide fressen, sondern auch vor dem dumpfen Aberglauben der Köchin. Wie leicht könnte sich der gegen ihn richten. Wäre es doch einfach, seine gräßlichen Armstümpfe für Teufelswerk zu erklären, das jedem, der damit in Berührung kommt, Unheil bringt. Den Aussatz., totgeborene Kinder oder die Pest. Allmählich werden ihm die Geschichten der Köchin, die er anfangs lustig fand, unheimlich. Wenn sie mit glühenden Augen erzählt, daß anständige Frauen zu Dirnen würden, wenn sie zuviel Rauke äßen . Oder daß satte Portionen Spargel einen Mann zeugungsfähig machten. Und daß Petersiliensamen dem sanftesten Gatten in einen wilden haltlosen Stier verwandelten. S.42

E r ist dankbar, daß es nur einen Akt hat.

Danach feiern die Schauspieler im "Procope" und Françoise erklärt, da feiere sie mit. Entkräftet schleppt sich Grimod alleine aus dem Theater, das er eineinhalb Stunden vorher in Siegerlaune betreten hat. Er weiß, was ihm jetzt hilft. Was ihn alles vergessen machen kann. Leider weiß er auch, daß es mühsam wird, dieses Heilmittel aufzutreiben, weil es nur einen in Paris gibt, der es ihm verschaffen kann. Den muß er jetzt suchen, irgendwo auf der Straße, irgendwo in einer Kneipe.

Es ist fast Mitternacht, als er ihn findet. Diesmal im Café de la Régence. Als er die Tür öffnet, steht Alexandre vor einer Wand aus stinkendem Qualm. Leises Flicken ist zu hören, sonst nichts. Seine Augen brennen, aber er kämpft sich durch. Er ahnt, was ihn erwartet. Ein Heer von schweigenden Duellanten.

Und wenn einer plötzlich einen Schwall von Beschimpfungen erbricht, regt sich keiner auf. Die Schachspieler, die sich hier in diesem Kaffeehaus eingenistet haben, kennen solche Ausbrüche,

Ganz hinten, auf der fleckigen dunkelrot bezogenen Bank, kauert eine kleine Gestalt und raucht. Mit ausgestreckten Armen hetzt Grimod auf sie zu.

Die Wangen sind eingefallen, die Haut ist gelb, wie ein Kranker sitzt Rétif da und glotzt mit fahlem Blick auf die Spieler. S. 153

Rétif weiß, daß Grimod keine Fragen, keine Erkundungen und vor allem kein Mitleid will. Wie ein krankes Tier hat er sich zurückgezogen, um genau dem zu entkommen. "Gehen will ich" sagt er, ''einfach mit dir gehen". Wortlos wandert er nun neben Rétif durch den staubig heißen Junimittag. Die Straßen sind leer, alle sitzen beim Essen. Die Minister genauso wie die Schrotthändler. Nur die Tisane-Verkäufer tappen erschöpft, den Weißblech-Kanister auf dem Rücken, durch die Gegend. Ihre Schürzen, die heute morgen noch weiß waren, sind hellgrau, und die Reiherfedern, mit denen sie ihre Mützen bestücken, damit auch jeder sie sieht, sind verstaubt. "Frisch und kühl", schreien sie, "wer will trinken?" Nie käme Grimod auf die Idee, dieses durchgeschüttelte lauwarme Lakritzewasser zu probieren, aus einem der beiden Silberbecher, die jeder Tisane an seinem Bauch trägt, ordentlich angekettet. Jetzt um zwei Uhr, haben aus jedem dieser Becher schon hundert, zweihundert Leute getrunken. Trotzdem lieht Alexandre die Tisane-Verkäufer und zahlt bereitwillig einen Becher für Rétif. Geschickt füllt der Händler aus dem Hahn einen Becher voll mit der durchgerüttelten, schäumenden Süßhofzbrühe, gierig schüttet Rétif sie hinunter. Trösten kann er diesen Freund, das weiß Rétif längst, nicht durch mitleidige Sentenzen. Nur indem er ihm vorführt, daß es anderen schlechter geht. So zieht er ihn ans äußerste Ende der Stadt, in Richtung Faubourg Saint-Marcel. Es wird Nacht, selbst an einem leuchtenden Junimittag, wenn man dieses Viertel betritt. Schwarz vor Dreck sind dort die Häuser, und die Gassen sind so eng, daß man kaum einen Fuß setzen kann zwischen die Kothaufen. Aus offenen Fenstern dringt das Keifen von Frauen, die ihre Kinder beschimpfen, und das Gebrüll betrunkener Männer, die ihre Frauen verdreschen. Ungehindert kann jeder durch die niedrigen Fenster in diese Ein-Zimmer-Verliese glotzen , in denen ganze Familien hausen. Kochtöpfe und Nachttöpfe stehen da nebeneinander. Wer sich hineinbeugt, sieht die Mäuse zwischen den morschen Tisch- und Stuhlbeinen herumhuschen. Und nackte Kinder kreuz und quer übereinander auf dem Stroh liegen. Immer wieder klatscht der Inhalt eines Wassereimers den Spaziergängern vor die Füße, denn die Küchenabwässer werden einfach aus dem Fenster gekippt.

Als die beiden Wanderer gegen halb sechs wieder in die Mitte der Stadt zurückkehren, wo die Straßen verstopft sind von Kutschen und Fußgängern, Händlern und Huren, hat die Kur von Rétif bereits gewirkt. Am Pont Neuf strecken beide matt den Schuhputzern ihre verstaubten Schuhe entgegen. Wie zwei Patienten hängen sie da nebeneinander im Sessel, während von ihren Strümpfen und Schuhen der Staub weggebürstet wird. Rétif sieht den Freund von der Seite an. Er lächelt matt und schweigt.

Als würde hier jemand hingerichtet, geht es zu vor dem Palais Royal. Mit geröteten Wangen und glänzenden Augen drängen sich die Leute an diesem Schauplatz der Begehrlichkeit, der üblen Gerüchte und der anrüchigen Geschäfte. Rétif ist zu Hause in diesem Irrgarten, wo hübsche Körper so selbstverständlich verkauft werden wie Spitzenmanschetten. Mit Namen kennt er hier jeden Kaffeehausbesitzer, auch einige der Immobilienspekulanten und Spielhöllenbesitzer und mit Sicherheit die Hälfte der Freudenmädchen, denn bei ihnen allen sammelt er Stoff. Grimod kommt selten hierher, denn dieser Jahrmarkt der Lüste ist ihm unheimlich. Nicht nur, weil das Palais Royal eine Insel ist, auf der die Gesetze des Landes nicht gelten und nur einer zu erlauben und zu verbieten hat: der Herzog von OrIéans. Er hat dieses riesige Gelände zum Vergnügungszentrum ausgebaut. Es ist sein privater Grund , und seine Gründe, ihn so zu nutzen, kann jeder Taschendieb nachrechnen. Wirte und Schausteller, Makler und Trödler, Perückenmacher und Spitzenklöpplerinnen: alle zahlen sie ihre Miete für dichtgedrängte Läden, Cafés, Spelunken und Buden direkt an den Herzog. Keine hohen Mieten, dafür aber sind es hunderte. S. 179

Der gelbstichige Mann drückt den Gast auf einen der beiden grüngepolsterten Stühle mit steiler Lehne. Bis in die Nasenflügel ist sein Gesicht ausgedörrt, kein Lebenssaft scheint in ihm zu fließen. Diese Lippen, fragt sich Grimod, können sie jemals geküßt oder auch nur eine Auster geschlürft haben? Diese Augen, haben sie jemals vor Lust geleuchtet? Diese trockenen langen Finger, können sie jemals eine Frauenhaut streicheln?

Eine Frau kommt herein, rund und fast ohne Hals. In ihrem Gesicht, das wie aufgegangener, aber ungebackener Hefeteig aussieht, steht nichts als Einfalt. Sie setzt einen Krug mit Wasser auf dem Tisch ab, so nah an Grimod, daß er ihren Geruch nach scharfer Seife einatmet. "Meine Frau", sagt Lavater, sie beugt kurz den Kopf, ohne einen der beiden anzusehen, und tappt wieder zur Tür. "Eine sanfte Taube", seufzt Lavater. Und Grimod versucht sich zu erinnern, ob auch die Täubchen von Monsieur Aze in gerupftem rohen Zustand so wenig verlockend gewirkt haben. Während vor Alexandres Augen noch das Bild von Frau Lavaters formlosem Körper steht, sagt ihr Mann: "In jedem Umriß des menschlichen Körpers, überall finde ich die Hand Gottes und lese daraus ihre Weisheit." Der glühende Blick aus seinem dörren Gesicht trifft Alexandre unerwartet und so heftig, daß er zusammenzuckt. S. 218

Ist das erlaubt? Darf sich ein Mensch der Wirklichkeit entziehen? Kann einer wie Grimod es verantworten, daß er sich mit einem Wirt bekriegt über schlecht geöffnete Austern, während sein Land einem anderen den Krieg erklärt? Darf er, während dort, wo seine Freunde wohnen, Menschen abgeschlachtet werden, sich still seinem Lamm in Olivenkruste widmen? Darf er sich dem Genuß eines gefüllten Gänsehalses hingehen, während ein paar Wegstunden entfernt Landleuten die Hälse durchgeschnitten, die Geschlechtsorgane abgesäbelt und den Kötern zum Fraß vorgeworfen werden?

Ganz klar, wie die Antwort eines Moralisten lautet. Moralisten haben es ja einfach. Fragt sich nur, was einer antwortet, der den Moralisten mißtraut. Weil er erlebt hat, daß sie ihre Moral oft so schnell wechseln wie das Hemd.

Moralisten lassen sich keine Zeit. Menschen mit Geschmack dagegen immer. Denn Genuß macht langsam. S. 253

"Aber warum", fragt Grimod, "überwältigt uns ein Geruch heftiger als jeder Gedanke?"

"Wahrscheinlich, weil er schneller in die Seele gelangt. Die Gedanken, die müssen ja erst über all die Hindernisse, über Zäune und Mauern klettern, die wir aufgestellt haben im Kopf." Als Grimod im Bett eines der mitgebrachten Bücher aufschlägt, La Mettries Gedanken über "Die Kunst, Wollust zu empfinden", atmet er Modergeruch.

Dieses Parfum von alten Büchern, die Malesherbes in die Bibliothek des Schwagers hinein gerettet hat. Allein im Bett schnüffelt Grimod an dem Buch und lächelt es mit geschlossenen Augen an wie eine Geliebte. Dann zerrt er seine Prothesen herunter, greift sich mit den Stummeln das Buch und liest dort, wo es sich zufällig aufschlägt. "Gewisse Schwächen des Körpers stärken sogar die Wollust." Und einen Absatz weiter: "Wenn der Wollüstige einen Spaziergang macht, dann wählt er den schönsten Weg. Er freut sich über den Gesang der Vögel, das Plätschern der Bäche, das Rauschen des Frühlingswinds, am Duft der Blumen, an der herrlichen Landschaft."

Erlöst vom schlechten Gewissen, schläft Grimod ein. Das Buch in er rechten Klaue und in sich drin den Vorsatz, den schönsten Weg zu wählen. Solange ihm die Wahl noch bleibt. S. 261


Lesezitate nach Lea Singer - Die Zunge


© by Manuela Haselberger
rezensiert am 1.6.2000

Quelle: http://www.bookinist.de
layout © Thomas Haselberger