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Der Mann und die Frau erreichen unseren Tisch.

»Guten Abend«, sagen sie auf Englisch. »Dürfen wir uns zu Ihnen setzen?« Ich bücke mich zu meinem Sohn hinunter und wische ihm Bratensaft vom Kinn, in der Hoffnung, sie haben nicht mich angesprochen. Aber niemand antwortet. Nicht mein Mann, nicht unsere griechischen Freunde. Ihr Schweigen bestimmt mich dazu, zu antworten.

»Wir wollten gerade gehen«, sage ich.

Als hätten sie mich verstanden, packen die anderen ihre Sachen zusammen und machen meine Lüge wahr. Wir lassen das Paar, dort stehen. Die bouzouki heult hinter uns her, als wir in der Nähe eine tavema finden, wo wir trinken und tanzen können. Hier gibt es kein gebratenes Lamm und kein Stroh unter dem Tisch, nur Plastiklaternen über einer Terrasse, auf der sich junge Paare zu vertrauteren, moderneren Rhythmen winden. Mein Sohn schläft in Wassilis Armen.

Als Theodorakis zu singen beginnt, führt Demos mich auf die Tanzfläche.

»Ein großer Mann«, sagt er, die Lippen nahe an meinem Ohr. »Seine Texte, das sind die Gedichte von Ritsos.«

Demos ist betrunken, so wie ich. Er zieht mich zu sich. Ich spüre ihn, hart, an meinen Schenkel gedrückt. Erschreckt weiche ich zurück, gerade so viel, um die Grenzen des Erlaubten zu definieren. Er hat mein Interesse mißverstanden. Es ist nicht die Intimität eines Maimes, die ich suche, sondern die Seele eines Volkes.


Lesezitat nach Merilyn Simonds - Der Löwe im Zimmer nebenan, S. 142


Der Löwe im Zimmer nebenan
Merilyn Simonds - Der Löwe im Zimmer nebenan

Die kanadische Journalistin Merilyn Simonds wurde für ihre Arbeit mehrfach ausgezeichnet. Ihren Ruhm als Autorin begründete sie allerdings mit ihrer Autobiografie "Der Löwe im Zimmer" nebenan. Hier schlägt sie einen eigenwilligen, ungewöhnlichen Weg ein.

In elf Episoden schildert sie biografische Einschnitte, meist chronologisch geordnet, die ihren Lebensweg an exotischen Schauplätzen, wie Brasilien, Schweden, Kanada, Hawaii, bestimmt haben oder sie als Persönlichkeit auszeichnen. Ein kurzer Blick auf ihr Foto auf dem Buchumschlag zeigt, dass sie sich in all den Jahren zu einer sehr selbstbewussten, willensstarken Frau entwickelt hat.

Grob aufgeteilt sind es drei Abschnitte, in die sie ihr Leben splittet. Die Kindheit in Brasilien, ihr späteres Studium in Ontario stehen unter dem Stichwort Saudades (Sehnsüchte), die erst mit ihrer Hochzeit gestillt werden. Denn wie sagt ihre Mutter immer: "Alles wird gut, wenn du einen Mann hast."

Einige Jahre tingelt sie mit ihrem Ehemann, einem Bildhauer, der nur für seine Kunst lebt, in einem Bus durch Griechenland. Es ist eine unbeschwerte, glückliche Zeit. Nach der Geburt der beiden Söhne richten sie sich in Kanada ein, doch der Lack ist ab, ihre Ehe droht an Eifersucht, gegenseitigen Vorwürfen und Streitereien zu ersticken. Sehr klar und immer deutlicher empfindet sie: "Ich kann nicht überleben und gleichzeitig deine Ehefrau sein." Dieser Schmerz gibt dem zweiten Teil ihrer Geschichten die Überschrift Lipes (Leiden). Doch sie werden abgelöst von den Milagros (Wunder) im dritten Teil, den Reisen nach Mexiko und Hawaii und der tiefen Freundschaft zu einem neuen Mann.

"Der Löwe im Zimmer nebenan" ist keine Autobiografie im herkömmlichen Sinne.

Merilyn Simonds erzählt mit zarter, poetischer Sprache von den Highlights, aber auch von dramatischen Wendepunkten ihres Lebens, ohne in Larmoyanz zu verfallen. Sie bewahrt immer einen, für den Leser angenehmen, distanzierten Blick auf die Ereignisse.



Merilyn Simonds - Der Löwe im Zimmer nebenan
Übersetzt von: Elke Link
Originaltitel: © 1999 (Toronto), "The Lion in the Room Next Door"
2000, München, btb Verlag, 254 S., 18.45 € (HC)
2002, München, btb Verlag, 254 S.,  9.00 € /TB)

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Fortsetzung des Lesezitats ...

Die Tage sind kühl geworden. Mehr als ein Monat ist vergangen, seit wir in Rhodini angekommen sind. In einer Woche werden Wassili und Demos nach Athen zurückkehren, an die Universität. Mein Mann und ich sprechen darüber, wo wir als nächstes hinfahren. Eigentlich hatten wir den Winter in einem Kibbuz verbringen wollen, aber es gefällt uns hier. Wir denken, daß wir vielleicht bleiben. Xaralambos braucht Hilfe bei der Weinlese, und es sieht so aus, als könnte mein Mann etwas Geld verdienen, indem er seine Zeichnungen in den umliegenden Städten verkauft.

Doch nur Tage, nachdem wir diese Entscheidung getroffen haben, hören wir erschreckende Neuigkeiten von Touristen, die durch Rhodini fahren. Die Araber haben ein Embargo für Öl verhängt, so daß die Benzinpreise in die Höhe geschossen sind. Die Flüge sind doppelt so teuer geworden. Wirtschaftsexperten warnen vor einem weltweiten Kollaps, und ein Krieg mit dem Nahen Osten scheint so gut wie sicher bevorzustehen. Plötzlich bekommen wir Angst, auf dieser Reise in der Falle zu sitzen und gezwungen zu sein, uns hier anzusiedeln. Wir haben seit Monaten kaum an unsere Eltern, unsere Schwestern und Brüder in Kanada gedacht. Wir wissen nicht einmal genau, wo wir sind. Wir haben sorgfältig Abstand gewahrt, haben eifersüchtig über die Freiheit gewacht, die wir fern von denen gefunden hatten, die uns unser Leben lang schon kennen. Aber diese Geschichten ändern alles. Wenn uns Armageddon bevorsteht, dann wollen wir bei unseren Familien sein. Wir beschließen, daß es an der Zeit ist, aufzubrechen.

Wir bereiten den Bus für die Fahrt vor, gehen zum letzten Mal den Strand entlang und hinauf in die Hügel, verabschieden uns von den Ladenbesitzern, die wir jeden Tag besucht haben, um Brot, Fleisch und Milch zu kaufen. An unserem letzten Abend auf dem Peloponnes kommt Andrea an unseren Strand. Sie ist zum ersten Mal allein. Wir haben ein kleines Feuer am Strand angezündet. Sie sitzt mit uns unter dem Vollmond, der einen Weg über das Wasser leuchtet.

Andrea reicht mir einen Zettel, auf den sie ihren Namen und ihre Adresse geschrieben hat. Sie bedeutet mir, das gleiche zu tun.
Lesezitate nach Merilyn Simonds - Der Löwe im Zimmer nebenan, S.143


© by Manuela Haselberger
rezensiert am 9.3.2000

Quelle: http://www.bookinist.de
layout © Thomas Haselberger

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