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Der sommerliche Morgen entfaltete die Geräusche und Gerüche im Dorf Tunbaki. Ein Hahn rief aufgeregt am Straßenrand die Hühner zu sich, er war wohl auf ein Paar Körner gestoßen. Als auch ein Rivale die Straße, den Hühnern folgend, überqueren wollte, plusterte sich der Hahn auf, breitete seine Flügel drohend aus und machte nur ein paar Schritte auf den schmächtigen Nebenbuhler zu. Das genügte, um ihn in die Flucht zu schlagen. Vom leichten Sieg beglückt, stolzierte der Hahn am Asphalt der Landstraße entlang, die ins Dorf führt, und krähte.

Über Tunbaki ist die Luft an solchen Tagen vom würzgen Duft der Tabakblätter erfüllt, die überall zum Trocknen hängen. Denn das Siebenhundertseelen-Dorf lebt seit Jahrhunderten vom Tabakanbau.

Doch die Zeiten sind schlechter geworden. Vom Tabak allein kann keiner mehr existieren. Fast jede Familie hat einen Sohn, der am Golf arbeitet und Geld nach Hause schickt. Man merkt das bereits, wenn man nach Tunbaki hineinfährt. Alle Häuser, die von den Emigranten bezahlt werden, sind eine Art Dauerbaustelle: halb fertige Stockwerke, mit Bauholz verschalte Pfeiler, rohe Betondecken. S. 7


Lesezitat nach Rafik Schami - Die Sehnsucht der Schwalbe


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Die Sehnsucht der Schwalbe
Rafik Schami - Die Sehnsucht der Schwalbe

Der syrische Junge Lutfi hat eigentlich überhaupt keine Lust zum großen Hochzeitsfest der Familie Hasbani zu fahren. Denn wenn eine arabische Hochzeit gefeiert wird, dann dauert dies mindestens sieben Tage und in dem kleinen Dörfchen Tunbaki ist das selbstverständlich. Lutfi zählt die Stunden, bis er wieder zurück nach Damaskus und dann gleich weiter nach Deutschland reisen kann.

Nur seiner über alles geschätzten Hebamme Nadime zuliebe, nimmt er die strapaziöse Angelegenheit auf sich. Sie hat ihn darum gebeten, die Feier ihres Cousins zu besuchen, da sie selbst zu krank ist, um zu kommen. "Früher, als sie noch viel getrunken hat, konnte sie durch den Zeitschleier sehen und Ereignisse schildern, die noch in der Zukunft lagen. Und oft, sehr oft trat alles genau so ein, wie sie es vorausgesagt hatte. Heute passt sie wegen einer schweren Herzkrankheit mehr auf ihre Gesundheit auf und trinkt kaum noch was, aber deshalb irrt sie sich nun sogar schon in der Prophezeiung über ein Hochzeitsfest."

Doch geirrt hat sich Nadime nicht. Lutfi findet in Barakat, dem älteren Bruder der Braut, einen interessierten Zuhörer für seine Geschichten. Ihm schüttet er sein Herz aus. Seine Sehnsucht nach Molly, seiner Freundin, die in Frankfurt auf ihn wartet und Micha, seinem besten Freund.

Es ist der Ton des orientalischen Märchenerzählers, den Rafik Schami so exzellent beherrscht und der seine Bücher mit dem Duft aus Tausendundeiner Nacht durchzieht. Das macht ihm keiner nach. Und die wunderschönen Illustrationen seiner Lebensgefährtin Root Leeb, die seine Geschichten schmücken, (allein das Buchcover spricht für sich) sind ein richtiger Augenschmaus. Wer Märchen liebt, mit einer guten Prise Realität, der wird Rafik Schami vergöttern.
Lesealter ab 12 Jahren



Rafik Schami - Die Sehnsucht der Schwalbe
Illustrationen von Root Leeb
© 2000, München, Hanser-Verlag, 337 S., 19.90 € (HC)
© 2002, München, dtv, 335 S., 9.50 € (TB)

          gebunden (HC)
          broschiert (TB)

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Fortsetzung der Lesezitate ...

Kurz vor elf Uhr fuhr der Bus aus Dammkus unter fürchterlichem Gehupe in Tunbaki ein. Der Fahrer steuerte direkt auf das Haus der Hasbanis zu und hielt unmittelbar vor dem Eingang, als wolle er seinen Fahrgästen, die fast alle zur Hochzeit wollten, jede Mühe abnehmen nach der wilden Fahrt über die Autobahn und danach die halsbrecherischen Serpentinen hinauf bis zum Dorf.

Lutfi stieg wie benommen aus und verfluchte in seinem Herzen den Fahrer, der ihm dreihundert Kilometer lang gezeigt hatte, was man beim Fahren alles falsch machen kann. S. 11

"Wie ist es dir im Ausland ergangen? Wie kommt man da zurecht?", fragte Barakat plötzlich leise. "Mein Leben in Deutschland", antwortete Lutfi, "ist ein einziges Abenteuer und über vieles davon könnte ich nicht einmal mit meiner Mutter sprechen. Nadime, Molly und Micha, meinem Freund, erzähle ich alles, sonst niemandem. Doch die kluge Hebamme Nadime hatte Recht, als sie mir einmal sagte, man könne wichtige Dinge nur entweder einem absolut zuverlässigen Freund oder einem absolut Fremden, aber sympathischen Menschen anvertrauen. Du bist dieser Fremde, dem ich alles von mir erzählen will." S. 18

Ich lebe nun schon seit drei Jahren in Frankfurt. Illegal, aber ganz vergnügt. Ich wurde zwar immer wieder erwischt und abgeschoben. Aber jedes Mal war ich entschlossen, von neuem dorthin zurückzukehren, wo mein Herz sich am wohlsten fühlt. Und das ist nicht in einem beliebigen Land od er auch nicht irgendeiner Stadt, sondern an einem einzigen Ort auf der Welt: auf dem Flohmarkt in Frankfurt, Babylon, wie ihn meine Freundin Molly nennt.

Sechs, sieben oder zehn Mal wurde ich schon verhaftet und abgeschoben. Ich habe aufgehört nachzuzählen. Aber immer wieder bin ich nach Deutschland zurückgekehrt, denn ich bin eine Schwalbe.

Ein Polizist namens Jens Schleuder hatte sich meine Verfolgung zur Lebensaufgabe gemacht und leider war er nicht der Dümmste. Viele Male hat er mich geschnappt und jedes Mal habe ich ihm gesagt: "Hören Sie auf, mich zu jagen. Ich bin eine Schwalbe und komme immer wieder zurück." Er lachte nur und fragte: "Wann kommen Sie? Nur, damit ich Ihnen rechtzeitig den roten Teppich ausrollen kann." Ich antwortete: "Ich komme wie die Schwalben, wenn es in ihren Herzen Frühling wird." Und so komisch es klingt, wir lachten, beim ersten wie beim letzten Mal. S. 22

Onkel Malik, der Bruder meines Vaters, war bereits über fünfzig und hatte bisher sein Leben damit verbracht, Schätze zu suchen, doch außer Kleinigkeiten hatte er nichts gefunden. Er war seit dem Bankrott seines Vaters mittellos, seine Frau musste in einer Fabrik arbeiten, aber er war sich immer sicher, dass er eines Tages etwas ganz Großartiges finden würde. Und tatsächlich: Vor etwa drei Jahren geschah es. Mein Onkel Malik stieß in der Nähe eines Flusses im Norden auf eine Höhle und fand darin drei kleine Krüge mit seltenen Münzen aus verschiedenen Zeiten arabischer Herrschaft.

Nach all den Jahren, die Onkel Malik in der Familie, ja im ganzen Viertel für verrückt gehalten wurde, wäre mit diesem Fund eigentlich seine große Stunde gekommen gewesen. Aber zu seinem Pech konnte er mit ihr kein bisschen protzen und sagen: "Seht her, ihr Dummköpfe, ihr habt mich ausgelacht, weil ich immer auf der Suche nach dem Geheimnis der Erde war, und nun hat sie meine Geduld mit diesen drei Krügen belohnt."

Nein, jetzt galt es, die Münzen vorsichtig und heimlich ins Ausland zu bringen, um sie zu Geld zu machen. Denn hätte einer der Nachbarn von den Münzen erfahren, wäre es schnell öffentlich gewesen und mein Onkel so lange gefoltert worden, bis er seinen Fund ausgespuckt hätte. S. 67

Das Visum für einen dreimonatigen Aufenthalt In Deutschland war im Pass eingetragen. Ich war so aufgeregt, dass ich keine Angst mehr fühlte.

Am Vorabend meiner Abreise kam dann Onkel Malik mit den Münzen. Wir hatten meine Reise so weit wie möglich geheim gehalten. Nur die Nachbarin Samiha, eine Vertraute meiner Mutter, war eingeweiht worden. S. 79

Am nächsten Morgen fuhr ich mit Onkel Malik und meiner Mutter in einem Taxi zum Flughafen. Alles war so aufregend fremd für mich, dass ich auch jetzt keine Zeit hatte Angst zu bekommen. S. 79

Am Flughafen war der Teufel los. Großes Durcheinander herrschte, weil gerade irgendeine wichtige ausländische Delegation angekommen und das gesamte Polizeiaufgebot am Flughafen mit ihrer Sicherheit beschäftigt war. Die Fluggesellschaften waren in heller Aufregung, weil alle Flüge Verspätung hatten. Eine derartige Ansammlung hektischer Menschen habe ich selten gesehen. Irgendwann drehte einer der Beamten durch - oder hatte den genialen Einfall, um Herr der Lage zu werden - und öffnete alle Türen. Die Menschen rannten wild hin und her und ich hatte Mühe, meinen Weg zum Flugzeug nach Frankfurt zu finden. Heute weiß ich, dass ich an jenem Tag genauso gut hätte nach Indonesien fliegen können. Bald saß ich aber In der richtigen Maschine, hatte mir einen Fensterplatz ergattert und beobachtete, wie unter mir die Welt immer kleiner und friedlicher wurde. Es war ein sonniger Februartag mit klarem Himmel.

Neben mir saß eine Syrerin, die mir erzählte, dass sie jedes Jahr einmal nach Deutschland fliege, für einen Monat ihren Mann besuche, schwanger werde und nach Damaskus zurückkehre.

"Und wie oft warst du schon bei deinem Mann?", fragte ich sie.

"Acht Kinder habe ich" gab sie mir zur Antwort und lachte.

Du kennst das Gefühl, im Flugzeug zu sitzen, nicht, du bist ja noch nie geflogen. Das erste Mal war für mich am schönsten, danach verlor das Fliegen mit jedem Mal mehr seinen Reiz und heute kommt mir ein Flugzeug nicht anders vor als ein riesiger Bus. Trotzdem verlässt mich nie das Gefühl, dass mein Leben da oben im Ernstfall von einer einzigen Schraube abhängt. S. 80

An jenem Abend, als Lutfi seine Geschichte kurz vor dem entscheidenden Treffen mit dem Münzhändler unterbrach, um wieder einmal zu der Hochzeitsfeier zu gehen, war Barakat voller Unruhe. Er sah, dass Lutfi da war und fröhlich mit den Gästen scherzte, und trotzdem fühlte er sich bedrückt, ob denn Lutfi wirklich Glück bei seinem Abenteuer mit den Münzen gehabt haben mochte. S. 90

Meine erste Nacht in Deutschland werde ich nie vergessen. Ich konnte trotz meiner Müdigkeit kaum schlafen. Ich war aufgeregt vor Freude und zugleich erschüttert, weil ich die vielen Kontrollen so ahnungslos überwunden hatte. Mit einem Mal schnürte mir ein abgrundtiefes Entsetzen die Kehle zu. Mein Herz raste. Ich zitterte am ganzen Leib. Nach einer Weile versuchte ich, mir selbst wieder Mut zuzusprechen. Ich dachte an meine Mutter, an Nadime und an meinen Onkel Malik. Ich wusste, dass auch sie jetzt im fernen Damaskus vor Aufregung wach lagen. S. 92

Es ging doch nur um die Übergabe der bestellten Münzen. Mein Onkel hatte mir ja von dem Händler erzählt. Er sei Mitte fünfzig, etwas untersetzt, sehr reich und besitze eine der größten Münzsammlungen der Welt. S. 93

"In Frankfurt, wo er für eine Woche wohnt", antwortete Ella kalt und legte die Hüllen auf einen Tisch. Der Mann warf einen kurzen Blick darauf, nahm sie schließlich zögernd in die Hand, um so zu tun, als wollte er sie prüfen. "Es sind Exemplare aus drei Jahrhunderten und wie bestellt tausend Stück." "Ich habe gar nichts bestellt", erwiderte der Mann erschrocken. "Ich habe nur gesagt, wenn er die Münzen bringt und sie mir ein halbes Jahr lässt, kann ich sie nach und nach verkaufen und ihm dann das Geld schicken." "Aber Sie haben doch in Damaskus dem Onkel dieses jungen Mannes gesagt, Sie wären ein bedeutender Münzhändler und hätten reiche Kunden an der Hand, die sich für orientalische Münzen interessieren. Stimmt das oder nicht?" Ellas Stimme war nun spröde wie die einer Staatsanwältin. Der Mann gab keine klare Antwort, sondern jammerte weiter herum. Er sei nur ein unbedeutender, kleiner Händler, der von Flohmarkt zu Flohmarkt wandere und damit mühselig sein Brot verdiene. Ich könne ihm aber die Münzen überlassen, er sei ein ehrlicher, zuverlässiger Mensch. S. 95

Genau sechs Wochen nach meiner ersten Abschiebung landete ich von neuem in Frankfurt, diesmal als Student, und hatte eine provisorische Aufenthaltserlaubnis von drei Monaten. S. 240 Die zweite Abschiebehaft fiel mir besonders schwer. Molly ließ sich nicht blicken. Nur Butros und Bulos besuchten mich zweimal. S. 295


Lesezitate nach Rafik Schami - Die Sehnsucht der Schwalbe


2 MCs


Die Farbe der Worte
2 CDs


Die Farbe der Worte
A u d i o b o o k

1 MC

Der Kameltreiber von Heidelberg


© by Manuela Haselberger
rezensiert am 1.8.2000

Quelle: http://www.bookinist.de
layout © Thomas Haselberger