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Das Mädchen mit der Eidechse

Das Bild zeigte ein Mädchen mir einer Eidechse. Sie sahen einander an und sahen einander nicht an, das Mädchen die Eidechse mit verträumtem Blick, die Eidechse das Mädchen mit blicklosem, glänzenden Auge. Weil das Mädchen mit seinen Gedanken anderswo war, hielt es so still, daß auch die Eidechse auf dem moosbewachsenen Felsbrocken, an dem das Mädchen bäuchlings halb lehnte und halb lag, innegehalten harte. Die Eidechse hob den Kopf und züngelte.

"Judenmädchen", sagte die Mutter des Jungen, wenn sie von dem Mädchen auf dem Bild sprach. Wenn die Eltern stritten und er Vater aufstand und sich in sein Arbeitszinmer zurückzog wo das Bild hing, rief sie ihm nach: "Geh doch zu deinem Judenmädchen!" (S. 7)


Lesezitat nach Bernhard Schlink - Liebesfluchten, S. 7


Liebesfluchten
Bernhard Schlink - Liebesfluchten

Nach seinem internationalen Erfolg mit "Der Vorleser", legt Bernhard Schlink sieben Erzählungen mit dem Titel "Liebesfluchten" vor. Ganz genau lässt sich bei diesem doppeldeutigen Titel nicht sagen, ob seine Protagonisten vor der Liebe fliehen oder in der Liebe Zuflucht suchen.

Die schönste Geschichte ist leicht ausgemacht. Es ist zweifellos "Der Andere" und vermutlich wird es nicht lange dauern, bis sie in den Schullesebüchern zu finden ist.

Wenige Monate nach der Pensionierung ihres Mannes stirbt Lisa an Brustkrebs. Ihm, Brenner, der sie während ihrer Krankheit liebevoll gepflegt hat, fehlt es nach ihrem Tod an der Orientierung. "Manchmal war ihm, als sei er aus seinem Leben gefallen, falle immer noch, werde aber bald unten anlangen und könne unten wieder von vorne anfangen, ganz klein, aber von vorne."

Er schwelgt in Erinnerungen an die gemeinsamen vergangenen Jahre, bis eines Tages Liebesbriefe von Rolf, der nichts von Lisas Tod weiß, im Briefkasten liegen. Von Rolf hat er nie gewusst, doch die beiden müssen über lange Zeit eine Affäre miteinander gehabt haben. Kann ihm dies entgangen sein? Brenner beginnt Rolf zu beobachten. Ist es möglich, dass dieser Aufschneider seine Frau geliebt hat?

Schlinks Erzählungen, die in ihrer Qualität alle überzeugen, sind sehr genau geplant, dem Zufall gibt er keine Chance. Dabei unterhält der gelernte Jurist seine Leser auf bestem Niveau. Der Vorwurf Elke Heidenreichs, es handle sich hier um blutarme Prosa, ist keineswegs gerechtfertigt.



Bernhard Schlink - Liebesfluchten
2000, Zürich, Diogenes, 308 S.

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Fortsetzung des Lesezitats ...

Die Beschneidung

So schnitt er seine Liebe immer kleiner zu. Über die Familien zu reden war heikel, über Deutschland, über Israel, über die Deutschen und die Juden, über seine Arbeit und ihre, von der das Gespräch leicht wieder auf seine kam. Er gewöhnte sich an, was er sagen wollte, zu zensieren, diesen und jenen kritischen Eindruck vom Leben in New York lieber zu verschweigen und lieber nicht zu erwähnen, wenn er Äußerungen ihrer Freunde über Deutschland und Europa falsch und anmaßend fand. Es gab genug anderes zu reden, und es gab die Vertrautheit der gemeinsamen Wochenenden und die Leidenschaft der gemeinsamen Nächte.

Er gewöhnte sich an die eigene Zensur so, daß er sie nicht mehr wahrnahm. Er genoß, daß das Zusammensein immer leichter und schöner wurde. Er freute sich über die Verlängerung seines Stipendiums und Aufenthalts. Im letzten Herbst und Winter war er, neu in der Stadt, oft einsam gewesen. Der kommende Herbst und Winter würde glücklich werden.
Lesezitat nach Bernhard Schlink - Liebesfluchten, S238



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© by Manuela Haselberger
rezensiert am 4.2.2000

Quelle: http://www.bookinist.de
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