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Was uns an den Menschen aus den westlich-zivilisierten Ländern so unangenehm auffällt, ist der Ich-Kult. Das Ich wird bei ihnen stark aufgespielt, während dieses Ich für uns zunächst von geringer Bedeutung ist. Dafür sprechen wir immer und überall, wo wir sind, von wir. Das hat mit dem kollektiven Denken des Sozialismus nichts zu tun. Das nomadisch-tuwinische Wir hat einen anderen Ursprung, speist sich aus einer anderen Quelle. Das kommt vermutlich, so sage ich zunächst einmal, von unserem harten Lehen. Wir sind auf die Natur angewiesen. Das erste. was der Nomade Tag für Tag machen muß, er muß ständig auf den Himmel schauen, ob es nun Sommer, Winter, Tag oder Nacht; bei jeder Gelegenheit, wenn er aus der Jurte heraustritt, gilt sein Blick dem Himmel, den Horizonten. Er hat noch die Fähigkeit, am Himmel, an der Erde oder an den Horizonten abzulesen, was demnächst, in den nächsten Stunden geschehen wird. Die Witterungsbedingungen in der Steppe sind so hart, ständig mußt du auf der Hut sein. Und einen Kampf kann man allein schlecht bestehen, da braucht man den Nachbarn, seinen Nächsten. Der Mann braucht die Frau, die Frau braucht den Mann. Mann und Frau gemeinsam brauchen die Kinder, und die Kinder brauchen alle, einerlei ob die Menschen mit ihnen verwandt sind oder nicht. Das ist Grundvoraussetzung des nomadischen Lebens überhaupt: Jeder Mensch braucht jeden zu jeder Zeit des Tages.


Zitat aus Amélie Schenk und Galsan Tschinag - Im Land der zornigen Winde, S.93


Ein Nomade erzählt ...
Amélie Schenk, Galsan Tschinag - Im Land der zornigen Winde

Galsan Tschninags Heimat liegt in der Mongolei, bei einem der neun Nomadenstämme, den Tuwas. Er hat viele Jahre in Deutschland gelebt, wurde hier ausgebildet und ist bei uns durch seine auf deutsch geschriebenen Romane "Der blaue Himmel" und "Die graue Erde" bekannt geworden. Spektakulär war, wie er im Jahre 1995, als Stammesoberhaupt, die Tuwas, die unter Zwang umgesiedelt worden waren, zweitausend Kilometer durch die Steppe ins Stammland zurückgeführt hat.

Sein persönlichstes Buch ist sicherlich "Im Land der zornigen Winde", das er zusammen mit der Konstanzer Ethnologin Amélie Schenk geschrieben hat. Beide Autoren haben jeweils in der Heimat des anderen gelebt, sind Grenzgänger und können zumindest ansatzweise das völlig andere Denken des Partners verstehen.

"Der erste Eindruck, den man als Außenstehender, aus Europa kommend von den Nomaden bekommt, trügt. Denn der Fremde schaut ja auf die anderen nur von seinem eigenen Standpunkt aus. Und dann verfährt er mit anderen Völkern nur nach eigenen Maßstäben und mißt auch die Menschen an sich selbst."

Tschinag, der bei seinem Stamm die Stellung eines Schamanen innehat, wobei die dichterische Inspiration der schamanischen sehr ähnlich ist, erzählt über seine Kindheit und Jugend bei den Tuwas. Wie er es genossen hat mit seiner Familie als Nomade unterwegs zu sein, ein karges, aber damals nie armes Leben. "In meiner runden Kultur lebend, hatte ich gedacht, das wäre keine Kultur. Habe immer angenommen, Kultur würde dort anfangen, wo ein Klavier steht." Von der ungeheuren Vielfalt und dem Reichtum der Alltagskultur der Tuwas, davon berichtet Tschinag. Die enge Beziehung zur Natur, der völlig andere Zeitbegriff, die Rolle der Familie und vor allem die der Kinder, darin unterscheiden sich die Nomaden stark von den Europäern.

Amélie Schenk und Galsan Tschinag haben zusammen den ersten Schritt getan, damit die untergehende nomadische Kultur nicht in Vergessenheit gerät und eine fruchtbare Wanderung zwischen Ost und West begonnen.



Amélie Schenk, Galsan Tschinag - Im Land der zornigen Winde
Original: © 1997,
1999, Zürich, Unionsverlag, 238 S., 9.90 €

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Galsang Tschinag
Geislingen, 16.12.2003




© by Manuela Haselberger
rezensiert am 1999-12-12

Quelle: http://www.bookinist.de
layout © Thomas Haselberger

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