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Er ist oben in der Galerie und hört den Amseln zu.
Carlos Sousa, der Journalist, sagte danke, als sie ihn mit einem Lächeln zum eintreten aufforderte. Ja, danke, dachte er, während er die Treppe hinaufstieg, an der Tür jedes Hauses sollte es zwei Augen wie diese geben.
In einem Korbsessel sitzend, neben einem Tisch mit Kohlebecken, die Hand im offenen Buch, als kreisten seine Gedanken um eine glänzende Seite, schaute Doktor Da Barca in den Garten hinaus, eingehüllt in eine Aureole winterlichen Lichts. Das Bild wäre friedlich, würde er nicht durch die Sauerstoffmaske atmen. Der Schlauch, der ihn mit der Sauerstoffflasche verband, hing über den weißen Blüten der Azaleen. In Sousas Augen war die Szene von einer beunruhigenden und komischen Melancholie.


Lesezitat nach Manuel Rivas - Der Bleistift des Zimmermanns


Der Bleistift des Zimmermanns
Manuel Rivas - Der Bleistift des Zimmermanns

Der alte Herbal, heute Türsteher in einem heruntergekommenen Nachtklub in der spanischen Provinz, erinnert sich an die Zeit des spanischen Bürgerkriegs, als er, als Gendarm und Gefängnisaufseher arbeitete. Der jungen Prostituierten Maria erzählt er an einsamen Abenden von diesen Jahren. Die Männer, die er bewacht und belauscht hat, haben ihn ein Leben lang in seinen Gedanken verfolgt. Ganz besonders der Maler und Dr. Da Barca.

Der ständige Begleiter des Malers, "der die unsichtbaren Wunden der Existenz" auf dem Papier festhalten will, ist der dicke runde Bleistift eines Zimmermanns, den er immer hinter dem Ohr trägt. Mit ihm zeichnet er pausenlos seine Mithäftlinge in dem kleinen galizischen Gefängnis. 1936, während des spanischen Bürgerkriegs gibt es eine ganze Menge davon: den jungen Dombodan, den sie alle für etwas zurückgeblieben halten oder Casal, den ehrenwerten republikanischen Bürgermeister und den freundlichen, hilfsbereiten Dr. Da Barca, der immer zu einem Scherz aufgelegt ist.

Herbal gehört zu den willigen Vollstrecker der Falangisten. Doch als er erfährt, dass die Hinrichtungskommandos den Maler abholen wollen, kommt er ihnen aus Mitleid zuvor. Er möchte verhindern, dass sie ihn foltern und zu Tode quälen. Kurz bevor Herbal den Maler mit einem Kopfschuss erschießt, schenkt ihm dieser seinen Bleistift. Nun trägt ihn Herbal hinter dem Ohr, zur Erinnerung an einen, den er getötet hat. Häufig hört er Jahre später immer noch die Stimme des Malers, die ihm in schwierigen Lebenslagen Ratschläge gibt.

Eine Art Hassliebe verbindet Herbal mit Dr. Da Barca, der zweimal zum Tode verurteilt wird und jedes Mal dem Tod ein Schnippchen schlägt - mit Hilfe Herbals. "Ich war ein Aufpasser, der nicht aufpasste. ...Ganz Spanien war ein Gefängnis."

"Der Bleistift des Zimmermanns" ist ein ungeheuer dichter und vielschichtiger Roman auf weniger als 200 Seiten, der neben den Schrecken des Bürgerkriegs auch eine ergreifende Liebesgeschichte erzählt. Und das in einer Sprache, die von der ersten Seite an den Leser gefangen nimmt und mit ihrer Poesie bezaubert.



Manuel Rivas - Der Bleistift des Zimmermanns
Übersetzt von Elke Wehr
Originaltitel: O lapis do carpinteiro, © 1998
2000, Frankfurt, Suhrkamp Verlag, 169 S.,

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© by Manuela Haselberger
rezensiert am 16.02.2000

Quelle: http://www.bookinist.de
layout © Thomas Haselberger