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In Boleks Häuschen gab es zwar elektrisches Licht, aber es wurde in dem ganzen Vorort oft abgeschaltet. Man war dann auf Petroleum- oder Karbidlampen angewiesen, von denen man nur Gebrauch machte, wenn es für die Arbeit, also für das Herstellen von Zigaretten, benötigt wurde. So schlecht diese Beleuchtung auch war, billig war sie keineswegs. Also saß man im Dunkeln und unterhielt sich über alle möglichen Dinge, stets lauschend, ob sich nicht jemand dem Haus nähere.
Eines Tages kam Boleks Frau auf die Idee, ich solle mal was erzählen, am besten eine spannende Geschichte. Von diesem Tag an erzählte ich täglich, sobald es dunkel geworden war, dem Bolek und seiner Genia allerlei Geschichten - stundenlang, wochenlang, monatelang. Sie hatten nur einen einzigen Zweck: die beiden zu unterhalten. Je besser ihnen eine Geschichte gefiel, desto besser wurden wir belohnt: mit einem Stück Brot, mit einigen Mohrrüben. Ich habe keine Geschichten erfunden, keine einzige. Vielmehr erzählte ich, woran ich mich erinnern konnte: In der düsteren, kümmerlichen Küche bot ich meinen dankbaren Zuhörern schamlos verballhornte und auf simple Spannung reduzierte Kurzfassungen von Romanen und Novelle Dramen und Opern, auch von Filmen. Ich erzählte den »Werther«, »Wilhelm Tell« und den »Zerbrochnen Kruig«, »lmmensee« und den »Schimmelreiter«, »Effi Briest« und »Frau Jenny Treibel«, »Aida«, »Traviata« und »Rigoletto«. Mein Vorrat an Themen und Geschichten war, wie sich erwies, enorm, er reichte für viele, viele Winterabende. (S.286) »........... weiter....


Lesezitat nach Marcel Reich-Ranicki - Mein Leben


Mein Leben
Marcel Reich-Ranicki - Mein Leben

Als "Literaturpapst" hat er sich einen Namen gemacht und als temperamentvoller Leiter des "Literarischen Quartetts" beeinflusst er bis heute mit seiner nicht immer von den Autoren geschätzten Meinung, die Diskussion der aktuellen Neuerscheinungen auf dem Buchmarkt.

Sehr ausführlich und überaus informativ hat er in seinem Buch "Mein Leben", das als Biografie 1999 die Bestseller- Listen stürmte, über sein Leben berichtet.

Er, der in einem Bonmot von sich behauptet "ein halber Pole, ein halber Deutscher und ein ganzer Jude" zu sein. schreibt nun selbst über die wichtigsten Stationen seines Daseins.

Die Schule besuchte Marcel Reich-Ranicki, der 1920 geboren wurde, in Berlin. Und seinen hervorragenden Lehrern hat er zu verdanken, dass sie ihm seine Liebe zur klassischen, deutschen Literatur nicht austrieben, sondern sie förderten; auch wenn der Lehrkörper des Fichte-Gymnasiums nicht gerade aus Gegnern der Nationalsozialisten bestand - ganz im Gegenteil. So nimmt die lebenslange Besessenheit von den Büchern und dem Theater, nicht zu vergessen der Musik, ihren Lauf. Mit ihnen allen hat Reich-Ranicki eine bis heute andauernde, heftige Liebesaffäre.

Im Jahre 1938 wird er, da er polnischer Jude ist, nach Warschau deportiert und die Zeit im Getto beschreibt er überaus detailliert und eindrücklich. Dort trifft er unter tragischen Umständen seine zukünftige Frau Teofila. Ohne es genau zu wissen erzwingen es die Umstände, dass er sich von seinen Eltern, die nach Treblinka deportiert werden, für immer zu verabschieden hat. Er selbst überlebte das Getto nur deswegen, weil ihn der Pole Bolek bei sich daheim unter eigener Lebensgefahr versteckt hatte - ein Motiv für Boleks gefährliche Hilfe war sicher auch die enorme Erzählkunst des jungen Reich, der Abend für Abend mit einem neuen Beweis seiner Literaturkenntnisse brillierte und so die lange Zeit überbrückte. Auch diese Fähigkeit und Memorierkunst war etwas, was ihm die Nazis nicht mehr nehmen konnten.


Marcel Reich-Ranicki - Mein Leben
© 1999, Suttgart, DVA, 565 S., 25 € (HC)
© 2001, Frankfurt, DVA, 565 S., 11.50 € (TB>

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M. Reich-Ranicki:


Mein Leben
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Fortsetzung des Lesezitats ...

Ich konnte mich davon überzeugen, welche literarischen Figuren und welche Motive auf einfache Menschen wirkten. Bolek und Genia war es ganz gleichgültig, von wem Geschichte über den alten König stammte, der sein Reich unter drei Töchtern aufzuteilen gedachte. Den Namen Shakespeare hatten sie nie gehört. Aber mit dem König Lear hatten sie Mitleid. Bolek dachte, wie er mir nachher verriet, an sich und seine Kinder - obwohl er buchstäblich nichts zu vererben hatte. Die Überlegungen und Konflikte Hamlets waren ihm hingegen fremd.
Aber »Kabale und Liebe« hat ihn ernsthaft aufgeregt:
»Weißt du, ich habe diesen Wurm gekannt, genau so einer hat in unserer Druckerei gearbeitet.« Zu meiner Verblüffung hat auf ihn den größten Eindruck ein ganz anderes Drama gemacht - wohl auch deshalb, weil ich es mit besonderem Engagement und vielleicht besonders anschaulich erzählt habe. Als ich fertig war, äußerte er sich klar und entschieden:
»Der Teufel soll die Deutschen holen, alle zusammen. aber dieser Herr Hamburg, der gefällt mir. Er hat Schiß vor dem Tod - wie wir alle. Er will leben. Er pfeift auf Ruhm und Ehre. Ja, das gefällt mir. Ich sage es dir: Dieser Deutsche, der Teufel soll sie alle holen, ist der Mutigste von allen. Er hat Angst, aber er schämt sich nicht, er redet offen von seiner Angst. Solche, die leben wollen, die lassen auch andere leben. Ich glaube, dieser Herr Hamburg trinkt gern ein Gläschen Wodka und er gönnt auch anderen ein Gläschen. Schade, daß er nicht jetzt der Kommandant von Warschau ist. Dieser Deutsche, der Teufel soll sie alle holen, würde niemanden hinrichten lassen. Komm, trinken wir auf die Gesundheit des deutschen Herrn Hamburg.«

Er schenkte ein: je ein Gläschen Wodka, ausnahmsweise auch für Tosia und für mich. Jedes Mal, wenn ich am Kleinen Wannsee bin, denke ich an Bolek, der die Deutschen zu allen Teufeln wünschte und der auf das Wohl des Prinzen Friedrich von Homburg trank. Ich verneige mich im Geist vor dem preußischen Dichter, der hier sein Leben beendete, und vor dem Warschauer Setzer, der sein Leben aufs Spiel setzte, um das meinige zu retten. (S. 286-287)
Lesezitat nach Marcel Reich-Ranicki - Mein Leben


© by Manuela Haselberger

Quelle: http://www.bookinist.de
layout © Thomas Haselberger

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