Es gibt Bildnisse in Stein gemeißelt oder auf Stein gemalt - ein Blick auf ein Dorf von einem nahe gelegenen Berg herab, eine einzelne Linie, die des Rückens einer Frau, die sich über ein Kind beugt -, die Sarath' Wahrnehmung seiner Welt verändert haben. Vor Jahren betraten er und Palipana unbekannte Felsfinsternisse, entzündeten ein Streichholz und sahen Farbspuren. Sie gingen nach draußen, schnitten Rhododendronzweige ab, kehrten zurück und zündeten sie an, um die Höhle zu beleuchten; der Rauch des frischen Holzes war stechend und vernebelte das Licht der Flammen mit Qualm.
Dies waren Entdeckungen, die in den schlimmsten politischen Zeiten gemacht wurden, während Tausende schmutziger kleiner Verbrechen aus rassistischen oder politischen Motiven begangen wurden, aus Bandenwahnsinn oder Geldgier. Der Krieg hatte sich eingefressen wie Gift in einen Kreislauf und ließ sich nicht herausschwemmen.
Diese Höhlenbilder, durch Qualm und Feuer hindurch erblickt. Die nächtlichen Verhöre, die Gefangenenwagen, die bei Tag willkürlich Bürger einsammelten. Der Mann, der vor Sarath' Augen auf einem Fahrrad fortgebracht worden war. Massenhaftes Verschwinden in Suriyakanda, Berichte von !Massengräbern in Ankumbura, von Massengräbern in Akeemana. Die halbe Welt, so schien es, wurde begraben, und die Wahrheit versteckte sich hinter der Angst, während die Vergangenheit im Licht eines brennenden Rhododendronbuschs sichtbar wurde.
Anil konnte dieses alte, akzeptierte Gleichgewicht nicht verstehen. Sarath wußte, daß die Reise für sie den Weg zur Wahrheit bedeutete. Aber was würde die Wahrheit für sie beide bedeuten?
S. 166
Einmal waren sie und Sarath in das Waldkloster von Arankale gegangen und hatten dort ein paar Stunden verbracht. Ein Wellblechschild war als Schutz vor Sonne und Regen in den Eingang einer Felshöhle genagelt. Dahinter führte ein gewundener sandiger Pfad zu einem Wasserbecken. Jeden Morgen kehrte ein Mönch den Pfad zwei Stunden lang und säuberte ihn von tausend Blättern. Bis zum späten Nachmittag waren weitere tausend Blätter und kleine Zweige auf ihn gefallen. Doch gegen Mittag war seine Oberfläche so klar und gelb wie ein Fluß. Diesen sandigen Pfad entlangzugehen war allein schon eine Meditationsübung.
Im Wald war es so still, daß Anil keine Geräusche vernahm, bis sie auf den Gedanken kam, darauf zu lauschen. Dann konnte sie die Schreihälse lokalisieren, als zöge sie ein Sieb durchs Wasser, und konnte die Rufe von Pirolen und Papageien ausmachen. "Wer nicht lieben kann, schafft Orte wie diesen. Sie setzen voraus, daß man die Leidenschaft überwunden hat." Es war fast das einzige, was Sarath an jenem Tag in Arankale sagte. Die meiste Zeit ging und schlief er, in seine eigenen Gedanken versunken.
Sie hatten den Wald durchstreift und Überreste alter Anlagen entdeckt. Ein Hund folgte ihnen, und sie erinnerte sich daran, daß die Tibeter glaubten, Mönche, die nicht gebührend meditiert hatten, würden im nächsten Leben Hunde sein. Sie wanderten im Kreis zu der Lichtung zurück, einer Lichtung wie ein kamatha, die Stelle in einem Reisfeld, wo gedroschen wird. Auf einer Steinbalustrade thronte eine kleine Buddhastatue, durch ein Pisangblatt gegen Sonnenglut und Regen abgeschirmt.
S. 201
Lesezitate nach Michael Ondaatje - Anils Geist