Amelie Nothomb - Mit Staunen und Zittern (Buchtipp/Rezension/lesen)
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Herr Haneda war Herrn Omochis Vorgesetzter, der Herrn Saitos Vorgesetzter war, der Fräulein Moris Vorgesetzter war, die meine Vorgesetzte war. Was mich anging, so war ich niemandes Vorgesetzte.
Man könnte es auch anders ausdrücken. Ich stand unter Fräulein Moris Befehl, die unter Herrn Saitos Befehl stand und so weiter, wobei zu ergänzen ist, daß die Befehle auf ihrem Weg von oben nach unten die hierarchischen Ebenen überspringen konnten.
Kurz, in der Firma Yumimoto stand ich unter jedermanns Befehl.

Am 8. Januar 1990 wurde ich vom Fahrstuhl auf die vierundvierzigste Etage des Yumimoto-Gebäudes ausgespien. Das Fenster am Ende des Flurs saugte mich an, wie es das zerbrochene Fenster eines Flugzeugs getan hätte. Fern, sehr fern lag die Stadt - so fern, daß ich kaum glauben konnte, sie je betreten zu haben.
Ich dachte nicht einmal daran, daß ich mich beider Rezeption hätte melden sollen. Ich dachte überhaupt nichts, ich war nur fasziniert von der Leere hinter der großen Glasscheibe.
Eine heisere Stimme hinter mir sprach mich schließlich mit Namen an. Ich drehte mich um. Ein Mann um die Fünfzig, klein, dünn und häßlich, betrachtete mich mißbilligend.

Warum haben Sie sich nicht bei der Empfangsdame angemeldet? fragte er mich.

Mir fiel keine Antwort ein, und ich gab keine. Der Mann stellte sich als Herr Saito vor. S. 6

 
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Lesezitat nach Amelie Nothomb - Mit Staunen und Zittern


Stupeur et tremblements
Amelie Nothomb - Mit Staunen und Zittern

Aus purer Abenteuerlust verpflichtet sich die junge Belgierin Amélie für ein Jahr in einem großen Unternehmen in Japan zu arbeiten.

Und es geschieht ihr schier Unglaubliches. Sobald sie auch nur eine Spur von Eigeninitiatve entwickelt, löst das bei ihrer Vorgesetzten einen mittleren Nervenzusammenbruch aus.

Ein solches Verhalten muss geahndet werden. Am besten mit einer völlig unsinnigen Arbeit. Und es wird selbstverständlich erwartet, dass Amélie sich dieser Strafarbeit lächelnd, voll Engagement und ohne Murren stellt.

Ein köstlicher, sehr interessanter Blick hinter die Kulissen japanischer Unternehmen.

Amelie Nothomb - Mit Staunen und Zittern
aus dem Französischen von Wolfgang Krege
Originaltitel: © 1999, "Stupeur et tremblements"
2000, Zürich, Diogenes Verlag, 158 S.,

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Fortsetzung des Lesezitats ...


Herr Saito ließ mich in sein Büro rufen. Er erteilt mir einen wohlverdienten Rüffel: Ich hatte mir eine Initiative zuschulden kommen lassen. Ohne die Erlaubnis meiner unmittelbaren Vorgesetzten einzuholen, hatte ich mich einer Aufgabe bemächtigt. Außerdem war der eigentliche Postverteiler der Firma der erst nachmittags kam, einem Nervenzusammenbruch nahe, weil er glaubte, nun demnächst entlassen zu werden.

Jemandem die Arbeit zu stehlen, ist etwas ganz Schlimmes, sagte Herr Saito mit Recht. S. 24

Und hier beginnt die unendliche Theorie deiner sterilen Pflichten. Selbst wenn du, zum Beispiel, allein auf der Toilette dem schlichten Bedürfnis nachkommst, deine Blase zu entleeren, hast du die Pflicht, dafür zu sorgen, daß niemand dein Bächlein plätschern hört: Also mußt du unablässig die Spülung ziehen.

Du hast Hunger? Iß fast nichts, denn du mußt schlank bleiben, nicht weil es dich erfreuen könnte, wenn sich die Leute auf der Straße nach deiner Silhouette umdrehen - sie tun es sowieso nicht -, sondern weil du dich schämen müßtest, ein paar Rundungen aufzuweisen.

Du hast die Pflicht, schön zu sein. S. 80

Du hast die Pflicht zu heiraten, möglichst bevor du die Fünfundzwanzig, dein Verfallsdatum, erreichst. Dein Mann wird dir keine Liebe schenken, wenn er kein Trottel ist, und von einem Trottel geliebt zu werden, macht nicht glücklich. Jedenfalls, ob er dich nun liebt oder nicht, du wirst nicht viel von ihm sehen. Um zwei Uhr morgens kommt ein erschöpfter und oftmals betrunkener Mann zu dir, um sich ins Ehebett fallen zu lassen, das er um sechs wieder verläßt, ohne ein Wort mit dir geredet zuhaben.

Du hast die Pflicht, Kinder zu kriegen, die du wie Gottheiten behandelst, bis sie drei Jahre alt sind; dann verjagst du sie von heute auf morgen aus dem Paradies und meldest sie zum Drill für den Lebenskampf an, der im Kindergarten beginnt und dauert, bis sie achtzehn sind. S. 81

Du findest das entsetzlich? Da bist du nicht die erste. Andere deinesgleichen denken so seit 1960. Du siehst doch, es hat nichts genützt. Etliche von ihnen haben sich aufgelehnt; und in der einzigen freien Periode deines Lebens, zwischen achtzehn und fünfundzwanzig, wirst vielleicht auch du dich auflehnen. Aber mit fünfundzwanzig merkst du auf einmal, daß du noch nicht verheiratet bist, und du schämst dich. S. 82

Du hast die Pflicht, dich für andere aufzuopfern. Denke aber nicht, daß dein Opfer diejenigen, denen du es darbringst, glücklich machen wird. Es wird ihnen allenfalls ersparen, deinetwegen zu erröten. Du hast keine Chance, sei es glücklich zu werden, sei es andere glücklich zu machen. S. 83

Rekapitulieren wir. Als kleines Mädchen wollte ich Gott werden. Sehr bald begriff ich, daß dies zu viel verlangt war, und goß ein wenig Weihwasser in meinen Meßwein: Ich würde Jesus werden. Als ich einsah, daß auch dieser Ehrgeiz zu weit ging, fand ich mich damit ab, wenn ich mal groß wäre, Märtyrerin zu werden.
Als Erwachsene schwor ich dem Größenwahn ab und beschloß, als Dolmetscherin in einer japanischen Firma zu arbeiten. Leider war das zu hoch für mich; ich mußte eine Stufe herabsteigen und Buchhalterin werden. Aber in meinem sozialen Absturz gab es kein Halten, und so wurde ich zur Null herabbefördert. S. 111

Lesezitate nach Amelie Nothomb - Mit Staunen und Zittern


© by Manuela Haselberger
rezensiert am 21.09.2000

Quelle: http://www.bookinist.de
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