Eigentlich verhielten sie sich ganz friedlich, dennoch empfanden die Manth ihre Nähe als unangenehm. Wer waren sie nur? Woher kamen sie? Und wohin wollten sie? Auf
direkte Fragen antworteten sie nicht, sondern lächelten
nur, zuckten die Achseln oder schüttelten die Köpfe.
Dann sah man die Fremden bei der Arbeit: Sie bauten
einen Turm. Langsam nahm ein hölzernes Bauwerk Gestalt an, ein Sockel, größer als ein Mensch. Darauf errichteten sie einen zweiten, schmaleren Turm aus Holzbalken und Metallrohren. Die Rohre waren von unterschiedlicher
Länge und aufgereiht wie Orgelpfeifen. Am unteren Ende
mündeten die Pfeifen in Trichter aus Metall. Am oberen
Ende fügten sie sich zu einem schmalen Zylinder
zusammen, emer Art Hals, der sich dann weitete und in
einem Ring riesiger Lederkellen seinen Abschluss fand.
Wenn der Wind wehte, wurde er von den Kellen aufgefangen und der ganze obere Teil des Turmes drehte sich mit
der stärksten Bö. Der Luftstrom wurde durch den Zylinder in die verschiedenen Pfeifen geleitet und kam aus den
Trichtern am unteren Ende als Folge zusammenhangloser
Töne wieder heraus.
Der Turm schien keinem besonderen Zweck zu dienen.
Eine Weile war er eine echte Sehenswürdigkeit. Die Manth
bestaunten ihn neugierig, während er sich mal in die eine,
mal in die andere Richtung drehte. Wenn ein starker Wind
wehte, drang ein klagendes Ächzen aus dem Turm, das
die Zuhörer zunächst lustig, bald jedoch lästig fanden.
Die schweigsamen Fremden boten keinerlei Erklärun-
gen an. Es schien, als wären sie nur in die Siedlung gekommen, um dieses seltsame Bauwerk zu errichten. Denn
als es fertig war, rollten sie ihre Zelte zusammen und bereiteten ihre Weiterreise vor.
Vor dem Aufbruch holte ihr Anführer einen kleinen silbernen Gegenstand hervor, kletterte auf den Turm und
schob ihn in einen Schlitz am Hals des Bauwerks. Die
Fremden machten sich an einem ruhigen, windstillen
Sommermorgen auf den Weg. Kein Ton drang aus den
Metallpfeifen und Trichtern, als sie in die Wüste hinaus-
zogen. Die Manth waren ebenso verblüfft wie bei der Ankunft der Fremden und starrten ratlos auf die übergroße
Vogelscheuche, die sie zurückgelassen hatten.
In der folgenden Nacht kam Wind auf, während sie
schliefen, und ein völlig neues Geräusch trat in ihr Leben.
Sie vernahmen es im Schlaf und erwachten lächelnd, ohne
jedoch zu wissen, warum. Sie versammelten sich in der
warmen Nachtluft und lauschten in Freude und Staunen.
Der Windsänger sang.S. 10
Ein weinender Kaiser
Der Mann mit dem Bart schloss die Tür und verriegelte sie hinter Kestrel. Dann bedeutete er ihr still zu sein. Von der anderen Seite der Tür drang das Geräusch trampelnder Füße nun deutlich zu ihnen herein. Wer immer es war, er erreichte das Ende der Treppe und blieb stehen.
"Na so was!", rief er erstaunt. "Sie ist nicht da!"
Sie sahen, wie sich der Türknauf drehte, als er ver-
suchte die Tür zu öffnen. Dann rief er die Treppe hinunter.
"Sie ist gar nicht hier, ihr dämlichen Pocksicker! Jetzt
bin ich die ganzen fatzigen Stufen raufgeklettert und sie
ist fatz noch mal nicht da!" Damit machte er kehrt und
stieg die lange Wendeltreppe murrend wieder hinunter.
Der Mann mit dem Bart kicherte vergnügt. "Pock-
sicker!", wiederholte er. "Das habe ich seit Jahren nicht
mehr gehört. Es beruhigt mich, dass man diese alten
Schimpfwörter noch benutzt"
Dann nahm er Kestrel an der Hand und führte sie vor
einem der Fenster ins Licht, damit er sie anschauen
konnte. Kestrel betrachtete ihn ungläubig. Er war blau gekleidet, und das erstaunte sie. Niemand in Aramanth trug Blau.
"Na ja", meinte er schließlich. "Eigentlich hatte ich mir
dich etwas anders vorgestellt. Aber wir werden dich so
nehmen müssen, wie du bist."
Er ging zu einem Tisch in der Mitte des Zimmers, auf
dem eine Glasschale voller Schokoladenbonbons stand,
und aß drei nacheinander. Kestrel blickte inzwischen ver-
wundert aus dem Fenster. Das Zimmer konnte nicht sehr
weit unter dem Dach des Turmes liegen - vielleicht lag es
sogar direkt darunter -, denn es überragte die Stadtmauern.
In der einen Richtung konnte Kestrel über das Land bis
zum Meer sehen, in der anderen erstreckte sich die weite
Wüste bis zur nebelverhangenen Bergkette im Norden.
"Das ist ja groß!", stellte sie fest.
"Natürlich ist es groß. Sogar größer, als es dir von hier
aus scheint."
Kestrel schaute auf die Stadt mit ihren verschiedenen
Bezirken hinunter: Scharlach und Weiß, die vertrauten
orangefarbenen Straßen, Kastanienbraun und Grau - alles
von den hohen, dicken Stadtmauern umschlossen. Zum
ersten Mal fiel ihr auf, wie merkwürdig diese Vorkehrung
war. "Wozu brauchen wir eigentlich Mauern?"
"Tja, wozu?", gab der Bärtige zurück. "Wozu brauchen
wir Bezirke in verschiedenen Farben? Wozu brauchen wir
Prüfungen und Noten? Wozu müssen wir härter arbeiten
und uns höhere Ziele setzen und morgen besser sein als
heute?"
Kestrel sah ihn überrascht an. Er hatte Gedanken ausgesprochen, von denen sie immer gedacht hatte, keiner
außer ihr hätte sie. "Aus Liebe zu meinem Kaiser", zitierte
sie den Gelöbniseid. "Und für die Herrlichkeit von Aramanth."
S. 77
Lesezitate nach William Nicholson - Der Windsänger