Patricia MacLachlan - Schere, Stein, Papier (Buchtipp/Rezension/Kinderbuch/Jugendbuch)
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Abends hat mein Vater getanzt. Den ganzen Tag war er still und eigensinnig, der Herausgeber der lnselzeitung. Aber abends hat er getanzt.

Lalo Baldelli und ich saßen auf der Veranda in unserer Schaukel, wir hielten uns die Ohren zu, wenn die Sirene der Sechsuhrfähre losheulte, und drinnen fing mein Vater wie immer auf dem Couchtisch seinen Steptanz an. Es war ein niedriger Tisch mit Fliesen aus blauem und grünem italienischen Marmor. Mein Vater hörte das Klappern seiner Schritte auf den Fliesen so gern. Er tanzte jeden Abend vor dem Essen, nach seinen sechs Crackers (Ritz) mit Cheddarkäse (extrascharf), zwischen dem ersten Glas Whiskey, das ihn fröhlich machte, und dem zweiten, das ihn traurig machte. Er fing immer langsam an mit "Me and My Shadow",dann kam "East Side West Side", und so weiter, bis er schließlich bei Lalos Lieblingsstück ankam, "l Got Rhythm". Lalo kam immer vor dem Essen zu uns, egal, wo er sich gerade herumtrieb, nur um Vaters wildes und atemloses "I Got Rhythm" nicht zu verpassen, das mit einem Tusch zu Ende ging und mit ausgebreiteten Armen wie für ein großes Publikum. Lalo hat dann als einziger geklatscht, außer natürlich später Sophie. S. 13

Ich gab keine Antwort. Sophie kam unter den Decken hervor. "Ich habe das Baby nie gesehen, Byrd", flüsterte ich. "Kein einziges Mal. Und er hat nicht mal einen Namen." "Ich weiß." Byrd flüsterte auch. "Aber das ist Sache von deiner Mama und deinem Papa. Du wirst deinen eigenen Weg finden müssen. Dein Traum ist wie ein Gedicht, weißt du. Er hat ausgesprochen, was du denkst, aber nicht sagen kannst. Vielleicht ist das in Gedichten genauso. Und vielleicht ist es das, was Frau Minifred weiß." Ich sah eine Weile aus dem Fenster, dann wandte ich mich wieder an Byrd. "Byrd?" S. 73


Lesezitat nach Patricia MacLachlan - Schere, Stein, Papier


Das Schicksal eines Findelkindes
Patricia MacLachlan - Schere, Stein, Papier

Patricia MacLachlan erzählt in ihrem Buch, das, sofort als es 1993 erschien, von den amerikanischen Buchhändlern, zum besten Kinderroman des Jahres gewählt wurde, keine leichte, einfache Story mit einem Happy-End.

Es ist die Geschichte von Sophie, die am Ende des Sommers, als die letzte Fähre die Insel verläßt, vor der Haustüre des kleinen Mädchens Larkin, in einem Korb gefunden wird. Die Mutter hat der einjährigen Sophie einen Brief mit ins Körbchen gelegt, in dem sie die Familie von Larkin bittet, einstweilen für ihr Kind zu sorgen, da sie im Moment nicht dazu in der Lage ist. Doch eines Tages, wenn sich ihre Situation verbessert hat, will sie Sophie wieder zu sich zurückholen. Das verspricht sie ganz bestimmt.

Zuerst trauen sich Larkins Eltern nicht so recht an das unbekannte Mädchen heran, denn vor noch nicht ganz acht Monaten haben sie selbst ein Baby begraben. Es war Larkins Bruder; er hat nur einen Tag gelebt. Auf dem kleinen Grabstein steht lediglich das Wort "Baby" und seither sind Larkins Eltern nicht mehr so wie früher.

Da ab dem Beginn der Bekanntschaft mit Sophie das Damoklesschwert der Trennung über ihnen schwebt, beschließen die Eltern aus Angst vor dem Abschiedsschmerz Sophie nicht ihre ganze Liebe zu geben. Doch da haben sie Sophie gehörig unterschätzt. Sie haben nicht mit dem drolligen kleinen Mädchen gerechnet, das alle mit ihrer Liebe bezaubert, jede noch so kleine Geste aufnimmt und tausendfach an die Familie zurückgibt. Sophie gibt ihre Liebe ohne einen Gedanken an Abschied und Trennung rückhaltlos und bedingungslos. Und wenn Larkin und ihre Familie im nächsten Frühjahr von Sophie traurig Abschied nehmen, haben sie von dem kleinen Mädchen eine Menge gelernt.

Einerseits finden sie nach langer Zeit Worte für ihre Trauer und ihren Schmerz, indem sie dem verstorbenen Baby einen Namen geben und andererseits haben sie erfahren, daß Worte nicht alles sind und nicht alles sagen können: "Schweigen kann einen auch verändern".

Patricia MacLachlan hat, wie schon in ihrem Buch "Ein Meer für Sarah", wieder eine zarte, poetische Geschichte geschrieben, die von den in Grautönen gehaltenen Bildern des Illustrators Quint Buchholz wunderschön begleitet wird. Es sind traurige Themen wie Abschied, Trennung, Tod, die die amerikanische Autorin aufgreift. Doch immer versteckt sich Hoffnung und neue Freude zwischen den Zeilen. Sie erzählt vom Trost der Worte und der Bilder, aber auch von deren Grenze.

Für Achse, den kleinen Jungen in der Erzählung "Das Gute hinter der nächsten Ecke" liegt die Wahheit in den Fotos, die sein Großvater von ihm und der Großmutter macht. Seine Mutter hat ihn bei den Großeltern allein zurückgelassen.

Der Vater ist schon länger weg und sämtliche Fotos aus der frühen Kindheit Achses, hat die Mutter vernichtet.

Ein Muß für alle Eltern und solche, die es werden wollen, ist die Erzählung "Sieben Küßchen hintereinander" Hier gibt die kleine Emma eine Menge nützlicher Ratschläge an Tante und Onkel, die sie über das Wochende betreuen, während Vater und Mutter einen Kongreß besuchen. Und die Kleine begründet sehr schlüssig und vernünftig, warum sie mit nur drei Regeln mit ihren Eltern prima zurechtkommt und warum sie morgens zwingend eine halbe Grapefruit mit einer halben Kirsche haben muß, sowie sieben Küßchen hintereinander.

Die Romane und Erzählungen von Patricia MacLachlan enthalten für jugendliche und erwachsene Leser eine Menge Juwelen, die sich in Wort und Bild verstecken und die es zu entdecken lohnt. Lesealter ab 9 Jahren


Patricia MacLachlan - Schere, Stein, Papier
Illustrationen von Quint Buchholz
2000, München, dtv, 128 S., 12.50 DM

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Weitere Bücher von Patricia MacLachlan



Sieben Küßchen hintereinander
© 1983, "Seven Kisses in a Row"
1988, Frankfurt, Sauerländer, 67 S.



Ein Meer für Sarah
© 1991, "Sarah, plain and tall"
1989, Frankfurt, Sauerländer, 63 S.



Das Gute hinter der nächsten Ecke
© 1991, "Journey"
1993, Frankfurt, Sauerländer, 85 S.,



Schere, Stein, Papier
© 1993, "Baby"
1994, München, Hanser, 127 S.,



Sarah singt wie eine Lerche
© 1994, "Skylark"
1995, Frankfurt, Sauerländer, 93 S.


© by Manuela Haselberger
rezensiert am 12.7.2000

Quelle: http://www.bookinist.de
layout © Thomas Haselberger