Winter 1996
Er parkte seinen Wagen. Er ging die Treppe hinauf und betrat seine neue Wohnung.
... ließ das Wasser einlaufen, machte das kleine Radio an, das auf der Heizung neben n dem hölzernen Wandschrank stand, zog sich aus und stieg mit einem zufriedenen Seufzer in die Wanne.
Während Peggy Lee auf 101,3 FM "Fever" sang, tauchte Arthur ein paarmal) unter. Was ihm zuerst auffiel, war der volle Klang der Musik, dann der verblüffend realistische Stereoeffekt aus einem Gerät mit nur einem Lautsprecher. Bei genauerem Hinhören schien es, als käme das Fingerschnipsen, das die Melodie begleitet, aus dem Schrank. Stutzig geworden, stieg er aus dem Wasser und näherte sich auf Zehenspitzen dem Möbel, um besser hören zu können. Das Geräusch wurde immer deutlicher. Er zögerte, holte tief Luft und riß beide Türen auf. Erschrocken wich er einen Schritt zurück.
Versteckt zwischen den Kleiderbügeln saß eine Frau, mit geschlossenen Augen und offensichtlich ganz in die Musik versunken, sie schnipste mit Daumen und Zeigefinger und summte vor sich hin.
"Wer sind Sie, was machen Sie hier?" fragte er.
Die Frau fuhr zusammen und starrte ihn an.
"Sie können mich sehen? "
"Natürlich kann ich Sie sehen."
Es schien sie total zu überraschen, daß er sie sehen konnte. Er wies sie darauf hin, daß er weder blind noch taub sei, und fragte noch einmal, was sie da mache. Als einzige Antwort bekam er zu hören, daß sie das großartig fände. Arthur wußte nicht, was an der Situation großartig sein sollte, und in noch gereizterem Ton als zuvor fragte er zum drittenmal, was sie zu dieser fortgeschrittenen Stunde in seinem Badezimmerr zu suchen habe. "Ich glaube, Sie begreifen nicht", erwiderte sie, "berühren Sie meinen Arm!" Er blieb wie versteinert stehen, sie bat ihn noch einmal:
"Berühren Sie meinen Arm. Bitte!"
"Nein, ich werde Ihren Arm nicht berühren, was soll das?"
Sie nahm Arthurs Handgelenk und fragte ihn, ober sie spüre, wenn sie ihn anfasse. Verärgert beteuerte er, daß er durchaus gemerkt habe, daß sie ihn berühre und ...
Sie überging seine Frage und wiederholte begeistert, es sei "phantastisch", daß er sie sehen, hören und sogar anfassen könne. Arthur hatte einen anstrengenden Tag hinter sich und war nicht zu Scherzen aufgelegt.
"Hören Sie, es reicht. Ist das vielleicht ein kleiner Streich meines Partners? Wer sind Sie? Ein Callgirl mit den besten Wünschen zur Wohnungseinweihung?"
"Sind Sie immer so unverschämt? Sehe ich etwa aus wie eine Nutte?"
Arthur seufzte.
"Nein, Sie sehen nicht aus wie ein Nutte, aber Sie sind in meinem Wäscheschrank versteckt, und es ist fast Mitternacht."
"Nebenbei bemerkt sind Sie es, der nackt ist, nicht ich!"
Arthur erschrak, griff sich ein Handtuch, wickelte ... S. 37
"Wenn Sie jetzt also partout nicht sagen wollen, wer Sie sind - sei´s drum, aber verschwinden Sie jetzt! Gehen Sie nach Hause!"
"Ich bin zu Hause! Vielmehr, ich war. Das ist alles so verwirrend."
Arthur schüttelte den Kopf. Er erklärte ihr, daß er diese Wohnung vor zehn Tagen gemietet habe und somit hier zu Hause sei.
"Ja, ich weiß, Sie sind mein Mieter post mortem, eine ziemlich komische Situation."
"Was reden Sie denn da, die Wohnung gehört einer siebzigjährigen alten Dame, der Stimme am Telefon nach zu urteilen. Und was soll das überhaupt heißen: >>Mieter post mortem<< ?"S. 39
Sie forderte ihn auf, sich neben sie zu setzen. "Das, was ich Ihnen sagen werde, ist nicht einfach zu verstehen und ganz und gar unvorstellbar, aber wenn Sie bereit sind, meine Geschichte anzuhören und mir zu vertrauen, dann werden Sie mir am Ende vielleicht glauben, und das ist sehr wichtig, denn Sie sind, ohne es zu wissen, der einzige Mensch auf der !Welt, mit dem ich dieses Geheimnis teilen kann."
Sie hieß Lauren Kline. Sie behauptete, Assistenz-Ärztin zu sein und vor sechs Monaten einen Autounfall gehabt zu haben, einen schweren Autounfall, wegen einer defekten Lenkung. "Seitdem liege ich im Koma. Nein, denken Sie noch nichts, lassen Sie mich erst erklären." An den Unfall selbst hatte sie keinerlei Erinnerung. Sie war erst nach der Operation im Aufwachraum wieder zu sich gekommen. Sehr merkwürdig hatte sie sich da gefühlt, denn sie hörte alles, was um sie herum gesprochen wurde, konnte sich aber weder bewegen noch sprechen. Zuerst hatte sie geglaubt, das seien die Nachwirkungen der Narkose. S. 41
"Sie können sich nicht vorstellen, was ich durchgemacht habe. Für den Rest meines Lebens im meinem Körper gefangen zu sein! "
Sie hatte sterben wollen, doch es ist schwierig, Schluß zu machen, wenn man nicht einmal den kleinen Finger heben kann. S. 42
Die Wochen vergingen, lange, immer längere Wochen. Sie lebte in ihren Erinnerungen und rief sich vertraute Plätze ins Gedächtnis. Eines Nachts, als sie an das Leben jenseits ihrer Zimmertür dachte, stellte sie sich den Korridor vor, die Schwestern, die vorbeikamen, mit Stapeln von Akten auf dem Arm oder einem Wagen, den sie vor sich her schoben, ihre Kollegn, die von einem Zimmer zum anderen gingen ...
Da ist es zum erstenmal passiert: Ich fand mich plötzlich auf dem Flur wieder, an den ich gerade so intensiv gedacht hatte. Zuerst glaubte ich, meine Phantasie sei mit mir durchgegangen. S. 43
"Ich lebe in absoluter Einsamkeit. Sie können sich nicht vorstellen, was es heißt, mit niemandem sprechen zu können, vollkommen durchsichtig zu sein, an niemandes Leben teilzuhaben. jetzt verstehen Sie meine Überraschung und meine Aufregung, als Sie mich heute abend im Wandschrank angesprochen haben und mir klar wurde, daß Sie mich sehen können."
Arthur betrat auf Zehenspitzen den Raum. Lauren stand am Fenster. Die Schlafende war etwas blasser als ihre Doppelgängerin, die ihm zulächelte, aber ansonsten waren ihre Züge vollkommen identisch. Er wich einen Schritt zurück.
"Das ist unmöglich, sind Sie ihre Zwillingsschwester!"
"Sie sind wirklich ein hoffnungsloser Fall! Ich habe überhaupt keine Schwester. Ich bin es, die dort liegt, ich allein, machen Sie es mir doch nicht unnötig schwer und versuchen Sie, das Unmögliche anzunehmen. Es ist kein Trick, und Sie schlafen auch nicht. Arthur, ich habe niemanden außer Ihnen, Sie müssen mir glauben, Sie dürfen mich jetzt nicht im Stich lassen. S. 56
In den ersten Tagen, so erzählte nun Lauren weiter, hatte das Gespensterdasein ihr noch Spaß gemacht.
Man brauchte sich nicht mehr darum zu kümmern, was man anzog, wie man sich frisierte, wie man aussah, ob man zuviel aß, niemand schaute einen mehr an. Keine Pflichten mehr, keine Konventionen, nie wieder Schlange stehen, man konnte einfach an allen vorbei nach vorne gehen, ohne daß sich jemand aufregte, man brauchte nicht mehr zu befürchten, sich daneben zu benehmen. Man mußte auch nicht mehr so tun, als sei man gar nicht neugierig, sondern konnte Gespräche belauschen, die einen nichts angingen, das Unsichtbare sehen, das Unhörbare hören, an Orten sein, an denen man sich gar nicht aufhalten durfte, ohne daß jemand es bemerkte.
"Ich hätte mich ins Oval Office setzen und streng vertrauliche Staatsangelegenheiten mit anhören können, ich hätte bei Richard Gere auf dem Schoß sitzen oder mit Tom Cruise duschen können."
Alles, oder zumindest fast alles war möglich. Sie konnte Museen besuchen, auch wenn sie geschlossen waren, ... S. 84
"Sie sind nicht tot, Lauren, Ihr Herz schlägt an einem Ort, und Ihr Geist lebt irgendwo anders. Die beiden sind nur vorübergehend voneinander getrennt, das ist alles. Man muß herausfinden, warum, und wie man sie wieder zusammenbringen kann." S. 85
Seit ihrem Unfall wurde ihr jeden Tag aufs neue bewußt, wie wenige Menschen den Wert der Zeit zu bemessen und zu schätzen verstanden.
Und Sie erzählte ihm das Fazit ihrer Geschichte: "Du möchtest begreifen, was ein Jahr Leben bedeutet.
Frag einen Studenten, der gerade durch sein Examen gefallen ist.
Was ein Monat Leben bedeutet: Frag eine Mutter die eine Frühgeburt hatte und darauf wartet, ihr Kind heil und gesund in die Arme schließen zu können.
Eine Woche: Befrage einen Mann, der in einer Fabrik oder in einem Bergwerk arbeitet, um seine Familie zu ernähren.
Ein Tag: Frag zwei Verliebte, die das nächste Wiedersehen nicht erwarten können.
Eine Sekunde: Sieh dir den Gesichtsausdruck eines Menschen an, der eben um ein Haar einem Autounfall entronnen ist. Und der Bruchtteil einer Sekunde: Frag einen Sportler, der bei den Olympischen Spielen Silber gewonnen hat und nicht Gold, wofür er jahrelang trainiert hat. Das Leben ist wunderbar, ..... S. 252
Lesezitate nach Marc Levy - Solange du da bist