Milan Kundera - Die Unwissenheit (Buchtipp/Rezension/lesen)
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»Wieso bist du noch hier?« Ihre Stimme klang nicht böse, aher auch nicht freundlich; Sylvie war verärgert.
»Wo sollte ich denn sein?« fragte Irena.
»Zu Hause!«
»Willst du damit sagen, daß ich hier nicht mehr zu Hause bin?«
Natürlich wollte Sylvie sie weder aus Frankreich vertreiben noch ihr zu verstehen geben, sie sei eine unerwünschte Ausländerin: »Du weißt schon, was ich meine!«
»Ja, weiß ich, aber hast du vergessen, daß meine Arbeit, meine Wohnung, meine Kinder hier sind?«
»Hör mal, ich kenne Gustaf. Er wird alles tun, damit du in deine Heimat zurückkehren kannst. Und deine Töchter; erzähl mir doch nichts! Sie haben schon ihr eigenes Leben! Mein Gott, Irena, was bei euch vorgeht, ist dermaßen faszinierend! In so einer Situation lassen sich die Dinge immer regeln.« S. 5


Lesezitat nach Milan Kundera - Die Unwissenheit


Bookinists Buchtipp zu


Identität

von Milan Kundera




Zauber der Rückkehr
Milan Kundera - Die Unwissenheit

uch in seinem Roman "Die Unwissenheit" arbeitet der tschechische Autor Milan Kundera, der seit vielen Jahren in Frankreich lebt und seine Bücher mittlerweile auf französisch verfasst, an seinem Thema: Das Leben im Exil. Selbstverständlich bezieht er die neuen politischen Verhältnisse OstEuropas mit ein, wenn seine Hauptpersonen erstmals, nachdem sie jahrelang im Ausland gelebt haben, die Rückkehr in die Heimat wagen.

Vor zwanzig Jahren folgte Irena ihrem Mann von Prag nach Paris, das erste Kind im Schlepptau, mit dem zweiten Kind war sie bereits schwanger. Sehr früh stirbt ihr Ehemann und sie ist gezwungen, sich mit den beiden Kindern alleine durchzuschlagen, bis sie Gustave, einen erfolgreichen Geschäftsmann, trifft. Als dieser eine Niederlassung in Prag für sein Büro plant, steht einer Reise Irenas in ihre alte Heimat nichts mehr im Wege.

Auf dem Pariser Flughafen begegnet sie Josef, einem ehemaligen Freund aus Prag. Doch während Irena sich an ihre kaum begonnene Liebesgeschichte vor vielen Jahren erinnert, weiß Josef nichts mehr davon. Er lebt heute in Schweden, hat ebenfalls seine Frau verloren und ist dabei, nach langer Zeit wieder seinen Bruder und dessen Familie zu besuchen.

Irena und Josef verabreden sich in Prag zum Essen. Beide sind enttäuscht über ihren Empfang und über die sonderbaren Gespräche mit den alten Bekannten. "Ich hatte vergessen wer sie waren; und sie interessierten sich nicht für das, was aus mir geworden ist. Kannst du dir vorstellen, dass niemand hier mir eine einzige Frage über mein Leben dort gestellt hat? Keine einzige Frage! Nie! Ich habe immer den Eindruck, dass man mich hier um zwanzig Jahre meines Lebens amputieren will."

Irena, die endlich ihr Leben, "so wie es ist, nicht mehr ausbessern, sondern selbst in die Hand nehmen will, um es vollständig umzukrempeln", bietet Josef eine gemeinsame Zukunft an. Doch auch hier stehen zwanzig Jahre zwischen ihnen, die sich nicht wegwischen lassen.

"Die Unwissenheit" ist ein typischer Roman aus der Feder Kunderas. Das Ignorieren, nicht Wahrnehmen der Vergangenheit der Exilanten von den Daheimgebliebenen, ist das Hauptthema des Buches, - im Original "L' Ignorance".

Kundera beschränkt sich nicht nur auf einen interessanten Plot mit differenziert angelegten Protagonisten, der zugegeben in einigen Passagen etwas konstruiert wirkt, er unternimmt mit seinen Lesern ebenfalls wunderbare Exkurse in die Philosophie und Literatur. Sehr gut gelungen sind seine Worterklärungen zu Nostalgie und seine Ausführungen zu Homers Odyssee. Nicht zu vergessen seine klugen Kommentare zur europäischen Geschichte. Sie bildet die allgegenwärtige Oberfläche des Romans.

Gleich Strudeln, die immer tiefer in die Wasserdecke eindringen, lässt Kundera das Leben von Irena und Josef vor diesem Hintergrund verlaufen. Sie berühren sich, verirren sich zwanzig Jahre in unterschiedliche Richtungen, um sich noch einmal zu vereinigen und sich dann endgültig zu trennen.

Ein Buch, das auf viele Arten gelesen werden kann und auch nach mehrmaliger Lektüre immer wieder mit neuen Zusammenhängen überrascht. Die präzise, sehr virtuose Sprache macht es zu einem Genuss. Ein Roman, den man nicht versäumen sollte. © manuela haselberger


Milan Kundera - Die Unwissenheit
Originaltitel: L' Ignorance, 2000
Übersetzt von: Uli Aumüller
2001, München, Hanser Verlag, 180 S.

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Fortsetzung des Lesezitats ...

Daher hatte sie vor ihrem Weggang in die Emigration, als sie sortierte, was sie mitnehmen und was sie dalassen würde, den kleinen Aschenbecher aus der Bar in einen Koffer getan; im Ausland trug sie ihn oft in ihrer Handtasche bei sich, heimlich, als Glücksbringer.
Sie erinnert sich, daß er im Warteraum des Flughafens in ernstem und sonderbarem Ton gesagt hat: »Ich hin ein absolut freier Mensch.« Sie hatte den Eindruck, daß ihre zwanzig Jahre zuvor begonnene Liebesgeschichte nur auf den Zeitpunkt aufgeschoben worden war, in dem sie beide frei waren.
Und sie erinnert sich an einen anderen Satz von ihm: »Ich komme ganz zufäHig über Paris«; Zufall ist ein anderer Ausdruck für Schicksal; er mußte über Paris kommen, damit ihre Geschichte da weiterging, wo sie abgebrochen war.
Mit dem Handy in der Hand versucht sie ihn von überall anzurufen, im Café, in der Wohnung einer Freundin, auf der Straße. Die Telefonnummer des Hotels stimmt, aber er ist nie in seinem Zimmer. Sie denkt den ganzen Tag an ihn und, da die Gegensätze sich anziehen, an Gustaf. Als sie an einem Andenkenladen vorbeikommt, sieht sie im Schaufenster ein T-Shirt mit dem düsteren Gesicht eines Tuberkulosekranken und einer englischen Aufschrift: Kafka was born in Prag. S. 92

Sie erzählt ihm, wie ihre Freundinnen sich geweigert haben, den Bordeaux zu trinken, den sie ihnen mitgebracht hatte: »Stell dir vor, einen 1985er! Und sie haben absichtlich, um mir eine Lektion in Patriotismus zu erteilen, Bier getrunken! Dann hatten sie Mitleid mit mir und haben, schon betrunken vom Bier, mit Wein weitergemacht!«
Sie erzählt, sie ist witzig, sie lachen.
»Das Schlimmste war, daß sie über Dinge und Leute sprachen, von denen ich nichts wußte. Sie wollten nicht verstehen, daß ihre Welt sich nach all dieser Zeit aus meinem Kopf verflüchtigt hat. Sie dachten, ich wollte mich mit meinem Vergessen interessant machen. Mich hervortun. Es war ein sonderbares Gespräch: ich hatte vergessen, wer sie waren; und sie interessierten sich nicht für das, was aus mir geworden ist. Kannst du dir vorstellen, daß niemand hier mir je eine einzige Frage über mein leben dort gestellt hat? Keine einzige Frage! Nie! Ich habe immer den Eindruck, daß man mich hier um zwanzig Jahre meines Lebens amputieren will. Wirklich, ich habe das Gefühl einer Amputation. Ich fühle mich wie verkürzt, verkleinert, wie eine Zwergin.«
Sie gefällt ihm, und was sie erzählt, gefällt ihm auch. Er versteht sie, er ist mit allem einverstanden, was sie sagt. »Und in Frankreich«, sagt er, »stellen dir deine Freunde dort Fragen?«S. 154

Lesezitate nach Milan Kundera - Die Unwissenheit













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Abschiedswalzer

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gebunden



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© 5.3.2001 by
Manuela Haselberger
Quelle: http://www.bookinist.de