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Am 31. Juli 1942 besetzten die deutschem Truppen unser Kosakendorf. Es war der Vorabend meines Geburtstags: Ich wurde neun Jahren alt.
Den ganzen Tag irrten wir durch die Steppe: Wir flohen. Wir, das waren meine Mutter und ich. Nur wir beide waren noch am Leben, vor fünf Monaten aber, im Februar, hatte man uns nach dem sogenannten "Lebensweg" über das Eis des Ladogasees zu fünft in einen Gitterwagen gepfercht, zusammen mit anderen evakuierten Leningradern. An jeder Station wurde es in jedem Waggon geräumiger: man schaffte die Toten hinaus. An der Station Tscherepowez wurde der Leichnam meines dorthin Bruders Vadik hinausgetragen. Er war keine zehn Jahre alt geworden. Särge gab es nicht, die ausgezehrten kleinen Körper wurden einfach auf Tragbahren gelegt und dann alle zusammen in einem Massengrab bestattet.
S.7

Natürlich hatte meine Mutter in Leningrad nichts von dem furchtbaren Hunger in der Ukraine und im Kubangebiet gehört und geahnt. Woher hätte sie davon wissen ' sollen? Wir hatten in diesen Gegenden weder Verwandte noch Bekannte - und auch wenn wir welche gehabt hätten und die keine Angst gehabt hätten, uns die Wahrheit zu schreiben, dann hätten wir ihre Briefe nie zu Gesicht bekommen. In der Presse und im Rundfunk wurde nur von en Höchstleistungen der wackeren Getreidebauern und von glücklichen Überfluß des Kolchoslebens gesprochen - "der jahrhundertealte Traum des Volkes hat sich erfüllt ..." S.18

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Lesezitat nach Jelena Koschina - Durch die brennende Steppe, S.


Durch die brennende Steppe
Jelena Koschina - Durch die brennende Steppe

Jelena Koschina ist neun Jahre alt, als sie zusammen mit ihrer Mutter, der Großmutter und ihren beiden Geschwistern aus Leningrad 1942 flieht. In einer unbeschreiblich qualvollen Zugfahrt reisen sie in die russische Steppe unter unmenschlichen Bedingungen. Am Ende, als sie völlig erschöpft und ausgehungert, Unterschlupf in einem Kosakendorf finden, haben nur Jelena und ihre Mutter überlebt.

Warum der deutsche Soldat, der sie beide eines Tages mit einer Waffe bedroht und direkt auf ihren Kopf zielt, letztendlich doch nicht geschossen hat, darüber grübelt Jelena Koschina, die spätere Kuratorin der Eremitage in Leningrad, heute noch nach.

Die Mutter, eine ehemalige Lehrerin, unterrichtet ihre Tochter selbst. Für ihre wichtigsten Fähigkeiten: Verständnis, Fantasie und Zivilcourage, gibt es jedoch keine Schulfächer. Sie stehen jeden Tag im Alltag auf dem Stundenplan. Und als sie bei einer befreundeten Familie einen riesigen Bücherschrank bemerkt, bessert sich Jelenas Lage schlagartig. "Es war eine erstaunliche Entdeckung, die unser ganzes Leben umkrempelte. ... Nie habe ich sonst erlebt, dass Bücher das menschliche Leben so erfüllen und erhellen können, weder vorher noch nachher." Mit Feuereifer vertieft sie sich in die Literatur. Von Mark Twains Tom Sawyer über Gogol bis Puschkin verleibt sie sich alles ein.

Die stärksten Passagen in Jelena Koschinas Erinnerungen sind, wenn sie über die Gespräche mit den schweigsamen und schwer zugänglichen Kosakinnen berichtet, die an ihren Lippen hängen, wenn sie die griechische Sagenwelt für sie zum Leben erweckt.

"Wir hatten in der Vergangenheit denselben Todestransport überstanden und noch weiter davor Leningrad. Das verband uns fest. Und wir hatten an jenen Winterabenden gemeinsam beim Funzelschein am Tisch gesessen, Puschkin und Gogol gelesen, während draußen der Schneesturm tobte. Das war auch eine Verwandtschaft. Und was für eine!"




Jelena Koschina - Durch die brennende Steppe
Übersetzt aus dem Russischen von Annelore Nitschke
Originaltitel: © 2000, "-?-"
2000, Frankfurt, Fischer Verlag, 206 S.,

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Fortsetzung des Lesezitats ...

Und wenn es das gab, dann war der heutige Tag, der so düster und unsicher war, doch nicht das einzige, was wir noch im Leben hatten. Wenn es die Vergangenheit gab, dann konnte es auch die Zukunft geben - und plötzlich wurde das Leben weiter, und zum erstenmal seit langen Monaten leuchtete vor mir in der Ferne etwas auf.

Alle stürzten sich auf die Bücher. Tagsüber hatten wir genug im Haus zu tun, so blieb uns also der Abend zum Lesen. Da merkten wir verwundert, daß der Abend überhaupt eine besondere und schöne Zeit ist. Von morgens bis abends drohte uns jeden Augenblick Gefahr. Doch am Abend standen wir mit einem Mal unter dem Schutz dessen, was uns zuvor am allermeisten bekümmert hatte - unter dem Schutz der Abgeschnittenheit, der Kälte, des Regens, des Windes, der schlechten Straßenverhältnisse und der Finsternis. Tatsächlich konnte man sich nur schwer vorstellen, daß ein deutscher Soldat oder Polizist im strömenden Regen zu Pferd oder im Fuhrwerk zu uns heraus käme - sich mit dem Auto in den unwegsamen Steppenschlamm oder in die Schneeverwehungen zu begeben, würde erst recht niemand wagen. Der Anbruch des Abends bedeutete also Sicherheit und den Aufschub jeglicher Drohung um viele lange Stunden bis zum nächsten Morgen, um die Unendlichkeit!

Es war eine erstaunliche Entdeckung, die unser ganzes Leben umkrempelte. Vorbei die mutlose Niedergeschlagenheit, die sich über der frühen Dämmerung auf unser Haus herabzusenken pflegte, da wir nun im Halbdunkel würden sitzen müssen, nur eine Funzel auf dem Tisch, Regen vor dem Fenster und draußen im Hof das überreizte Knarren des alten Schutzdachs; die Erwachsenen und Dagmara würden endlos etwas nähen oder flicken und wir Kleinen untätig in den dunklen Ecken herumlungern und uns aus Langeweile streiten. Nie habe ich sonst erlebt, daß Bücher das menschliche Leben so erfüllen und erhellen können, weder vorher noch nachher. Wir empfanden keine Einsamkeit mehr, und die Gesprächsthemen waren unerschöpflich. S.77-78

Damals, vor vielen Jahren, hatte ich mir keine besonderen Gedanken über die Regeln des Kosakendorfs gemacht: Ich akzeptierte sie einfach als etwas, das nicht zur Erörterung stand und womit man leben mußte, ob man wollte oder nicht. Natürlich war ich traurig im Unterricht wie auch im den Pausen zwischen den Stunden - es war nicht die Schule, die ich mir erhofft hatte. Diese Schuleblieb ein unerfüllter Traum.

lch besaß natürlich noch nicht genug Verstand, um auch nur zu ahnen, geschweige denn zu verstehen, daß mir das Schicksal allen meinen Wünschen zum Trotz, ein großes, ja unerhörtes Geschenk gemacht hatte: Jahre einer freien, bei all ihrer Schwere durch nichts eingeengten und verfälschten Kindheit. Wie viele Kinder liebte ich an meiner Traumschule, ohne es selbst zu wissen, die institutionelle, schöne Seite: gerade Bankreihen, Kinder, die beim Anblick des Lehrers einträchtig aufstehen, weiße Krägelchen auf dunklen Kleidern, wartend gehobene Hände. Und noch weniger konnte ich verstehen, daß dieses kindliche Ordnung-der-Erwachsenen-Spiel schon ausgenutzt wurde, schon der Beginn der Zähmung und Dressur war. All das ist in der frühen, besonders prägsamen und empfänglichen Kindheit an mir vorübergegangen. Ich erkannte damals nicht das Glück, das mir beschieden war, weil ich bis zum Alter von gut elf Jahren keine richtige Schule, sondern nur selbst organisierten Unterricht besuchen konnte und nie Wörter hörte wie: "Kollektiv", "Veranstaltung", "in einer Reihe antreten! Achtung, stillgestanden!" S126-127


Lesezitate nach Jelena Koschina - Durch die brennende Steppe


© by Manuela Haselberger
rezensiert am 5.04.2000

Quelle: http://www.bookinist.de
layout © Thomas Haselberger