Fernsehen ist auch viel Betrug dabei !
Es gab auch andere Zeiten. Ich war jünger und da, wo heute die Mauer in den Köpfen steht, gab es eine alle Menschen im Geiste verbindende Installation aus Beton, Stacheldraht und tausenden Aktionskünstlern in Fantasieuniformen. Es war das erfolgreichste Beispiel von Performancekunst weltweit. Doch die Zeiten haben sich gewandelt. Satiremagazine müssen Strafen an frigide Bürgerrechtlerinnen zahlen, und dicke Männchen vom fernen Planeten München kassieren Provisionen für falsche Zitate. Es war klar, dass auch unser anachronistisches Kunstwerk nicht mehr lange überleben würde. Kam dann ja auch so.
Damals jedenfalls war ich noch jünger. Erziehung richtete sich gegen alles, was Spaß macht. Zum Beispiel musste man bei einem fetten Durchfall zur Strafe ungesüßtes Kamillenwasser trinken, mit dem sich Mutti vielleicht vorher die Haare gespült hatte. Man durfte ja nicht aufstehen, um nachzugucken. Zu essen gab es 17-mal hintereinander getoastetes Weißbrot. Wissenschaftlich war wahrscheinlich schon damals erwiesen, dass eine Diät aus Cola und Salzstangen genau die richtige Ersatzmischung für die dem Körper verloren gegangenen Stoffe darstellte. Aber das klang nach zu viel Spaß. Es wird wohl noch ein Weilchen dauern, bis der Öffentlichkeit endlich Forschungsergebnisse zugänglich gemacht werden, denen zufolge eine ausgewogene Kost aus Joints und Dosenbier gegen Erkältungen immun macht. Zu viel Geld ginge der Pharmaindustrie verloren. Mein Freund Alexander jedenfalls lebt in einem nassen, unbeheizbaren Loch, und er schwört auf die oben genannte Ernährung. Er sagt, er hat nie Schnupfen und selbst wenn, würde er es nicht merken.
Es war eine graue Zeit. Wenn Kinder nach dem 12. Lebensmonat noch einpinkelten, wurden sie in die Badewanne gestellt und kalt abgeduscht, bis sie eine neuronale Verbindung zwischen dem unangenehmen Ereignis "kaltes Duschen" und dem angenehmen Ereignis "warm einpinkeln" herstellen konnten und sich für das eine oder andere entschieden. Bei manchen dauerte das Jahrzehnte. Spätestens in der Pubertät gaben die meisten aber ihr genussreiches Hobby auf, da es einem total unangenehm ist, wenn Papa, der inzwischen kleiner ist als man selbst, einen in die Badewanne hievt und sich dann zum Abduschen auf ein Höckerchen stellen muss.
Außerdem fand man so keine Freundin. Die Idee war damals wohl, dass Kinder ungefähr im 12. Lebensmonat mit dem Sprechen anfangen, und wenn ihnen das kalte Abduschen unangenehm ist, können sie ja nun mit ihren Eltern drüber reden. Heute sind die Zeiten anders. Vor zehn Jahren kamen die ersten Windeln für Kinder über sechs heraus. Von da an vollzog sich eine rasante Entwicklung, sodass heute das gesamte Altersspektrum windeltechnisch abgedeckt ist. Ein kleiner Tipp für Sparbewusste: Etwa ab dem 80. Lebensjahr kann man wieder Kinderwindeln nehmen, die oft preisgünstiger angeboten werden. S. 53-55 © Jakob Hein
Was macht eigentlich Mathias Rust?
Im Sommer 1997 versammelten sich Hunderte junger Menschen auf der großen Brücke vor dem Roten Platz, wo zehn Jahre zuvor Mathias Rust seine Cessna 172 zur Landung gebracht hatte - und warfen unzählige Papierflieger herab. Es war ein romantisches Bild: Die Papierflieger bedeckten eine Weile den Fluss und verschwanden dann langsam in der Tiefe des Moskausees. So ähnlich verschwand damals auch Mathias Rust, als das Medienspektakel vorbei war. Ich werde ihn nie vergessen, denn ich war zu diesem Zeitpunkt Soldat bei der Flugabwehrzentrale, 100 Kilometer von Moskau entfernt, und bei uns war seinetwegen mächtig was los.
Unsere bescheidene Einheit verfügte über ein Radargerät mit einer Reichweite von 400 Kilometern, drei Raketen, 20 Soldaten und vier Offiziere, die sich alle zwölf Stunden im Dienst abwechselten. Der eine Offizier war Säufer, der andere schwul, der dritte ein Komiker und der vierte ein Karrierist. Normalerweise verlief unsere Wache ziemlich ruhig. Der Säufer brachte immer ein paar Flaschen zu trinken mit, und der Schwule trug lustige Perücken. Alle Offiziere waren nämlich glatzköpfig, wegen der Radarstrahlung.
S. 158 © Wladimir Kaminer
Lesezitate nach Wladimir Kaminer (Hg.) - Frische Goldjungs