... reinlesen




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- Ich bin ein Buch!

Mein Rücken der Buchrücken, mein Rumpf der Buchblock, der Buchrücken blau wie meine Augen, das Kapitalband rot wie mein Haar. Wenn man mich aufschlägt breite ich die Arme aus.

Gisela ist verzweifelt: Gestern Nacht sei ich noch ganz normal in Menschengestalt zu Bett gegangen.

- Wie viele Seiten habe ich?

Es kitzelt, als ihr Daumen zu meiner letzten Seite blättert. Ich bin blind wie ein Maulwurf, kann ihr Gesicht über mir nicht sehen.

- Hundertvierundvierzig.

Ein schmales Bändchen also. Welch ein Widerspruch meinem früheren Körperumfang: der massive Leib, den ich mit Butterplätzchen niederfütterte, damit ich in Ruhe lesen konnte.

- Welches Format?

Wir sinken etwa einen Meter tiefer. Auf das Bett? Den Teppich? Auf den Hocker vor dem Schminktisch?

........... weiter....


Lesezitat nach Peter Jacobi - Mein Leben als Buch, S.




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Zwischen zwei Deckeln
Peter Jacobi - Mein Leben als Buch

Der Büchernarr und Antiquar Dietrich Oger glaubt es nicht, als er am Morgen erwacht: "Ich bin ein Buch!" Am Abend zuvor war noch alles in Ordnung - und nun das.

Doch in der Literaturgeschichte ist dies keine ganz neue Erfahrung. Auch Kafkas berühmter Gregor Samsa erwacht aus unruhigen Träumen und findet sich in der Gestalt eines Käfers wieder - aber was ist ein simples Krabbeltier gegen ein Buch?

Oger beginnt mit seinen Nachforschungen. Spannend ist zunächst die Frage "wie viele Seiten habe ich? Wie sehe ich aus?" Schnell stellt Oger fest, so ein Leben als schmales Bändchen mit 140 Seiten ist nicht leicht. Bücher ziehen es vor, aufrecht zu stehen. Flach auf dem Bauch zu liegen, betrachten sie als entwürdigend. Schon bald finden sich unvermeidbare Gebrauchsspuren, wie bei allen viel gelesenen Titeln: Eselsohren, eine Seite wird herausgerissen, Fettflecken, um nur die harmlosen zu nennen.

Die Leser, die ein Buch aus dem Regal ziehen, sind natürlich nicht alle gleich. Fällt man zum Beispiel einem Lustleser in die schweißnassen Hände, der die Masse der Neuerscheinungen blitzschnell in lesbar und unlesbar einteilt und die Bücher, die seinen Leseappetit erregen in atemberaubender Geschwindigkeit in sich "hineinschnorchelt", dann kann es passieren, dass die Buchdeckel viel zu früh wieder zugeklappt werden. Hingegen die Gattung der Suchtleser, die sich meist auf ein Genre spezialisiert haben, sind dazu verdammt rückhaltlos und uneingeschränkt, alle Titel zu lesen. Gute Lektüre Aussichten!

Es ist die wunderbare Welt der Bücher, die Peter Jacobi in seiner literarischen Spielerei "Mein Leben als Buch" einfängt. Für Bibliomanen aller Art, gleichgültig welcher verrückten Gattung der Leserschaft sie angehören, ein wahrer Lesegenuss und ein absolutes Muss – und natürlich ein sicherer Geschenktipp für jeden Buchliebhaber, der bereits alles im Regal stehen hat.


Peter Jacobi - Mein Leben als Buch
illustriert von Amelia Leoncini
2000, Hamburg, Nautilus, 144 S.,

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Fortsetzung des Lesezitats ...

- Antworte!

Ich spüre wie sich ihre Finger um den Buchblock krampfen.

- Oktav! Was Spielt das denn jetzt noch für eine Rolle?

- Ich wüßte eben gerne wie ich aussehe.

Ihre Antwort besteht aus salzig warmen Tropfen, die mein aufgeschlagenes Papier geduldig aufsaugt. Gisela weint gewöhnlich lautlos. Ohne eine Miene zu verziehen. Wären da nicht die Tränen, die aus staunend aufgerissenen Augen quellen und über die mit blondem Flaum bewachsenen Wangen laufen, man würde es nicht mal bemerken.

Oft habe ich in letzter Zeit im Lehnstuhl sitzend von meiner Lektüre aufgeblickt und in durchnäßten Taschentüchern oder roten Augenrändern gemerkt, daß sie wieder geweint hat. Die vergangenen Wochen waren turbulent und hart. Hart genug, um in der Psyche eines zarten Persönchens wie Gisela derartige Halluzinationen auszulösen?

- Ich bin nicht verrückt!

Die Hände, die mich halten, zittern.

Ich bin mir sicher: ich habe nicht g e s a g t, daß sie verrückt ist ...

- Aber gedacht!

Woher kann sie das wissen?

- Weil ich alles, was du denkst, klar und deutlich in dir lese.

In mir lesen! Das hatte sie schon immer versucht. Manchmal sogar mit Erfolg. Oft hatte sie aber auch Dinge, die ich im Traum nicht denken würde, in mich hinein interpretiert.

So halte ich die Idee, daß ich ein Buch bin, keineswegs für ausgemacht. Zugegeben: ich bin blind. Gelähmt. Ich spüre meinen Körper nicht. Doch wann hatte ich das je getan?

Vielleicht ist auch gar nichts wahr an der Geschichte und ich bin heute morgen gar nicht aufgewacht und liege auch nicht aufgeschlagen in Giselas Handflächen, sondern im Bett und träume noch?

- Vergiß es! ruft Gisela über soviel Halsstarrigkeit erbost aus, umfaßt beide Buchdeckel und klappt mich wütend zu.

___________

Mein ehemaliger Körper war exakt 1 Meter 79 hoch, rundlich, von gedrungener Statur und mit 116 Kilo eindeutig zu schwer.

Die Füße waren abgeplattet, die Beine, die die Hauptlast trugen, kurz und dünn. Der massive Rumpf, den ich wie eine Bleikugel vorsichtig auf meinen Streichholzbeinen balancierte, war mit festem weißen Fleisch gepanzert. Die Schultern athletisch. Der kurze, dicke Hals war unter dem herabwallenden roten Vollbart so gut wie nicht zu sehen. Er wurde von einem mächtigen Schädel überschattet, auf dem die Nase hervorsprang wie ein Erker. Rotlockiges, drahtiges Haar wuchs in schwer zu bändigenden Büscheln um Geheimratsecken. Blaue Augen schwammen hinter Brillengläsern und blickten milde durch den Betrachter hindurch.


Lesezitate nach Peter Jacobi - Mein Leben als Buch


© by Manuela Haselberger
rezensiert am 30.4.2000

Quelle: http://www.bookinist.de
layout © Thomas Haselberger

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