Wir waren einmal um den Block gegangen und näherten uns wieder dem Parkplatz und meinem Auto. Die Informationen waren am Versiegen.
»Warum erzählst du mir das alles?«
»Ich weiß, wer du bist. Ein paar Freunde auch. Und dass Serge ein Kumpel von dir war. Von früher. Als du noch Sheriff warst.« Er lächelte, und eine Mondsichel erhellte sein Gesicht. »Der Typ war in Ordnung. Er hat geholfen, heißt es. Du auch. Eine Menge Jungs sind dir was schuldig. Die Mütter wissen das. Du hast Kredit bei ihnen.»
»Wie heißt du eigentlich?«
»Anselme. Hab noch keine so große Dummheit angestellt, um bis aufs Kommissariat zu kommen.«
»Erzähl weiter.«
»Meine Alten sind okay. Das Glück haben nicht alle. Und dann Basketball ...« Er lächelte. »Und dann gibt es ja noch chourmo. Weißt du, was das ist?«
Ich wusste es. »Chourmo«, auf provenzalisch »chiourme«, die Ruderer der Galeerenschiffe. Mit Galeeren und Knästen kannte man sich in Marseille aus. Es war nicht nötig, wie vor zweihundert Jahren, Vater und Mutter zu ermorden, um dort zu landen. Nein, heute reichte es, jung zu sein, Einwanderer oder nicht. Der Fanclub von Massilia Sound System, der ausgeflipptesten Gruppe von Raggamuffins, die es gab, hatte den Ausdruck aufgegriffen.
Inzwischen war chourmo ein lockerer Zusammenhang, in dem man sich traf, und eine Unterstützer- oder Fangruppe geworden. Sie waren etwa zweihundertfünfzig bis dreihundert und »unterstützten« mehrere Musikgruppen wie Massilia, Fabulous, Bouducon, Black Lions, Hypnotik, Wadada ... Zusammen hatten sie jüngst ein echtes Höllenalbum herausgebracht. Im Ragga Baletti. Da ging es hoch her am Samstagabend! Aioli!
Chourmo kümmerte sich um die Soundsysteme, und mit Hilfe der Einnahmen wurde eine Fanzeitschrift herausgegeben;
S. 57
... man kann nicht in einem Museum leben, mitten unter Erinnerungen. Die Menschen, die wir einmal geliebt haben, sterben nie. Wir leben mit ihnen. Immer ... Es ist wie mit dieser Stadt, verstehst du, sie lebt von all denen, die hier gelebt haben. Alle haben hier geschwitzt, geschuftet, gehofft. Mein Vater und meine Mutter leben noch immer in diesen Straßen.«
»Weil wir in der Verbannung leben.«
»Marseille ist verbannt. Diese Stadt wird nie etwas anderes sein als die letzte Stufe der Welt. Ihre Zukunft gehört denen, die ankommen. Niemals denen, die sie verlassen.«
»Oh! Und was ist mit denen, die bleiben?«
»Sie sind wie die auf See, Felix. Man weiß nie, ob sie tot oder lebendig sind.«
Wie wir, dachte ich und trank mein Glas aus. Damit Felix nachfüllte.
Was er natürlich eilig tat.
S. 83
Mir ging es mit Serge wie mit den Leuten, die ich liebte. Sie hatten mein Vertrauen. Ich ließ ihnen Dinge durchgehen, die ich nicht verstand. Nur beim Rassismus hatte meine Toleranz ihre Grenzen. Während meiner ganzen Kindheit hatte ich das Leiden meines Vaters mit angesehen. Nicht wie ein Mensch behandelt zu werden, sondern wie ein Hund. Ein Hafenköter. Und dabei war er nur Italiener! Viele Freunde hatte ich, ehrlich gesagt, nicht mehr.
Ich hatte keine Lust, diese Diskussion über Serge weiterzuführen. Mir war dabei trotz allem nicht wohl. Ich wollte dieses Kapitel abschließen. Es bei diesem Schmerz bewenden lassen. Serge. Pavie. Arno. Dieses Kapitel der bereits langen Verlustliste meines Lebens hinzufügen.
Loubet blätterte in Serges Notizbuch. Bei ihm konnte ich hoffen, dass all die sorgfältig festgehaltenen Daten nicht in der hintersten Ecke einer Schreibtischschublade vergammeln würden. Zumindest das Wesentliche. Und vor allem, dass Pertin die Affäre nicht unbeschadet überstehen würde. Er war nicht direkt für Serges Tod verantwortlich. Auch nicht für den von Pavie. Er war nur das Symbol einer Polizei, die mir Übelkeit verursachte. Einer Polizei, bei der politische oder persönliche Ambitionen vor den Werten der Verfassung stehen. Gerechtigkeit. Gleichheit. Pertins gab es massenhaft. Bereit, über Leichen zu gehen. Wenn die Vorstädte eines Tages explodierten, dann wegen Leuten wie ihnen. Wegen ihrer Verachtung. Fremdenfeindlichkeit. Ihrem Hass. Und wegen all ihrer kleinlich berechnenden Schikanen, um eines Tages als
»großer Polizist« dazustehen.
Pertin kannte ich. Für mich war er kein anonymer Bulle. Er hatte ein Gesicht. Es war fett, rot angelaufen. Mit seiner Ray-Ban-BrilIe.
S. 211
Einundzwanzigstes Kapitel
In dem angewidert und völlig erschöpft
in die Luft gespuckt wird
Ich fuhr mit dem Saab zurück. Ich hatte das Radio angestellt und war auf eine Sendung über den Tango gestoßen. Edmundo Riveiro sang Garuffo. Das passte jetzt am besten. Gélous Geständnis hatte mein Herz in ein Bandoneon verwandelt. Aber ich wollte nicht daran denken. Diese letzten Worte so weit wie möglich von mir wegschieben. Sie am liebsten vergessen.
Ich hatte das Gefühl, im Leben der anderen hin und her zu zappen. Unterwegs die Folgen einer Serie einzusammeln. Gélou und Gino. Guituu und Naïma. Serge und Redouane. Cuc und Fahre. Pavie und Saadna. Ich kam immer am Ende an. Dem tödlichen. Dort, wo man stirbt. Immer um ein Leben zu spät. Ein Glück.
So war ich also älter geworden. Zu zögerlich, um das Glück beim Schopf zu packen, wenn ich es vor der Nase hatte. Das hatte ich nie gekonnt. Auch keine Entscheidungen treffen. Oder Verantwortung übernehmen. Nichts von dem, was mir eine Zukunft beschert hätte. Aus Angst, zu verlieren. Und ich verlor. Ein Verlierer.
In Caen hatte ich Magali wieder gesehen. In einem kleinen Hotel. Drei Tage bevor ich nach Dschibuti geflogen war. Wir hatten uns geliebt. Langsam und ausdauernd. Die ganze Nacht. Bevor sie am Morgen unter die Dusche gegangen war, hatte sie gefragt:
»Was soll ich mal werden? Lehrerin oder Mannequin?« Ich hatte nur die Schultern gezuckt. Sie war ausgehfertig angezogen wiedergekommen.
»Hast du es dir überlegt?«, hatte sie gefragt.
»Mach, was du willst«, hatte ich geantwortet. »Ich mag dich so, wie du bist.»
S. 244