Jean - Claude Izzo - Chourmo (Buchtipp/Rezension/lesen)
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dt. Krimipreis 2001 - Platz 1 (international)

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Prolog

Endstation, Marseille,
Bahnhof Saint-Charles

Guitou - wie seine Mutter ihn immer noch nannte - stand oben an der Treppe vor dem Bahnhof Saint-Charles und betrachtete Marseille. »Die große Stadt«. Seine Mutter war hier zur Welt gekommen, aber sie war nie mit ihm hergefahren. Dabei hatte sie es versprochen. Jetzt war er hier. Allein. Wie ein Großer.

In zwei Stunden würde er Naïma wiedersehen.

Deshalb war er hier.

Die Hände in den Taschen seiner Jeans vergraben und eine Camel zwischen den Lippen, stieg er langsam die Stufen hinunter. Der Stadt entgegen.

»Wenn du die Treppen runtergehst, kommst du auf den Boulevard d'Athènes«, hatte Naïma gesagt. »Du folgst ihm bis zur Canebière. Dort gehst du rechts. Richtung Alter Hafen. Wenn du da bist, findest du etwa zweihundert Meter weiter, wiederum rechts, eine große Eckkneipe. Sie heißt La Samaritaine. Dort treffen wir uns. Um sechs. Du kannst sie nicht verfehlen.«

Diese zwei Stunden, die vor ihm lagen, beruhigten ihn. Er würde die Kneipe ausfindig machen. Pünktlich sein. Naïma wollte er nicht warten lassen. Er hatte es eilig, sie wieder zu sehen. Ihre Hand zu nehmen, sie in seine Arme zu schließen, sie zu küssen. Heute Abend würden sie miteinander schlafen. Zum ersten Mal. Das erste Mal für sie und für ihn. Mathias, ein Klassenkamerad Naïmas, hatte ihnen sein Appartement überlassen. Sie würden ganz allein sein. Endlich.

Bei dem Gedanken musste er lächeln. Schüchtern, wie bei seiner ersten Begegnung mit Naïma.

Dann zog er ein Gesicht, als ihm seine Mutter einfiel. S. 9

Ich berichtete ein zweites Mal. Auf dem Kommissariat. Diese kleine Freude konnte Pertin sich nicht versagen. Mir gegenüberzusitzen und mich zu verhören. In diesem Kommissariat, wo ich jahrelang einziger Herr im Hause gewesen war. Es war eine mickrige Revanche, aber er genoss sie mit der Gehässigkeit eines Kleingeistes und würde sie bis ins Letzte auskosten. So eine Gelegenheit ergab sich vielleicht nie wieder.

Und Pertin legte sich hinter seiner verfluchten Ray-Ban-Brille eine Strategie zurecht. Seige und ich waren Kumpel gewesen. Vielleicht waren wir es immer noch. Jemand hatte Serge umgelegt. Wegen einer schmutzigen Sache zweifellos. Ich war da, am Tatort. S. 42


Lesezitat nach Jean - Claude Izzo - Chourmo


Marseille - die letzte Stufe der Welt
Jean - Claude Izzo - Chourmo

abio Montale ist seit dem Skandal in "Total Cheops", als er den Mord an seinen beiden Jugendfreunde aufklärte, nicht mehr Kommissar bei der Polizei in Marseille. Doch so ganz kann er den beruflichen Spürsinn noch nicht an den Nagel hängen, denn Guitou, der Sohn seiner Lieblings–Cousine ist verschwunden und die besorgte Mutter fleht ihn an, ihr zu helfen.

Zunächst denkt Montale an jugendlichen Übermut. Er vermutet, dass sich Guitou zusammen mit seiner neuen Freundin Naima einfach die Sommerferien auf eigene Faust verlängert. Die fette Schlagzeile in der Tageszeitung Marseillaise alarmiert ihn allerdings: "Doppelmord in Panier: Halbnackt Leiche eines nicht identifizierten jungen Mannes."

Montales schlimmste Befürchtung bewahrheitet sich. Guitou ist tot. Doch wo ist seine arabische Freundin untergetaucht, die Augenzeugin des Mordes war?

Der im Januar 2000 verstorbene, französische Krimiautor Jean-Claude Izzo, erhält für "Chourmo", den zweiten Band um Kommissar Montale, den deutschen Krimipreis für den besten internationalen Thriller. Im Mittelpunkt seiner Romane steht die Stadt Marseille mit ihrem bunten Völkergemisch, das sich bis in die Kochtöpfe niederschlägt. Izzos Krimis sind alle stark politisch engagiert, er spießt die schwelenden Spannungen zwischen den eingewanderten Nordafrikanern und der militanten Front National auf, auch Drogen und die Mafia gehören zu seinen Themen.

"Was geschieht, was ich sehe, was ich höre, bringt mich zur Verzweiflung. Ich habe keine Hoffnung mehr. Das Schreckliche ist, dass ich umso verzweifelter bin, je mehr ich schreibe ..." Und Izzo macht in "Solea", dem letzten Band der Trilogie um seinen Helden Montale ernst: Er lässt ihn in einem Handstreich untergehen.

Noch ein Lob an die Adresse des Unionsverlag, denn selten wird so viel Sorgfalt auf ein Taschenbuch verwendet. Es finden sich im Anhang nützliche Worterklärungen der Übersetzer, informative Erläuterungen des Herausgebers Thomas Wörtche, ein Interview mit Izzo und ein differenziertes Autorenportät. Das verdient uneingeschränktes Lob. © manuela haselberger


Jean - Claude Izzo - Chourmo
Originaltitel: »Chourmo«, © 1996
Übersetzt von Katharina Grän und Ronald Voullié

gebunden
© 2000, Zürich, Unionsverlag, 269 S., (HC)
Taschenbuch
© 2000, Zürich, Unionsverlag, 269 S., 8.90 € (TB)



      Taschenbuch


Fortsetzung des Lesezitats ...

Wir waren einmal um den Block gegangen und näherten uns wieder dem Parkplatz und meinem Auto. Die Informationen waren am Versiegen.

»Warum erzählst du mir das alles?«

»Ich weiß, wer du bist. Ein paar Freunde auch. Und dass Serge ein Kumpel von dir war. Von früher. Als du noch Sheriff warst.« Er lächelte, und eine Mondsichel erhellte sein Gesicht. »Der Typ war in Ordnung. Er hat geholfen, heißt es. Du auch. Eine Menge Jungs sind dir was schuldig. Die Mütter wissen das. Du hast Kredit bei ihnen.»
»Wie heißt du eigentlich?«
»Anselme. Hab noch keine so große Dummheit angestellt, um bis aufs Kommissariat zu kommen.«

»Erzähl weiter.«
»Meine Alten sind okay. Das Glück haben nicht alle. Und dann Basketball ...« Er lächelte. »Und dann gibt es ja noch chourmo. Weißt du, was das ist?«

Ich wusste es. »Chourmo«, auf provenzalisch »chiourme«, die Ruderer der Galeerenschiffe. Mit Galeeren und Knästen kannte man sich in Marseille aus. Es war nicht nötig, wie vor zweihundert Jahren, Vater und Mutter zu ermorden, um dort zu landen. Nein, heute reichte es, jung zu sein, Einwanderer oder nicht. Der Fanclub von Massilia Sound System, der ausgeflipptesten Gruppe von Raggamuffins, die es gab, hatte den Ausdruck aufgegriffen.

Inzwischen war chourmo ein lockerer Zusammenhang, in dem man sich traf, und eine Unterstützer- oder Fangruppe geworden. Sie waren etwa zweihundertfünfzig bis dreihundert und »unterstützten« mehrere Musikgruppen wie Massilia, Fabulous, Bouducon, Black Lions, Hypnotik, Wadada ... Zusammen hatten sie jüngst ein echtes Höllenalbum herausgebracht. Im Ragga Baletti. Da ging es hoch her am Samstagabend! Aioli!

Chourmo kümmerte sich um die Soundsysteme, und mit Hilfe der Einnahmen wurde eine Fanzeitschrift herausgegeben; S. 57

... man kann nicht in einem Museum leben, mitten unter Erinnerungen. Die Menschen, die wir einmal geliebt haben, sterben nie. Wir leben mit ihnen. Immer ... Es ist wie mit dieser Stadt, verstehst du, sie lebt von all denen, die hier gelebt haben. Alle haben hier geschwitzt, geschuftet, gehofft. Mein Vater und meine Mutter leben noch immer in diesen Straßen.«
»Weil wir in der Verbannung leben.«

»Marseille ist verbannt. Diese Stadt wird nie etwas anderes sein als die letzte Stufe der Welt. Ihre Zukunft gehört denen, die ankommen. Niemals denen, die sie verlassen.«

»Oh! Und was ist mit denen, die bleiben?«

»Sie sind wie die auf See, Felix. Man weiß nie, ob sie tot oder lebendig sind.«
Wie wir, dachte ich und trank mein Glas aus. Damit Felix nachfüllte.
Was er natürlich eilig tat. S. 83

 

Mir ging es mit Serge wie mit den Leuten, die ich liebte. Sie hatten mein Vertrauen. Ich ließ ihnen Dinge durchgehen, die ich nicht verstand. Nur beim Rassismus hatte meine Toleranz ihre Grenzen. Während meiner ganzen Kindheit hatte ich das Leiden meines Vaters mit angesehen. Nicht wie ein Mensch behandelt zu werden, sondern wie ein Hund. Ein Hafenköter. Und dabei war er nur Italiener! Viele Freunde hatte ich, ehrlich gesagt, nicht mehr.

Ich hatte keine Lust, diese Diskussion über Serge weiterzuführen. Mir war dabei trotz allem nicht wohl. Ich wollte dieses Kapitel abschließen. Es bei diesem Schmerz bewenden lassen. Serge. Pavie. Arno. Dieses Kapitel der bereits langen Verlustliste meines Lebens hinzufügen.

Loubet blätterte in Serges Notizbuch. Bei ihm konnte ich hoffen, dass all die sorgfältig festgehaltenen Daten nicht in der hintersten Ecke einer Schreibtischschublade vergammeln würden. Zumindest das Wesentliche. Und vor allem, dass Pertin die Affäre nicht unbeschadet überstehen würde. Er war nicht direkt für Serges Tod verantwortlich. Auch nicht für den von Pavie. Er war nur das Symbol einer Polizei, die mir Übelkeit verursachte. Einer Polizei, bei der politische oder persönliche Ambitionen vor den Werten der Verfassung stehen. Gerechtigkeit. Gleichheit. Pertins gab es massenhaft. Bereit, über Leichen zu gehen. Wenn die Vorstädte eines Tages explodierten, dann wegen Leuten wie ihnen. Wegen ihrer Verachtung. Fremdenfeindlichkeit. Ihrem Hass. Und wegen all ihrer kleinlich berechnenden Schikanen, um eines Tages als »großer Polizist« dazustehen.

Pertin kannte ich. Für mich war er kein anonymer Bulle. Er hatte ein Gesicht. Es war fett, rot angelaufen. Mit seiner Ray-Ban-BrilIe. S. 211

 

Einundzwanzigstes Kapitel
In dem angewidert und völlig erschöpft
in die Luft gespuckt wird

Ich fuhr mit dem Saab zurück. Ich hatte das Radio angestellt und war auf eine Sendung über den Tango gestoßen. Edmundo Riveiro sang Garuffo. Das passte jetzt am besten. Gélous Geständnis hatte mein Herz in ein Bandoneon verwandelt. Aber ich wollte nicht daran denken. Diese letzten Worte so weit wie möglich von mir wegschieben. Sie am liebsten vergessen.

Ich hatte das Gefühl, im Leben der anderen hin und her zu zappen. Unterwegs die Folgen einer Serie einzusammeln. Gélou und Gino. Guituu und Naïma. Serge und Redouane. Cuc und Fahre. Pavie und Saadna. Ich kam immer am Ende an. Dem tödlichen. Dort, wo man stirbt. Immer um ein Leben zu spät. Ein Glück.

So war ich also älter geworden. Zu zögerlich, um das Glück beim Schopf zu packen, wenn ich es vor der Nase hatte. Das hatte ich nie gekonnt. Auch keine Entscheidungen treffen. Oder Verantwortung übernehmen. Nichts von dem, was mir eine Zukunft beschert hätte. Aus Angst, zu verlieren. Und ich verlor. Ein Verlierer.

In Caen hatte ich Magali wieder gesehen. In einem kleinen Hotel. Drei Tage bevor ich nach Dschibuti geflogen war. Wir hatten uns geliebt. Langsam und ausdauernd. Die ganze Nacht. Bevor sie am Morgen unter die Dusche gegangen war, hatte sie gefragt:

»Was soll ich mal werden? Lehrerin oder Mannequin?« Ich hatte nur die Schultern gezuckt. Sie war ausgehfertig angezogen wiedergekommen.

»Hast du es dir überlegt?«, hatte sie gefragt.
»Mach, was du willst«, hatte ich geantwortet. »Ich mag dich so, wie du bist.» S. 244

Lesezitate nach Jean - Claude Izzo - Chourmo



Jean-Claude Izzo

Jean-Claude Izzo, 1945 in Marseille geboren, war lange Jahre Journalist. Nachdem er als Chefredakteur der Zeitschrift Viva aus politischen Gründen gefeuert wurde, begann er, Romane zu schreiben. Genauer: Kriminalromane. Ganz in der Tradition des französischen »NéoPolar« von Jean Amila, Jean-Patrick Manchette oder Didier Daeninckx, also mit starkem politischem Akzent, als Teil einer literarischen Gegenöffentlichkeit. lzzo war schon fünfzig Jahre alt, als sein Erstling Total Cheops sofort ein Bestseller wurde. Nach dem dritten Roman um den »flic banlieu« Fabio Montale (die Trilogie wird bei UT metro fortgesetzt) hat sich lzzo dauerhaft an der Spitze des französischen Kriminalromans etabliert.

Gerade weil die Fabin-Montale-Romane »nur« Kriminalromane sein wollen, sind sie mehr oder anderes als »nur« Kriminalromane. Ganz unter der Hand. Und deswegen ist es logisch, dass lzzo sich auch außerhalb des Genres bewegt: Mit den Romanen Les marins perdus und der Lyrik-Sammlung Loin de tous rivages hat er sich als hochklassiger Gegenwartsautor erwiesen. lzzo, der ein autodidaktischer Schriftsteller ohne Diplome und akademische Titel ist, sieht solche Unterscheidungen gar nicht gern. Zwar versteht er sich selbst »in aller Bescheidenheit« als Schüler von Leonardo Sciascia, findet aber generell, dass »Lesen und Schreiben« die Vereinzelung überwinden und dass man mit Kriminalromanen die »komplexe Wirklichkeit« am besten in den Griff bekommen kann.

Von lzzo wurde gesagt, er sei »Marseiller durch und durch. Das heißt: halb Italiener, halb Spanier mit arabischem Blut und Oliven von beiden Seiten.« Wie also sollte so jemand seine Stadt beschreiben wollen, ohne die Grundsubsistenz, das Essen, zu erwähnen? Denn nirgends schlägt sich die Mischung der Völker und Kulturen so deutlich erfahrbar nieder wie im Kochtopf. Man nennt das heutzutage gerne »crossover«. Aber weil lzzo wirklich etwas vom Essen und von der Wirklichkeit versteht, also von Berufs und der Kunst wegen ganz genau hinguckt, enttäuscht er sofort diesen lieb gewordenen Topos und gab Le Monde diplomatique folgende Ketzereien zu Protokoll:

»Ganz ohne Romantik war - und bleibt - Marseille der Ort, an dem sich die Exilierten der Welt begegnen. In den meisten Restaurants isst man folglich einfach und für wenig Geld. Die Gerichte sind mit einem treuen Festhalten am Ursprung zubereitet. Die Küche erneuert sich nicht, sie mischt sich nicht, sie bleibt bestehen. Essen verbindet mit der Heimat. Sich an den Tisch zu setzen, im Restaurant oder zu Hause, mit der Familie oder mit Freunden, das bedeutet, an die Erinnerung, an die Vergangenheit anzuknüpfen. Und wenn sich solch ein Kreis öffnet - Marseille ist eine offene Tür -, dann darum, um mit einer hübschen Portion Stolz zur Teilnahme an der Schönheit einzuladen, die dem Ort eignet, von dem man herkommt.«

In diesem Antiklischee treffen sich Kochen und Morden dann wieder ganz folgerichtig. Denn es geht in Total Cheops nicht um Mafia-Folklore, sondern um die knallharte realpolitische Bedrohung Frankreichs durch die militante Rechte. Um das zu sehen, muss man allerdings ganz genau hinschauen.

Im Januar 2000 ist Jean-Claude lzzo gestorben.

T.W. (Thomas Wörtche; Hrsg. der UT metro - Reihe)

 

Bibliografie

Die Fabio-Montale-Trilogie: Total Khéops (1995, dt. Total Cheops, 2000), Chourmo (1996, dt. Chourmo, 2000), Solea (1998; dt. Solea, 2001).
Andere Werke: Cuisine exotique insolite (1992), Les marins perdus (1997), Loin de tous rivages (1997), 13, Passage Gachimpega 13000 Marseille (1998), Vivre fatigue (1998), L'Aride des Jours (1999), Le soleil des mourants (1999). Texte u.a. in: Marseille (Guide, 1998), Les vins de France (1999).




Jean - Claude Izzo
Biografie
Bibliografie






weitere Titel von
Jean - Claude Izzo:

Taschenbuch:


Total Cheops

© 1995


Solea

© 1998

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© 13.2.2001 by
Manuela Haselberger
Quelle: http://www.bookinist.de