Zum ersten Mal lernte ich damals jene Schlaflosigkeit kennen, die einen nach zwei bis drei Stunden Nachtruhe mit klopfendem Herzen wieder aus dem Schlaf reißt, weil einen das Übermaß der Probleme um die innere Ruhe bringt. Und zum ersten Mal meinte ich zu spüren, wie es ist, wenn man sich in Richtung Herzinfarkt bewegt. Die Nächte wurden immer kürzer, die Arbeitstage immer länger, die Wochenenden fielen immer öfter aus, die Katastrophen rissen nicht ab, der Problemdruck wuchs und wuchs, die Verantwortung wurde Immer drückender, der Streß nahm unerbittlich zu, und ein Ausweg war nicht in Sicht. Weglaufen ging nicht, zumindest für mich nicht -, obwohl diese Haltung ja neuerdings durchaus en vogue zu werden scheint -, also mußte ich durchhalten, mich gegen all die Unbill psychisch und körperlich wappnen. Und so begann ich zu futtern und zu mampfen und legte mir für Körper und Seele im wahrsten Sinne des Wortes einen regelrechten Panzer in Gestalt eines sich immer mächtiger wölbenden Bauches zu. Zudem hatte Ich zu rauchen aufgehört, die Selbstgedrehten paßten einfach nicht zum Umweltminister.
Im März 1986 klappte zum ersten Mal in meiner Erinnerung mein Immunsystem aufgrund der Oberanstrengung durch die ersten Monate in der Landesregierung völlig zusammen, und ich lag mit einer für meine Verhältnisse sehr schweren Grippe tagelang darnieder. Aber auch dieses an sich sehr positive Signal verstarkte noch ganz erheblich die Eskalation meiner Pfunde. Und so kam das eine zum anderen, und am Ende des Liedes standen 112 Kilogramm Lebendgewicht Fischer.
Kompensation, Panzerung, Verdrängung - gemeinsam mit dem Älterwerden waren das die wichtigsten Ursachen für meinen immer dramatischer werdenden Gewichtsanstieg.
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Im Februar 1997 (Februar!) hatte ich an der Fähre Plittersdorf die 10-Kilometer-Marke (immer Hin- und Rückweg gerechnet) erreicht, und von weitem sah ich bereits die weißen Gebäude des »Rheinhotel Dreeßen« mit der 12-Kilometer-Marke winken. Es ging also voran mit meinen läuferischen Exerzitien, unaufhaltsam, und es ging synchron dazu stetig weiter abwärts mit meinem Körpergewicht. Beide Erfolgskurven zusammen - die Länge der Laufstrecke und die Maßzahl der Waage - bedeuteten für meine Motivation einen gewaltigen Schub, weiter durchzuhalten und die Anstrengungen sogar noch zu verstärken. Auch die Waage meldete wöchentlich neue Abnehmrekorde: Die 85 Kilogramm Lebendgewicht lagen jetzt hinter mir, und ich näherte mich meiner Zielmarke von 80 Kilogramm. Allerdings wollte ich keineswegs jetzt schon mit der Gewichtsreduktion aufhören, und so mußte ich mir auch gewichtsmäßig neue Ziele setzen. Ich befand mich in einer Stimmung des »jetzt will ich es wissen!«, d.h. die Frage mußte beantwortet werden, ob ich am Ende gar die 75 Kilogramm schaffen würde. 75 Kilogramm! Das war ziemlich genau mein »Einstiegsgewicht« gewesen, damals im Jahr 1983, als ich zum ersten Mal in den Bundestag zog und mein gemütliches alternatives Leben beendete.
Lesezitat nach Joschka Fischer - Mein langer Lauf zu mir selbst, S.