Donata Elschenbroich - Weltwissen der Siebenjährigen (Buchtipp/Rezension/lesen)
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Menschen sind Wesen, die nicht nur geboren werden, sondern noch zur Welt kommen müssen. Frühgeboren zu sein ist eines unserer wesentlichen Gattungsmerkmale. Um uns in der Welt schrittweise einquartieren zu können, sind wir darauf angewiesen, dass man sie uns zeigt. Die menschlichen Nachkommen wiederum sind die einzigen jungen Lebewesen, die auf die Dinge zeigen. Eine Aufforderung, eine Bitte, ein schon vor dem Spracherwerb begonnener Dialog: Der Säugling, das noch nicht ich-sagende Subjekt, bittet, fordert: Erklär mir. Antworte! Der Finger, die Hand des Kindes - es kann den Kopf schon heben, drehen -, sie wählt aus. In der Umwelt, in die das Kind hinausgetreten ist, in diesem aktuellen Ausschnitt von Welt überhaupt, wählt es zielgerichtet: den erstaunlichen Gegenstand, da! das Fahrrad, der Föhn: da! Das Kind staunt. Und verwandelt sein Staunen in eine Geste, in ein Fragezeichen: ein geborener Lerner. Das Kind inszeniert den Dialog: Der Blick wandert vom Phänomen zum Erwachsenen, dem weltsicheren älteren Gattungsgenossen. Mit instinktivem Vertrauen in dessen Macht, sein Weltwissen und seine Gutartigkeit, fordert es: Gib ab davon! Teile mit mir. Du bist jetzt dran! Und der Erwachsene, er kann nicht anders. Die Mutter, biologische Mäzenin über neun Monate, setzt ihr Mäzenat als ein elementar pädagogisches fort. Nicht nur die Mutter, wir alle sind geborene Lehrer. Wir können uns nicht verweigern. Intuitiv verfallen wir im Dialog mit Säuglingen in den Singsang einer bis zu einer Oktave angehobenen Kopfstimme, wir dehnen und wiederholen die Silben und bieten dem Säugling damit die bestmögliche Propädeutik für den Spracherwerb. Wir bringen automatisch unser Gesicht im richtigen Winkel und im richtigen Abstand für die Augen der Neugeborenen so in Stellung, dass sie die Botschaften des menschlichen Gesichts entziffern lernen. S. 17


Lesezitat nach Donata Elschenbroich - Weltwissen der Siebenjährigen


Die Zukunft lernt im Kindergarten
Donata Elschenbroich - Weltwissen der Siebenjährigen

onata Elschenbroich arbeitet am Deutschen Jugendinstitut und hat mit den Ergebnissen ihrer Studie, die sie in den Jahren von 1996 bis 1998 gesammelt hat, helle Aufregung in der pädagogischen Welt ausgelöst. Das Thema ihrer Forschung: "Was sollte heute ein Kind in den ersten sieben Lebensjahren wissen, können, erfahren haben? Womit sollte es zumindest in Berührung gekommen sein?"

Die Alterstufe der Siebenjährigen wurde darum gewählt, weil mit diesem Alter in vielen Kulturen ein erster Lebensabschnitt beendet ist. In Deutschland markiert dieser Einschnitt den Übergang ins erste Schuljahr.

Sofort ist das schlechte erzieherische Gewissen der Eltern in Aufregung versetzt. "Haben wir wirklich genug für unseren Nachwuchs getan - ihn ausreichend gefördert, motiviert, oder sitzt er viel zu lang vor der Glotze oder dem PC?"

Und die Liste, die Donata Elschenbroich dann zur Orientierung vorlegt, hat es in sich. Nicht jeder Erwachsene kann die Ansprüche an den Nachwuchs für sich als erledigt abhaken.

Folgende Anforderungen finden sich neben vielen anderen darunter:

  • Ein siebenjähriges Kind sollte vier Ämter im Haushalt ausführen können (hierbei scheitern schon eine ganze Menge Ehemänner)
  • Es sollte den langsamen Satz einer Sinfonie vom Recorder dirigiert haben
  • Drei Lieder singen können, davon eines in einer anderen Sprache
  • Es sollte wissen, was Blindenschrift ist und vielleicht drei Wörter in Blindenschrift verstehen
  • Reimen können, in zwei Sprachen
  • Ein chinesisches Zeichen geschrieben haben

Die Liste ließe sich noch in vielen Punkten fortsetzen und sicher ist der eine oder andere Punkt streitbar. Doch der Untertitel von Donata Elschenbroich macht es deutlich: "Wie Kinder die Welt entdecken können" und hier soll vor allem die Möglichkeit des Könnens betont werden. Und wenn der ganze Katalog, der mit vielen unterschiedlichen Wissenschaftlern erarbeitet wurde, nicht als stressiges Pflichtprogramm, sondern als Orientierungshilfe im Umgang mit den bis zu Siebenjährigen betrachtet wird, dann stecken in ihm eine Fülle von Anregungen, Gelegenheiten, Angeboten, die Eltern mit ihren Kindern ausprobieren können. Wie wär's mit dem Bau eines Baumhauses? Ihr Kind ist sicher hellauf begeistert. © manuela haselberger


Donata Elschenbroich - Weltwissen der Siebenjährigen
© 2001, München, Kunstmann Verlag, 260 S., 16.90 Eur (HC)
© 2002, München, Goldmann, 284 S.,   9.90 Eur (TB)

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Ein Buchtipp der Bookinist-Redaktion: Wie weit heute die Theorie vom Kind gewachsen ist, kann man ermessen, wenn man Donata Elschenbroichs Buch mit den historischen Tatsachenberichten über Kindererziehungsmethoden vor 1900 aus dem Buch "Die Kunst Kinder zu kneten" (Rudi Palla) vergleicht.

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Fortsetzung des Lesezitats ...

Weltwissen: Die Recherche

Was sollte heute ein Kind in den ersten sieben Lebensjahren wissen, können, erfahren haben? Womit sollte es zumindest in Berührung gekommen sein?
Drei Jahre lang, zwischen 1996 und 1999, haben wir das Menschen allen Alters, aller Schichten und Bildungshintergründe gefragt. Eltern, Großeltern, Erzieher, Jugendliche. Hirnforscher, Entwicklungspsychologen, Medizinsoziologen und Grundschuldidaktiker. Den Direktor eines Altenheims, einen Erzbischof, Mütter in der Müttergenesungskur, arbeitslose Väter, Unternehmer, den General der Schweizer Armee, den Verkäufer im Bahnhofskiosk, die Verkäuferin im Media-Markt, eine türkische Analphabetin, die Studentin der Betriebswirtschaft - welche Wünsche haben sie, Fachleute aller Art, an das Weltwissen der heute Siebenjährigen?

(Warum Siebenjährige? Eine magische Zahl. Ein erster Lebensabschnitt in vielen Kulturen. In Deutschland markiert er eine Schwelle vom beiläufigen zum formalisierten Lernen; dieser Lebensabschnitt mündet ins erste Schuljahr.)

Eine solche Recherche muss vielstimmig sein. Alle hatten dazu etwas zu sagen, und alle waren sie Autorität. (Nur ein einziger Experte hat das Gespräch verweigert, ein Zukunftsforscher. Ob er als Vater von drei Kindern oder als Zukunftsforscher befragt werden sollte? Beides zugleich, wie vorgeschlagen, war für ihn undenkbar. Er blieb bei seiner Ablehnung.)

In über hundertfünfzig Gesprächen wurde der Horizont der Siebenjährigen umwandert. Gespräche über Weltwissen, das man den Nachkommen wünscht, sind, wie alle Erziehungsgespräche, immer auch Selbstgespräche. Die Frage war prismatisch, sie hat ein Spektrum von Lebenserfahrungen und Berufserfahrungen aufgebrochen.
In Kindern begegnen Erwachsene sich selbst. Sie interessieren sich flir sie mit den Fragen, die ihnen ihr Erwachsenenleben gerade aufgibt. S. 20

Kann eine ideale Kindheit besser sein als die reale, die erlebte? Ist nicht der wirkliche Mensch der höhere Wert als der wünschbare Mensch? Ist der optimale Siebenjährige ein totalitäres Konstrukt?

Ein Missverständnis! haben wir entgegnet. Das ist keine Checkliste der bei den Kindern abzuprüfenden Fertigkeiten und Erfahrungen. Eher schon ist es eine Checkliste der Pflichten der Erwachsenen. Es soll ihrer Selbstverpflichtung dienen: Welche Bildungsgelegenheiten schulden wir den Siebenjährigen? Ein Versprechen: dafür zu sorgen nehmen wir uns vor, wir Eltern, Erzieher, Nachbarn. Angeboten soll es den Kindern werden. In den Horizont der Erwachsenen sollten diese Möglichkeiten in den ersten sieben Lebensjahren ihrer Kinder irgendwann einmal getreten sein.

Fülle spricht von der Macht des Möglichen. Nicht alle Beispiele für Bildungs-Anlässe können in ein einziges Kinderleben gepresst werden, "bulimisch", wie ein Vater befürchtete. Das überstimulierte Kind, bis zum Anschlag gefördert, belagert, pädagogisch umkreist, überfordert...
Nein,als Generation sind die Siebenjährigen gemeint!
Und doch: Keine dieser Gelegenheiten sollte in einem Kinderleben grundsätzlich von vorneherein aus-geschlossen sein.

Nur so kann ein Bildungskanon für die frühen Jahre heute aussehen. Die Überlegenheit des Möglichen über das Wirkliche muss immer spürbar bleiben. Das Wirkliche darf das Mögliche nicht so reduzieren, dass sich der Horizont schließt.

Diese Beschränkung ist im "Situationsansatz" angelegt, der bei westdeutschen Kindergartenerziehern seit den 70er Jahren beliebt ist. Bequem vereinfacht hört sich das pädagogische Konzept so an: "Die Kinder interessiert nur, was sie selbst fragen. Wir greifen nur das auf, was ihrer Lebenssituation entspricht..."
Das legt Kinder fest auf den Zufall ihrer Geburt, ihrer Schicht.
Wir kommen nicht umhin, selbst gegenüber den Kindern Schicksal zu spielen. Beeren vom Busch pflücken, Orgelspiel in einem Dom hören, ein Stück Mauer bauen, eine Nachtwanderung - das sind elementare Bildungserlebnisse, die die aktuelle"Lebenssituation" der Kinder nicht hergibt. S. 24-25


Ein Bildungskanon für die frühen Jahre?
Gespräche mit Prof em. Dr. Franz Emanuel Weinert,
Prof. Dr. Rolf Oerter und Dr. Heimfrid Wolff

"Es gibt zur Zeit viel Interesse für das, was man die impliziten Alltagstheorien von Menschen nennt, die kollektiven subjektiven Theorien, die Übereinstimmungen zwischen Menschen unterschiedlicher Herkunft, Berufe, Biographien. Von daher ist es in jedem Fall ausgesprochen interessant zu erfahren, was Leute glauben, was Kinder eines bestimmten Alters erfahren, gehört, gesehen, erlebt, gelernt haben sollten. Ich halte das für hoch wünschbar und für notwendig, weil es auch unausgesprochene Erwartungen an Kinder und damit ihre wichtigsten Sozialisationsbedingungen berührt.

Der Übergang allerdings von einer solchen kollektiven naiven Theorie über die Bildung der nachwachsenden Generation zu einem Curriculum - das ist schwierig. Das sollte kein explizites Curriculum werden, das sollte man als ein Bündel von Anregungen unverbindlich halten. In den 70erJahren sind schon negative Erfahrungen gesammelt worden, als man versuchte, naive Bildungsvorstellungen, ein Sammelsurium an Ideen, in Curricula zu übersetzen.
Ein Kanon ist aber etwas anderes als ein Curriculum.S. 58


"Strahlende Intelligenz" im Vorschulalter. Und wie geht es weiter?

Zum Ende des "Jahrhunderts des Kindes" sprach aus den Diskursen über Kinder und Erziehung ein düsteres Bild vom Aufwachsen in Deutschland. Da war viel die Rede von der "Kinderfeindlichkeit" der Deutschen, als einem mangelnden Interesse an Kindern und als Intoleranz gegenüber ihren Lebensäußerungen.

Sozialwissenschaftler sahen im Geburtenrückgang und in der steigenden Zahl von Kindern, die unterhalb der Armutsgrenze leben, Anzeichen von "struktureIler Kinderfeindlichkeit". Der 10. Kinder- und Jugendbericht der Bundesregierung forderte 1998 eine "Kultur des Aufwachsens", die in Deutschland überhaupt erst entstehen müsste.

Aus unserem Weitwissen-Gesprächen in Familien entstand oft ein anderes Bild. "So kann Aufwachsen heute aussehen, wenn alles gut geht." Überraschende EinbIicke in optimale Entwicklungsbedingungen für Kinder, gute Orte fur das Aufwachsen von Kindern bei Eltern mit Energie, spontanen Ideen und beachtlichem Wissen über kindliche Entwicklung, das, abrufbereit, heute Allgemeinwissen geworden ist.

Bemerkenswert waren auch die Gespräche mit den "neuen Vätern". Statistisch, wie man weiß, sind sie - die Väter, die ihre Berufstätigkeit durch Erziehungszeit unterbrechen, oder alleinerziehende Väter - unter den acht Millionen deutschen Vätern eine kleine Minderheit. Alleinerziehende Väter sind allerdings zur Zeit die am schnellsten wachsende Familienform in Deutschland, mit einem Zuwachs in den vergangnen vierzig Jahren um 250%. Von niedrigem Niveau ausgehende Zuwachsraten wirken immer dramatisch, aber immerhin sind ein Fünftel aller Alleinerziehenden in Deutschund heute Männer. Für ihr tägliches Zusammenleben mit den Kindern gibt es wenig Routinen, kein Drehbuch, kein Verhaltenskript. "Bemuttern" - aber was ist "Bevatern"? Das gibt auch Freiheit. Diese Väter wollen sich nichts vorschreiben lassen. Gegenüber der Weltwissen-Liste waren sie kritischer als die Mütter. S. 142

Lesezitate nach Donata Elschenbroich - Weltwissen der Siebenjährigen













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© 26.6.2001 by
Manuela Haselberger
Quelle: http://www.bookinist.de