Weltwissen: Die Recherche
Was sollte heute ein Kind in den ersten sieben Lebensjahren wissen, können, erfahren haben? Womit sollte es zumindest in Berührung gekommen sein?
Drei Jahre lang, zwischen 1996 und 1999, haben wir das Menschen allen Alters, aller Schichten und Bildungshintergründe gefragt. Eltern, Großeltern, Erzieher, Jugendliche. Hirnforscher, Entwicklungspsychologen, Medizinsoziologen und Grundschuldidaktiker. Den Direktor eines Altenheims, einen Erzbischof, Mütter in der Müttergenesungskur, arbeitslose Väter, Unternehmer, den General der Schweizer Armee, den Verkäufer im Bahnhofskiosk, die Verkäuferin im Media-Markt, eine türkische Analphabetin, die Studentin der Betriebswirtschaft - welche Wünsche haben sie, Fachleute aller Art, an das Weltwissen der heute Siebenjährigen?
(Warum Siebenjährige? Eine magische Zahl. Ein erster Lebensabschnitt in vielen Kulturen. In Deutschland markiert er eine Schwelle vom beiläufigen zum formalisierten Lernen; dieser Lebensabschnitt mündet ins erste Schuljahr.)
Eine solche Recherche muss vielstimmig sein. Alle hatten dazu etwas zu sagen, und alle waren sie Autorität. (Nur ein einziger Experte hat das Gespräch verweigert, ein Zukunftsforscher. Ob er als Vater von drei Kindern oder als Zukunftsforscher befragt werden sollte? Beides zugleich, wie vorgeschlagen, war für ihn undenkbar. Er blieb bei seiner Ablehnung.)
In über hundertfünfzig Gesprächen wurde der Horizont der Siebenjährigen umwandert. Gespräche über Weltwissen, das man den Nachkommen wünscht, sind, wie alle Erziehungsgespräche, immer auch Selbstgespräche. Die Frage war prismatisch, sie hat ein Spektrum von Lebenserfahrungen und Berufserfahrungen aufgebrochen.
In Kindern begegnen Erwachsene sich selbst. Sie interessieren sich flir sie mit den Fragen, die ihnen ihr Erwachsenenleben gerade aufgibt. S. 20
Kann eine ideale Kindheit besser sein als die reale, die erlebte? Ist nicht der wirkliche Mensch der höhere Wert als der wünschbare Mensch? Ist der optimale Siebenjährige ein totalitäres Konstrukt?
Ein Missverständnis! haben wir entgegnet. Das ist keine Checkliste der bei den Kindern abzuprüfenden Fertigkeiten und Erfahrungen. Eher schon ist es eine Checkliste der Pflichten der Erwachsenen. Es soll ihrer Selbstverpflichtung dienen: Welche Bildungsgelegenheiten schulden wir den Siebenjährigen? Ein Versprechen: dafür zu sorgen nehmen wir uns vor, wir Eltern, Erzieher, Nachbarn. Angeboten soll es den Kindern werden. In den Horizont der Erwachsenen sollten diese Möglichkeiten in den ersten sieben Lebensjahren ihrer Kinder irgendwann einmal getreten sein.
Fülle spricht von der Macht des Möglichen. Nicht alle Beispiele für Bildungs-Anlässe können in ein einziges Kinderleben gepresst werden, "bulimisch", wie ein Vater befürchtete. Das überstimulierte Kind, bis zum Anschlag gefördert, belagert, pädagogisch umkreist, überfordert...
Nein,als Generation sind die Siebenjährigen gemeint!
Und doch: Keine dieser Gelegenheiten sollte in einem Kinderleben grundsätzlich von vorneherein aus-geschlossen sein.
Nur so kann ein Bildungskanon für die frühen Jahre heute aussehen. Die Überlegenheit des Möglichen über das Wirkliche muss immer spürbar bleiben. Das Wirkliche darf das Mögliche nicht so reduzieren, dass sich der Horizont schließt.
Diese Beschränkung ist im "Situationsansatz" angelegt, der bei westdeutschen Kindergartenerziehern seit den 70er Jahren beliebt ist. Bequem vereinfacht hört sich das pädagogische Konzept so an: "Die Kinder interessiert nur, was sie selbst fragen. Wir greifen nur das auf, was ihrer Lebenssituation entspricht..."
Das legt Kinder fest auf den Zufall ihrer Geburt, ihrer Schicht.
Wir kommen nicht umhin, selbst gegenüber den Kindern Schicksal zu spielen. Beeren vom Busch pflücken, Orgelspiel in einem Dom hören, ein Stück Mauer bauen, eine Nachtwanderung - das sind elementare Bildungserlebnisse, die die aktuelle"Lebenssituation" der Kinder nicht hergibt. S. 24-25
Ein Bildungskanon für die frühen Jahre?
Gespräche mit Prof em. Dr. Franz Emanuel Weinert,
Prof. Dr. Rolf Oerter und Dr. Heimfrid Wolff
"Es gibt zur Zeit viel Interesse für das, was man die impliziten Alltagstheorien von Menschen nennt, die kollektiven subjektiven Theorien, die Übereinstimmungen zwischen Menschen unterschiedlicher Herkunft, Berufe, Biographien. Von daher ist es in jedem Fall ausgesprochen interessant zu erfahren, was Leute glauben, was Kinder eines bestimmten Alters erfahren, gehört, gesehen, erlebt, gelernt haben sollten. Ich halte das für hoch wünschbar und für notwendig, weil es auch unausgesprochene Erwartungen an Kinder und damit ihre wichtigsten Sozialisationsbedingungen berührt.
Der Übergang allerdings von einer solchen kollektiven naiven Theorie über die Bildung der nachwachsenden Generation zu einem Curriculum - das ist schwierig. Das sollte kein explizites Curriculum werden, das sollte man als ein Bündel von Anregungen unverbindlich halten. In den 70erJahren sind schon negative Erfahrungen gesammelt worden, als man versuchte, naive Bildungsvorstellungen, ein Sammelsurium an Ideen, in Curricula zu übersetzen.
Ein Kanon ist aber etwas anderes als ein Curriculum.S. 58
"Strahlende Intelligenz" im Vorschulalter. Und wie geht es weiter?
Zum Ende des "Jahrhunderts des Kindes" sprach aus den Diskursen über Kinder und Erziehung ein düsteres Bild vom Aufwachsen in Deutschland. Da war viel die Rede von der "Kinderfeindlichkeit" der Deutschen, als einem mangelnden Interesse an Kindern und als Intoleranz gegenüber ihren Lebensäußerungen.
Sozialwissenschaftler sahen im Geburtenrückgang und in der steigenden Zahl von Kindern, die unterhalb der Armutsgrenze leben, Anzeichen von "struktureIler Kinderfeindlichkeit". Der 10. Kinder- und Jugendbericht der Bundesregierung forderte 1998 eine "Kultur des Aufwachsens", die in Deutschland überhaupt erst entstehen müsste.
Aus unserem Weitwissen-Gesprächen in Familien entstand oft ein anderes Bild. "So kann Aufwachsen heute aussehen, wenn alles gut geht." Überraschende EinbIicke in optimale Entwicklungsbedingungen für Kinder, gute Orte fur das Aufwachsen von Kindern bei Eltern mit Energie, spontanen Ideen und beachtlichem Wissen über kindliche Entwicklung, das, abrufbereit, heute Allgemeinwissen geworden ist.
Bemerkenswert waren auch die Gespräche mit den "neuen Vätern". Statistisch, wie man weiß, sind sie - die Väter, die ihre Berufstätigkeit durch Erziehungszeit unterbrechen, oder alleinerziehende Väter - unter den acht Millionen deutschen Vätern eine kleine Minderheit. Alleinerziehende Väter sind allerdings zur Zeit die am schnellsten wachsende Familienform in Deutschland, mit einem Zuwachs in den vergangnen vierzig Jahren um 250%. Von niedrigem Niveau ausgehende Zuwachsraten wirken immer dramatisch, aber immerhin sind ein Fünftel aller Alleinerziehenden in Deutschund heute Männer. Für ihr tägliches Zusammenleben mit den Kindern gibt es wenig Routinen, kein Drehbuch, kein Verhaltenskript. "Bemuttern" - aber was ist "Bevatern"? Das gibt auch Freiheit. Diese Väter wollen sich nichts vorschreiben lassen. Gegenüber der Weltwissen-Liste waren sie kritischer als die Mütter. S. 142
Lesezitate nach Donata Elschenbroich - Weltwissen der Siebenjährigen