Polina Daschkowa - Die leichten Schritte des Wahnsinns (Buchtipp/Rezension/lesen)
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Kapitel 1     Moskau, März 1996

Lena Poljanskaja zog den Kinderwagen durch den tiefen Frühjahrsmatsch und kam sich dabei vor wie ein Wolgatreidler. Die Räder versanken in dem pappigen, angetauten Schnee, auf dem Bürgersteig der schmalen Straße türmten sich hartgewordene Schneewehen, und die Autos bespritzten die Passanten mit dickem braunem Schmutz.

Die zweijährige Lisa versuchte die ganze Zeit, sich im Kinderwagen aufzustellen, sie wollte unbedingt selbst laufen, denn sie fand sich schon viel zu groß für einen Kinderwagen, und außerdem passierte ringsum so viel Interessantes: Spatzen und Krähen zankten sich lauthals um eine feuchte Brotrinde, ein junger Hund mit zotteligem rotem Fell jagte hinter seinem eigenen Schwanz her, ein großer Junge kam ihnen entgegen und biß in einen riesigen, leuchtendroten Apfel.

"Mama, Lisa will auch Apfel", erklärte die Kleine mit wichtiger Stimme und versuchte von neuem, auf die Beine zu kommen.

Am Griff des Kinderwagens hing eine große Tasche mit Lebensmitteln. Kaum wollte Lena ihre Tochter hochheben, um sie wieder richtig hinzusetzen, verlor der Wagen auch schon das Gleichgewicht und kippte um. "Alles hinfallen", stellte Lisa seufzend fest. "Ja Lisa, alles hingefallen. Jetzt sammeln wir es wieder auf." Lena stellte ihre Tochter vorsichtig auf den Bürgersteig, hob die Lebensmittelpakete auf und klopfte sie mit dem Handschuh sauber. Plötzlich bemerkte sie, daß sie aus einem dunkelblauen Volvo, der auf der anderen Straßenseite parkte, beobachtet wurde. S. 5-6


Lesezitat nach Polina Daschkowa - Die leichten Schritte des Wahnsinns


Russland heute
Polina Daschkowa - Die leichten Schritte des Wahnsinns

n Russland ist Polina Daschkowa ein Star. Bei einer Gesamtauflage von zwölf Millionen verkauften Büchern gehört sie zu den absoluten Top-Autorinnen. In Deutschland ist die junge Autorin, geboren 1960, mit ihrem Debüt "Die leichten Schritte des Wahnsinns" eine absolute Entdeckung.

Hauptperson des brillanten Krimis ist die Moskauer Journalistin Lena. Ihr Leben unterscheidet sich nicht von dem vieler westlicher, berufstätiger Ehefrauen und Mütter. Sie hetzt zwischen Küche, Spielplatz und PC hin und her, immer auf der Suche nach einer freien Minute, in der sie ihre Berge von Arbeit bewältigen kann.

Die Nachricht vom Tod ihres langjährigen Freundes Mitja wirft sie vollkommen aus der Bahn. Warum sollte dieser lebensfrohe Musiker, der gerade dabei war, eine fulminante Karriere zu starten, sich umbringen? Noch dazu mit Drogen, die er immer rigoros ablehnte. Die Einstichstellen an seiner Hand waren außerdem niemals von einem Linkshänder zu schaffen. Für eine engagierte Journalistin sind das zu viele Ungereimtheiten. Lena beginnt zu recherchieren.

Sie ahnt nicht, dass die Lösung in der Vergangenheit liegt und sie selbst schon bald in den komplizierten Fall involviert sein wird. Vor vierzehn Jahren war sie zusammen mit Mitja, seiner Frau und einer Freundin in Sibirien auf einer Vortragsreise und damals wurde der Keim zu den weiteren tragischen Verwicklungen gelegt. Soviel sei verraten: Lena hat es mit einem gefährlichen Psychopathen zu tun, der sich als Serienmörder entpuppt. Doch das ist noch lange nicht die ganze Geschichte.

Es ist das pure Vergnügen, eine neue Krimiautorin zu entdecken, die ihre Fälle intelligent anlegt und ihre Personen mit einer solchen Tiefenschärfe beschreibt, dass sie dem Leser, trotz der geographischen Ferne, bald als gute Bekannte begegnen. Für die Medien erstellt Polina Daschkowa, die als Dolmetscherin und Übersetzerin arbeitet, psychologische Tätergutachten - sehr zum Vorteil ihrer literarischen Charaktere.

Höchst interessant und sehr differenziert beschreibt sie den russischen Alltag. Gleichgültig, ob das Leben der Moskauer Neureichen, die ihre Rechnungen ausschließlich mit amerikanischen Dollars bezahlen, im Mittelpunkt steht, oder aber das Agieren eines Mafia-Paten in der Taiga.

Ein wenig gewöhnungsbedürftig sind die fremden russischen Namen, doch nach weniger als fünfzig Seiten ist diese Hürde genommen. Diese kleine Anstrengung entlohnt den Leser dafür mit einem hervorragenden Krimi, der so viel über die neue russische Gesellschaft erzählt, wie er selbst auch auf einer Reise dorthin nur mit großer Anstrengung in Erfahrung gebracht hätte. Nicht daran zu denken, wie viele Sachbücher vorher gewälzt werden müssten. Ganz zu schweigen von den eisigen Temperaturen.

Hoffentlich liegen die anderen Romane von Polina Daschkowa bald auf deutsch vor. Die Krimifans warten ungeduldig! © manuela haselberger

Polina Daschkowa -
Die leichten Schritte des Wahnsinns
1999, übersetzt von: Margret Fieseler
2001, Berlin, Aufbau Verlag, 454 S., 20 € (HC)
2002, Berlin, Aufbau Verlag, 454 S., 8.95 € (TB)



Fortsetzung des Lesezitats ...

"Und haben Sie immer so kalte Hände? Ich heiße DMitri."
"Katja." Sie merkte, daß sie rot wurde.
"Sehr angenehm! Soll ich vielleicht das Brot rüberbringen und dann zurückkommen und ein bißchen mit Ihnen zusammensitzen?"

Dieser Vorschlag kam so unerwartet, daß Katja nichts erwiderte, nur den Kopf noch tiefer einzog, ihre Hand aus seiner großen, warmen Pranke befreite, zum Gemeinschaftskühlschrank huschte und ein Päckchen mit einem halben Weißbrot herausholte.
"Entschuldigen Sie, ich glaube, Schwarzbrot ist keins da", murmelte sie und reichte ihm das Päckchen.

Er kam fünf Minuten später zurück, in den Händen eine Gitarre.
"Sie waren nicht beim Konzert, ich möchte für Sie singen. Drüben", er nickte zur Wand, hinter der Gelächter und ausgelassenes Geschrei ertönten, "drüben sind sie alle betrunken und nicht mehr zurechnungsfähig. Gut möglich, daß nur wir beide im ganzen Haus noch die Fahne der Nüchternheit hochhalten."

Er setzte sich auf einen Stuhl, stimmte die Gitarre und begann, ihr halblaut seine Lieder vorzutragen. Katja lauschte wie verzaubert. Sie begriff nicht, ob die Lieder gut waren, sie verstand überhaupt kein einziges Wort, sie blickte nur in die freundlichen hellblauen Augen und wagte kaum zu atmen.

Hinter der Wand ging das ausgelassene Treiben weiter. Mitja setzte sich zu Katja auf das Bett, dessen Sprungfedern kläglich ächzten, und legte die Gitarre beiseite. Er nahm Katjas Gesicht in die Hände und drückte seinen Mund auf ihre angespannten, zusammengepreßten Lippen.

Es war der erste richtige Kuß in ihrem Leben. Obwohl sie schon zwanzig Jahre alt war, hatte sie bisher eigentlich gar nicht richtig gelebt, sondern nur Filme über das Leben anderer gesehen und Bücher gelesen. Sie hatte sich schon lange mit dem Gedanken abgefunden, dass sie alt werden würde, ohne von irgend jemandem beachtet oder geliebt zu werden. S. 85-86

Als die Kollegen auf ihre Experimente aufmerksam wurden, mußte sie ihre Stelle am Institut aufgeben. Es machte ihr nichts aus, denn sie wußte, sie würde nicht untergehen.

Mit dreißig Jahren hatte Regina Valentinowna Gradskaja, Doktorin der Medizin, eine Zwei-Zimmer-Wohnung im Zentrum von Moskau, einen soliden Lada und jede Menge teurer Klamotten und Schmuck. Zu ihren Patienten gehörten berühmte Schauspieler, Schriftsteller, Popsänger, Parteifunktionäre und deren Frauen und Kinder. Dieses exklusive, launische Publikum ließ sich von ihr gegen Alkoholismus, Drogensucht, Impotenz, gegen Depressionen und Psychosen behandeln. Sie garantierte ihren Patienten völlige Anonymität, vor allem aber war ihre Behandlung sanft, effektiv und ohne schädliche Nebenwirkungen. Kein kalter Entzug, keine zerstörerischen Psychopharmaka. Nur ihre Stimme und ihre Hände.

Wenjamin Wolkow erschien an einem kalten November-abend des Jahres 1982 in ihrer Wohnung. Ein Bekannter, der Funktionär beim Jugendverband Komsomol war, hatte sie angerufen und gebeten, ihn zu empfangen - "ein netter Kerl, ein Landsmann von Ihnen aus Tobolsk".

Schüchtern setzte er sich auf den Rand des Sessels und begann leise zu erzählen: von seiner schweren Kindheit, von den Problemen, die er im intimen Umgang mit Frauen habe. Es fiel Regina nicht schwer, ihm sein Geheimnis zu entlocken. Unter der Hypnose erzählte er in allen Einzelheiten, wie er sieben Mädchen vergewaltigt und ermordet hatte. S. 105

"Das heißt vierzehn Jahre sind seitdem vergangen. Vor vierzehn Jahren sind wir drei, Olga, Mitja und ich, nach Sibirien, ins Gebiet Tjumen, gefahren. Und eben darüber hat Mitja mit mir vor zwei Wochen gesprochen. Mein Gott, was sind das für Fieberphantasien? Wen wollte er denn erpressen? Und womit? Was hat Tobolsk damit zu tun und was die Verjährungsfristen?"

Das Telefon klingelte. Lena fuhr zusammen. Wer ist denn das noch, so spät? dachte sie mit einem Blick auf die Uhr - es war halb eins.
"Hallo, Lena", sagte eine leise, unbekannte weibliche Stimme, in der ein leicht hysterischer Unterton schwang. "Entschuldigen Sie, ich habe Sie sicher geweckt. Kennen Sie mich noch?"
"Nein."
"Ich bin Katja Sinizyna."   S. 124

Kapitel 12    Tjumen, Juni 1982

Eigentlich waren diese teuren und beschwerlichen Werbekampagnen völlig unnötig. Aber das Geld dafür kam vom Staat, mit anderen Worten - sie waren umsonst. Und die Journalistenzunft liebte diese Art Tingeltangel.

Jeden Sommer sandten die großen Zeitschriften, allen voran die Jugendmagazine, ihre Mitarbeiter in alle Ecken des unermeßlichen sowjetischen Vaterlandes. Sie hielten Reden vor den Werktätigen in Städten und Dörfern und versuchten Abonnenten zu gewinnen. Abonnentenzahl wie auch Auflagenhöhe waren eine Prestigefrage und hatten nichts mit Kommerz zu tun. Weder das Gehalt der Mitarbeiter noch die Honorare der Autoren hingen in irgendeiner Weise von der Auflagenhöhe ab. Dafür hatte jedoch der Chefredakteur die Möglichkeit, im Falle des Falles der Zensurbehörde die Millionenauflage seines angeblich vom Kurs abgekommenen Blattes unter die Nase zu reiben: Hier, das Volk liest uns, also ist unsere Poloitik richtig. S. 124-125

Wer konnte wohl so spät noch zu ihr gekommen sein? Olga hatte gesagt, Freundinnen hätte Katja keine.
Bei Katja war besetzt. Lena wählte ihre Nummer wieder und wieder. Sie hatte den Kaffee ausgetrunken, die Zigarette zu Ende geraucht und öffnete nun den Brief.
"Liebe Lena!" las sie und lauschte dabei zum x-ten Mal auf das entmutigende Tüt-Tüt-Tüt. "Zuerst möchte ich Dir zur Geburt Deiner Tochter gratulieren. Ziemlich spät, da das Kind schon zwei Jahre alt ist, aber was soll man machen, wir sind alle faul geworden und schreiben nur noch aus beruflichen Anlässen Briefe. Und einen solchen Anlaß habe ich jetzt.

Ich beschäftige mich seit einiger Zeit mit der Geschichte Sibiriens - ziemlich komisch für einen Mann, der kein Wort Russisch kann. Aber was komisch ist, ist wenigstens nicht traurig.
Nun brauche ich dringend Deine Hilfe. Ich werde sehr bald nach Rußland fahren und einige sibirische Städte besuchen. Am meisten interessiert mich Tobolsk mit seinem einzigartigen hölzernen Kreml und seinen anderen Baudenkmälern.

Ich erinnere mich an Deine Erzählungen über Sibirien und auch über diese Stadt. Du begreifst, ich brauche auf meiner Reise natürlich einen guten Dolmetscher. Ich weiß, Du hast ein kleines Kind, aber ich wäre Dir sehr dankbar, wenn Du mich auf meiner Sibirienreise als Dolmetscherin und Beraterin begleiten könntest. Ich möchte dafür nicht gern einen Fremden engagieren.
Die Reise wird nicht länger als zehn Tage dauern. Pro Tag kann ich Dir zweihundert Dollar zahlen. Alle mit der Reise verbundenen Kosten, wie Hotels und Verpflegung, werden selbstverständlich von mir übernommen. Wenn nötig, kann ich für diese Zeit auch einen Babysitter für Deine Tochter bezahlen. Der Termin für meine Anreise hängt nur von Deiner Entscheidung ab. Ich habe bereits ein Ticket nach Moskau mit offenem Datum S. 145

Das haben dieselben Leute getan, die auch Mitja ermordet haben. Nach außen sieht wieder alles glatt, logisch und unangreifbar aus. Ein erfolgloser Sänger probiert zusammen mit seiner süchtigen Frau Drogen aus und erhängt sich. Künstler sind bekanntlich schwierige Persönlichkeiten. Und einige Tage später kommt seine Frau durch einen Unglücksfall ums Leben, wie er für Alkoholiker und Drogensüchtige typisch ist. Das ist dieselbe Handschrift."
Lena verstummte, sie hörte, wie Olga leise schluchzte.
"Olga, beruhige dich, bitte, nimm dich zusammen. Gestern abend wolltest du Katja nicht zuhören. Jetzt paß mal auf, was sie mir vorgelesen hat."
Lena ging mit dem Telefon ins Schlafzimmer, schaltete den Computer ein und öffnete die Datei "Rabbit".

"Die Worte standen auf einem zerknüllten Blatt Papier, das in Mitjas Jackentasche lag. Und hier ist noch ein zweiter Text, er war auf der Kassette mit den Liedern, die Mitja mir gegeben hatte, ganz am Ende des Bandes."
"Willst du etwa behaupten, Mitja hat versucht, jemanden zu erpressen?" fragte Olga mit heiserer Stimme, nachdem Lena alles vorgelesen hatte.
"Zumindest hat er es überlegt. Natürlich hat er sich dagegen entschieden. Es war ihm zuwider. Olga, du mußt versuchen, dich an alle eure Gespräche der letzten Zeit zu erinnern. Und guck noch mal gründlich bei dir zu Hause nach, vielleicht ist noch mehr da - eine Notiz oder eine Tonbandaufnahme. Vielleicht hat er ja den Kalender und Telefonbüchlein bei euch liegenlassen."
"Gut", schluchzte Olga, "ich will es versuchen. Aber der Kalender und das Telefonbüchlein sind bestimmt nicht bei uns. Du weißt doch, bei uns ist immer alles tipptopp aufgeräumt. Einfach so liegt da nichts herum, jedes Ding hat seinen Platz."S. 165

"Wenja, bist du ein neuer Russe?" fragte Lena.
"Ich weiß nicht." Er zuckte die Schultern. "Vermutlich ja. Kommt drauf an, was man unter diesem Begriff versteht.."

Innerhalb weniger Minuten entspann sich zwischen Michael und Wolkow ein lebhaftes Gespräch. Während Lena mechanisch übersetzte, betrachtete sie diesen freundlichen, intelligenten, gut erzogenen Menschen und dachte, es sei unmöglich, sich ihn in der Rolle eines Verbrechers vorzustellen. In der Rolle des feurigen Verliebten ebensowenig.

"Business im eigentlichen Sinne des Wortes gibt es hier noch nicht", sagte Wolkow. "Bei uns ist Business so eng mit dem kriminellen Milieu verflochten, daß es unmöglich ist, eine genaue Grenze zu ziehen, nicht einmal annähernd."

"Wollen Sie damit sagen, daß es bei Ihnen praktisch keinen Unterschied zwischen Geschäftsleuten und Gangstern gibt? Und wie sieht es mit den Politikern aus?"
"Genauso. Unser gesamtes Kapital, auch das der Parteien, hat einen kriminellen Ursprung."

"Was glauben Sie, ist das nun das Resultat des bolschewistischen Regimes, oder handelt es sich um ein ganz neues, eigenständiges Phänomen?"

"Jedes Phänomen hat seine Wurzeln. Was jetzt geschieht, kommt nicht von ungefähr. Ich weiß nicht, welches Regime besser ist, das bolschewistische oder das kriminelle."
"Meinen Sie nicht, daß das verwandte Begriffe sind?" Michael kniff die Augen zusammen. "Viele Bolschewiken waren Banditen. An die Macht kamen sie auf den Schultern der Lumpenproletarier und Verbrecher."
"Mein Großvater war Kommissar und Bolschewik", Wolkow, "und ich bin ein erfolgreicher Geschäftsmann. Alles im Leben ist relativ und miteinander verflochten ... Frierst du? Deine Hände sind eiskalt. Ich möchte dich umarmen und wärmen."S. 282

Lesezitate nach Polina Daschkowa - Die leichten Schritte des Wahnsinns



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© 2.05.2001 by
Manuela Haselberger
Quelle: http://www.bookinist.de