Ermordet. Man hatte die Ronands ermordet. Luc war wie vom Donner gerührt. »Ein Raubüberfall?«, fragte er, als könne er mit diesem Wort das Grauen ein wenig mindern. Die Beamten wussten es noch nicht, aber die Tatsache, dass beide Verbrechen, obwohl achtzig Kilometer voneinander entfernt, Mitglieder derselben Familie betrafen, ließ eher an einen Racheakt oder an eine Abrechnung denken. Die Beamten fragten noch einmal nach möglichen Feinden, und Luc schüttelte ratlos den Kopf: Feinde, die Romands? Sie waren doch allseits beliebt. Wenn man sie umgebracht hatte, dann kam als Täter nur jemand in Frage, der sie nicht gekannt hatte.
Die Polizisten wussten nicht, welchen Beruf Jean-CIaude genau ausübte. Arzt, sagten die Nachbarn, aber er betrieb keine Praxis. Luc erklärte, er gehöre zum Forscherstab der WeItgesundheitsorganisation in Genf. Einer der Gendarmen rief dort an, verlangte mit jemandem zu sprechen, der mit Dr. Romand zusammenarbeitete, seiner Sekretärin oder einem Kollegen. Die Telefonistin kannte keinen Dr. Romand. Da ihr Gesprächspartner nicht locker ließ, leitete sie ihn an den Personalchef weiter, der seine Akten zu Rate zog, und tatsächlich: Es gab keinen Dr. Romand in der WHO. S. 12-13
»Ich sagte ihm, er solle die Geschichte für sich behalten. Er hat sich übrigens gefreut, Sie bei den Presseleuten zu sehen, und lässt Sie grüßen.«
Es gab keinen Knalleffekt. Romand sagte beim Prozess dasselbe aus wie vor dem Untersuchungsrichter: Zwei Tage vor der Prüfung sei er die Treppe hinuntergefallen und habe sich das rechte Handgelenk gebrochen. Mit diesem »kleinen Unfall« also hatte alles begonnen. Da keine Spur mehr davon existierte und sich außerdem kein Zeuge finden ließ, der hätte bestätigen können, dass sein Handgelenk im September 1975 bandagiert war, drängte sich der Verdacht auf, dass er diesen Unfall sowohl damals als auch jetzt nur vorgeschoben hatte, weshalb er immer wieder ausdrücklich betonte, dass er sich wirklich ereignet habe. Überraschenderweise fügte er hinzu, dass eine gebrochene Hand gar kein Hinderungsgrund hatte sein müssen, da es die Möglichkeit gegeben hätte, die Lösungen zu diktieren.
Am Morgen der schriftlichen Prüfung zeigte sein Wecker zuerst die Zeit an, zu der er hätte aufstehen müssen, dann den Beginn der Prüfung und schließlich ihr Ende. Vom Bett aus sah er dem Vorrücken der Zeiger zu.
Als die Studenten ihre Blätter abgegeben hatten, fanden sie sich vor dem Prüfungssaal und auf den Terrassen der Cafés ein, und jeder wollte wissen, wie es dem anderen ergangen sei. Am frühen Nachmittag riefen Romands Eltern bei ihm an, um ihm die gleiche Frage zu stellen, und er behauptete, die Prüfung sei gut gelaufen. S.64
Bei einer Prüfung nicht anzutreten und so zu tun, als habe man bestanden, ist kein dreistes Täuschungsmanöver mit Aussicht auf Erfolg, selbst wenn man den Einsatz verdoppelt. Man wird notgedrungen auffliegen und die Universität als lächerliche Figur verlassen müssen - was wohl das war, was ihm auf der Welt am meisten Angst einflößte. Wie sollte er auch ahnen, dass es noch etwas weit Schlimmeres geben konnte als aufzufliegen, nämlich nicht aufzufliegen, dass ihn diese kindische Lüge achtzehn Jahre später dazu treiben würde, seine Eltern, Florence und die Kinder, die er noch nicht hatte, umzubringen?
»Aber warum das aIIes?«, fragte die Richterin. Er zuckte ratlos die Achseln.
»Ich stelle mir Tag für Tag diese Frage, seit zwanzig Jahren. Ich weiß keine Antwort,«
Kurzes Schweigen.
»Aber die Prüfungsergebnisse hängen doch aus. Sie hatten Freunde. Hat denn keiner bemerkt, dass Ihr Name auf keiner Liste stand?«
»Nein, dabei habe ich ihn bestimmt nicht nachträglich eingefügt. Außerdem waren die Listen ja hinter Glas.« S. 66-67
In der letzten Woche fühlte er sich bleiern müde Er schlief zu jeder Tages- und Nachtzeit ein, auf der Couch, im Auto. Seine Ohren summten wie die eines Tauchers. Am liebsten hätte er sich das Hirn aus dem Schädel gerissen und in die Reinigung gegeben. Als sie aus Straßburg zurückkamen, wo sie mit befreundeten Ärzten Silvester gefeiert hatten, steckte Florence Wäsche in die Waschmaschine, und er blieb im Badezimmer, um sie durch das runde Fenster dabei zu beobachten, wie sie sich im heißen Wasser verrenkte.
S. 127
zitiert nach Emmanuel Carrère - Amok