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Unsere liebe Mom, die jetzt als Engel zusammen mit unseren Großeltern im Himmel herumfliegt, hat immer gesagt, ich hätte dieselben Haare wie Lucille. Das ist ihre Schwester. Sie lebt in Amerika, in Cincinnati. Wir haben sie nie kennen gelernt. Sie soll die Schönste in der Familie sein, obwohl sie -wie Tante Monique - nie geheiratet hat. Moms Haare waren schwarz wie meine, aber nicht gelockt. Ich habe sie am Morgen des Tages, an dem sie starb, selbst gekämmt. Das ist jetzt fast ein Jahr her. Es war bis jetzt ein ganz gutes Jahr. Nichts Aufregendes ist passiert - noch nicht.

»Nimm ein bisschen von dem Sonnenöl«, meint Roberta und hält mir die Flasche hin. »Sonst kriegst du einen irren Sonnenbrand. Das Wasser ist ja wie ein Brennspiegel.«

»Ist mir egal«, sage ich und laufe in Richtung See. »Wenn ich jetzt noch mal einen Sonnenbrand kriege, dann werd ich wenigstens richtig braun.«

»Sidonie! Si-do-nie! Willst du dir auch noch einen Sonnenstich holen?«

»Halt die Klappe, Bobbi.« Ich tauche in den See ein. Das Wasser geht mir bis zu den Schultern.

Sie steht hinter mir und seufzt: »Wie du meinst, Kleines. Du brauchst ja nicht auf mich zu hören.« S. 5

........... weiter....


Lesezitat nach Martha Brooks - Der zweite Vollmond im August


Der zweite Vollmond im August
Martha Brooks - Der zweite Vollmond im August

"Damals, im August letzten Jahres, gab es zweimal Vollmond - den fast noch vollen Mond am Anfang, als Mom noch lebte und unser Familienleben noch in Ordnung war, und am Ende den großen, ganz vollen, trügerischen Mond. Trügerisch, weil er so schön aussah, obwohl doch alles so schrecklich war und nichts wieder so werden würde wie früher."

Es ist ein Jahr her, seit Sidonies Mutter an Herzversagen gestorben ist. Sie und ihre Schwester Roberta, versuchen seither so gut wie möglich, den Haushalt in Ordnung zu halten. Der Vater ist dabei keine große Hilfe. Er vergräbt sich als Arzt völlig in seiner Arbeit im Krankenhaus.

Für Sidonie bezeichnet der Tod ihrer Mutter das Ende der Kindheit. Am besten kann sie sich, wenn sie nicht gerade wieder einmal in einem ihrer Bücher "abgetaucht" ist, mit dem Nachbarsjungen Kieran unterhalten. Seine Eltern leben getrennt und er verbringt die Sommerferien bei seiner Mutter. Die beiden durchstreifen die Umgebung, gehen miteinander schwimmen; Sidonie hofft, in Kieran endlich einen Freund gefunden zu haben, der sie in ihrer Trauer versteht. Bis Kieran ihr gesteht, dass er in Toronto bereits eine Freundin hat.

"Der zweite Vollmond im August" ist ein sehr zarter, leicht hingetupfter Jugendroman, der den Tod und die Achterbahnfahrt der Gefühle bei der ersten Liebe nicht beschönigt, sondern sie beim Namen nennt. Die kanadische Autorin Martha Brooks beschreibt in einer poetischen Sprache, die turbulente Zeit des Erwachsenwerdens. Ein Buch, das darüber hinaus wegen seiner sehr schönen optischen Ausstattung gerne zur Hand genommen wird.

Lesealter ab 12 Jahren




Martha Brooks - Der zweite Vollmond im August
aus dem Amerikanischen von Tilmann Kleinau
Originaltitel: © 1991, "'Two Moons in August"
2000, München, Middelhauve Verlag, 255 S.,

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Fortsetzung des Lesezitats ...

Ich glaube, sobald alles vorbei ist, spielt es keine Rolle mehr, woran ein Mensch gestorben ist -außer natürlich für die, die an dem Menschen hingen und ihn nicht verlieren wollten. Mom jedenfalls starb an Herzversagen. Ihr Herz hörte an dem Tag auf zu schlagen, als ich fünfzehn wurde.

Jetzt werde ich bald sechzehn - in zweieinhalb Wochen.

Irgendwann muss Bobbi mal kapieren, dass ich kein .Kleines« mehr bin, und dann lässt sie mich viel-leicht endlich in Ruhe.

Der See riecht heute nach Fisch; er ist warm wie eine riesige Badewanne. Im Hochsommer ist das immer so: Tote Elritzen, Tang, Kieselsteine und Schlick werden ans Ufer gespült und die Bremsen surren in der stickigen Luft umher. Aber trotzdem mag ich den See so, wie er ist, und ich werde ihn immer mögen.

Im Bootshaus liegt noch das breite Segelboot, das Dad einst für Mom gekauft hatte und an dem er jetzt in Interesse mehr hat. Solange Mom gesund war, segelten wir vier zwei- oder dreimal im Sommer aus bis ans Ende des Sees, picknickten dort und fuhren gegen Abend wieder gemütlich nach Hause. S. 7

Ich versuchte Phil einzuholen. Erst als ich endlich dicht hinter ihm war, ging er etwas langsamer. Nun wollte ich wieder neben ihm hergehen. Da hielt er plätzlich an und wandte mir den Rücken zu. Er kreuzte die Arme über der Brust und schaute über den mondbeschienenen See.

»Du hast mich abgehängt«, keuchte ich. »Möchtest du etwa mit diesem verdammten Pelikan nachts allein sein?«

Er drehte sich um und sagte: »Tut mir Leid.«

»Und ich hab gedacht, du wolltest mit mir zusammen spazieren gehen.«

»Klar. Will ich doch auch.« Er zog mich an sich. Seine Jacke roch nach Tabak und Rasierwasser. Er küsste mich auf die Stirn und ich wollte ihn nicht wieder loslassen. Ich klammerte mich an ihn und machte ganz fest die Augen zu. Er fühlte sich so warm an; das machte mich glücklich und innerlich ruhig. Aber schon ließ er mich wieder los und ging weiter.

Schade - wenn man überhaupt mal in den Arm genommen wurde, dann immer nur viel zu kurz. Das ist anscheinend ein ungeschriebenes Gesetz, aber so sicher, wie zwei mal zwei vier ist.

Während wir heimgingen, wünschte ich mir, wenigstens seine Hand halten zu dürfen. Ich nehme an, das war ziemlich dumm von mir.

»In zwei Stunden«, meinte ich, »wird es Mitternacht. Lass uns so lang noch gehen, ja? Bis ihr Geburtstag vorbei ist ... S. 24-25

Der Kies knirschte unter den Reifen und das Dach des Rettungswagens ragte vor unserem Wagenfenster auf. Dad erwartete uns vor dem Haus. Er sah sehr ernst und traurig aus. Er war bemüht, alles der Lage entsprechend richtig zu machen, und wollte uns erzählen, wie es passiert war.

Verzweifelt lief ich aus dem Haus, den Hohlweg in Richtung Schlucht. Ich wollte es nicht genau wissen, bloß keine blöden Fakten. Ich wollte, dass mich jemand in den Arm nahm und tröstete.

Stundenlang saß ich auf einem Moospolster, den kandierten Apfel vom Jahrmarkt noch in der Hand. Ich drehte und drehte ihn unablässig und bemerkte nicht, wie mir die klebrige Glasur die Hand hinunterlief Ich zwirbelte das Stöckchen zwischen Daumen und Zeigefinger hin und her, bis mir der Arm wehtat und mir ganz heiß wurde. Ich schwitzte, fror, schwitzte wieder.

In dem kleinen Bach, der die Schlucht durchfließt, sprudelte und gurgelte das Wasser über die Felsen, so wie immer im Sommer. Ich warf den Apfel fort und beugte mich über das Wasser. Ich wollte nicht an den nächsten Sommer denken. Ob es überhaupt noch mal einen Sommer geben würde nach Moms Tod? Hatte das alles denn jetzt noch einen Sinn? Ich wollte mein Gesicht im Bach kühlen, aber das Wasser war lauwarm und es half nicht viel. Nichts half mehr - ich hatte mich nicht mal von ihr verabschieden können! S. 61

 

Nach einer Weile frage ich: »Wo warst du eigentlich letzte Woche? Ich meine, nachdem du das für deine Mutter erledigt hattest ...«

»Letzte Woche?«, fragt er wie aus einem Traum gerissen.

»Ja«, sage ich leise, »du warst wie vom Erdboden verschwunden.«

Er schaut hinauf zum Mond. Dann reibt er sich die Hände an den Hosenbeinen trocken und sagt sehr leise: »Sidonie, ich ... hab schon eine Freundin.« Das kommt wie ein kurzer, harter Schlag auf den Kopf. Wenn ich jetzt aufstehe, fall ich bestimmt um. »Oh -«, sage ich.

»Tut mir Leid, Sidonie.« »Egal. Es macht nichts.«

Er dreht sich zu mir um. »Doch, es macht dir was. Sag nicht, dass es nicht stimmt.«

»Bist du taub, oder was? Wenn ich sage, es macht nichts, dann meine ich das auch!« Ich erhebe mich, würdevoll und eiskalt. Ich schaffe es, ins Haus zu gehen. Ich knalle die Tür hinter mir zu, so fest, dass das ganze Haus wackelt. Aber dann werden mir die Knie weich. An die Wand des Hausflurs gelehnt, sitze ich da und starre verzweifelt den Mond an, der durch das Fenster über der Eingangstür scheint. Damals, im August letzten Jahres, gab es zweimal Vollmond - den fast noch vollen Mond am Anfang, als Mom noch lebte und unser Familienleben noch in Ordnung war. S. 97-98

Drei Jahre lang - von meinem siebten bis zu meinem neunten Lebensjahr - führte Mom ein ziemlich normales Leben. Sie unternahm alles Mögliche mit uns, zum Beispiel die schon erwähnte Urlaubsreise nach Florida oder den Ausflug zu Tante Monique ins Q'Appelle-Tal. Ich konnte es nicht leiden, wenn die Leute sagten, sie sähe ja wieder ganz gesund aus. Es war mir irgendwie unheimlich.

Kurz vor Beginn der drei »gesunden« Jahre, bevor sie aus dem Krankenhaus entlassen wurde, hatte man mir eingeschärft, sie würde viel Ruhe benötigen und ich solle sie nicht unnötig belasten. Als sie dann heimkam, wusste ich nicht, was ich tun und wie ich mit ihr umgehen sollte. Ich hatte sogar Angst, ihr wehzutun, wenn ich sie umarmte. Deshalb tat ich es nicht.

Und sie dachte daher, ich liebte sie nicht mehr so wie früher. Wenn sie mich dann traurig ansah, glaubte ich wiederum, sie hätte Schmerzen, und traute mich erst recht nicht mehr in ihre Nähe.

Das änderte sich erst eines Nachmittags, als ich von der Schule heimkam S. 110

 

»Mir ist aufgefallen«, sagt Donina zögernd, »dass du dich zu dem Zeitpunkt, als sie starb, verändert hast und eine junge Frau geworden bist - zumindest äußerlich. Aber innerlich fühlst du dich manchmal noch wie ein Kind, irgendwie traurig und voller Angst, stimmt's?«

Mein Gesicht ist tränenüberströmt, aber sie soll nicht sehen, dass ich weine. Ich will, dass sie weiterspricht, dass sie mir erklärt, warum mir mein Leben oft so kaputt und so sinnlos erscheint.

Schweigend bürstet sie mein Haar und denkt darüber nach, was sie als Nächstes sagen will, während ich mir mit den Händen die Tränen aus dem Gesicht wische. Schließlich meint sie: »Ich glaube, du solltest etwas finden, an das du dich gern erinnerst, um dir über die schlimmen Stunden des Lebens hinwegzuhelfen. Für mich ist das ein wunderschöner Garten. Es ist Nacht und meine Großmutter und ich gehen ins Freie. Wir atmen die wohltuend kühle Luft ein, genießen den Duft der Pflanzen um uns herum und sie spricht sanft in Hindi mit mir.« »Ist das der Garten des Hauses in Indien, in dem du aufgewachsen bist?«

»Ja. Großmutter zog mich auf, bis ich elf Jahre alt war. Danach schickte Vater mich auf eine Schule in England.« Sie streichelt und tätschelt meinen Kopf. S. 116


Lesezitate nach Martha Brooks - Der zweite Vollmond im August


© by Manuela Haselberger
rezensiert am 16.5.2000

Quelle: http://www.bookinist.de
layout © Thomas Haselberger