Noch zwei Stationen. Meine Mutter schiebt Luca rüber auf die andere Schulter und beugt sich vor, um an dem Mann vorbeizukommen, dessen Oberkörper wie ein abgeknickter Fahnenmast in den Gang gekippt ist. Seine Augen schwimmen in
seinem Kopf während sich meine Mutter an ihm vorbeidrängt. Es ist so lange her, seit Mary über die Vergangenheit nachgedacht hat, dass es ihr wie das Leben einer Fremden vorkommt. Frank Gauci und Joe Medora; die beiden, so strahlend und charmant - und dann zwingt sie sich, aufzuhören. Sie will nicht über Joe nachdenken - wie das zu Stande kam -, und sie will nicht mehr über Frankie nachdenken; wo er gewesen ist, wo er vielleicht jetzt war; was er mit ihr anstellen wird, wenn er von dem Brand erfährt. Stattdessen konzentriert sie sich auf ihre Kinder.
Aber Frankie denkt an sie. Nach dem Krankenhaus, nachdem er bei unserem Haus war, in das er nicht reinkonnte, nicht mit Joes Wagen davor, geht Frankie zu Salvatore und Carlotta Er sitzt im Wohnzimmer und wartet und grübelt.
Das ist die Abmachung.
Frankie gewinnt: Das Haus, genug Geld, um den Brand-schaden in Ordnung zu bringen; genug Geld, um mit dem; Syndikat reinen Tisch zu machen; das kleine bisschen extra, damit Mary nicht Vollzeit arbeiten muss, um über die Runden zu kommen. Und das Angebot, Geschäftsführer im Moonlight zu werden, wenn Joe nicht da ist.
Er verliert: Marina.
Die Bedingungen sind großzügig, das ist klar. Er sieht auch, eine Klinge, die sich in sein Herz bohrt, wie lange Joe darauf gewartet hat, auf den Moment, in dem er verzweifelt genug -wäre. Er stellt sich vor, wie Mary ihn betrogen hat. Es ist fast unerträglich. Frankies Gedanken wollen nicht mehr zur Ruhe kommen; er versucht, ihnen zu folgen, aber sobald er einen erhascht, entwischt er ihm auch schon wieder, Wahllos wie ein Feuerwerk explodieren sie in seinem Kopf, und die hellen -Schweife verglühen mit einem plötzlichen Zischen und werden schwarz. Seine Augen wandern durch Salvatores Wohnzimmer, auf der Suche nach irgendetwas Festem, auf das er seine Aufmerksamkeit richten kann: eine Uhr, die auf dem Kaminsims trübsinnig vor sich hin tickt, die kühle Kup-pel einer Schneeszene aus Plastik, ein reich verzierter Spiegel über dem Kamin, der sie dunkel zurückwirft. In allem findet er Mary, verwechselt seine Wut mit Liebe. Er will sie, er hasst sie, er wird alles wieder gutmachen. er wird sie in Stücke reißen.
S. 96-97
Doktor Reynolds sagt, dass dasganz normal wäre, wenn ich meine Finger mal gehabt hätte, aber er findet es sondertbar, dass ich etwas vermisse, was ich nie gekannt habe. Für mich klingt das nicht so sonderbar; ich vermisse Marina, und die habe ich auch nicht gekannt. Manchmal träume ich, dass ich seilspringe: Ich halte das Ende des Seils mit beiden Händen fest, und während es immer schneller und schneller über mei-nem Kopf hinwegpeitscht springt jemand mit rein. Es ist Marina, die mit mir im Takt hüpft. Und dann wache ich auf und habe diese Schmerzen
S. 104
In Filmen findet die Beerdigung immer auf einem üppig bewachsenen Friedhof statt, der von Bäumen gesäumt ist. Und immer regnet es. Die Kamera fährt heran zu einer Nahaufnah-me von ein paar Blättern oder einem verschwommenen Baumstumpf, und dann wieder zurück, um eine schwarz gekleidete Gestalt zu zeigen, die abseits von den anderen Trauernden steht. Wenn es sich bei dieser Person um einen Mann handelt, zieht er unverwandt an seiner Zigarette; ist es eine Frau, sind ihre Hände über dem Bauch gefaltet und Regentropfen glit-zern auf ihrem Schleier. Während ich im langsamen Schlamm des Weges versinke, der uns zum Grab meiner Mutter führen wird, geht mir auf, dass ich noch nie auf einer Beerdigung war. Das gibt mir ein Glücksgefühl.
Wir folgen dem Priester und den Sargträgern. Sie haben den Blick gesenkt und auf den anilingelben Kiefernholzsarg gerichtet; sie halten ihn mit steifen Armen, tief an ihrer Seite. Alle haben eine schwarze Krawatte um den Hemdkragen ge-schlungen. Von ihren Firmenhandschuhen und den verwit-terten Gesichtern abgesehen, könnten sie genauso gut auch Trauergäste sein.
Die Grabstätte meiner Mutter liegt an einem Hang mit Blick auf einen Recyclinghof: Durch den Nebel hindurch kann ich gerade den Namen Peruzzi entziffern. In der Ferne zeich-net sich schemenhaft eine Wohnsiedlung ab. Die Autos auf der Straße unterhalb des Friedhofs fahren nicht langsam, ob-wohl über ihnen nachweisbar der Tod und vor ihnen die Sicht Schlecht ist.
S. 317
Lesezitate nach Trezza Azzopardi - Das Versteck