Margaret Atwood - Der blinde Mörder (Buchtipp/Rezension/lesen)
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Booker Prize 2000



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Zehn Tage nach Kriegsende lenkte meine Schwester Laura ein Auto von einer Brücke. Auf der Brücke wurde gebaut: Laura fuhr mitten durch die Absperrung. Das Auto stürzte dreißig Meter in die Tiefe, krachte durch die Bäume mit ihren fedrigen neuen Blättern, ging in Flammen auf und blieb in dem seichten Bach am Grund der Schlucht liegen. Brückenteile stürzten darauf herab. Außer ein paar verkohlten Überresten blieb nicht viel von ihr übrig.

Ein Polizist informierte mich über den Unfall: das Auto gehörte mir, sie hatten mich über das Nummernschild ausfindig gemacht. Der Ton des Polizisten war respektvoll: zweifellos wusste er, wer Richard war. Er sagte, vielleicht habe sich ein Reifen in einer Stra-ßenbahnschiene verklemmt, oder die Bremse habe versagt, aber er fühlte sich auch verpflichtet, mir mitzuteilen, dass zwei Zeugen - ein Anwalt im Ruhestand und ein Bankkassierer, beide glaubwür-dig - angegeben hatten, den Vorfall beobachtet zu haben. Sie hatten ausgesagt, Laura habe das Steuer scharf und absichtlich herumgeris-sen und das Auto so beiläufig, wie man von einem Bürgersteig her-untertritt, über den Rand der Brücke hinausgelenkt. Durch die wei-ßen Handschuhe, die sie getragen hatte, hatten sie ihre Hände auf dem Steuerrad deutlich sehen können.

Es waren nicht die Bremsen, dachte ich. Sie hatte ihre Gründe. Nicht dass diese Gründe je dieselben Gründe wie die anderer Leute gewe-sen waren. In dieser Hinsicht war sie absolut skrupellos.

»Wahrscheinlich wollen Sie, dass jemand sie identifiziert«, sagte ich. »Ich komme, sobald ich kann.« Wie aus weiter Entfernung hörte ich, wie ruhig meine Stimme klang. In Wahrheit bekam ich die Worte kaum über die Lippen; mein Mund war rauh, mein ganzes Gesicht war starr vor Schmerz, als wäre ich gerade beim Zahnarzt gewesen. S. 13


Lesezitat nach Margaret Atwood - Der blinde Mörder



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Margaret Atwood:

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Booker Prize 2000

  • Der blinde Mörder (deutsch)
  • The Blind Assassin englisch
  • gebunden:

  • Der Report der Magd © 1987
  • Die eßbare Frau © 1992
  • Alias Grace © 1997
  • Lady Orakel © 1998
  • Unter Glas © 1999
  • Die Giftmischer © 1999
  • Die Unmöglichkeit der Nähe © 1999


    Taschenbuch:

  • Katzenauge © 1992
  • Die Giftmischer © 1993
  • Die Räuberbraut © 1996
  • Gute Knochen © 1997
  • Der Report der Magd © 1998
  • Der Report der Magd © 1998
  • Der lange Traum © 1998
  • Alias Grace © 1998
  • Lady Orakel © 1998
  • Verletzungen © 1999
  • Wahre Geschichten © 1999
  • Die eßbare Frau © 2000



    Bookinists Buchtipp zu


    Alias Grace

    von Margaret Atwood




  • Schwesternliebe
    Margaret Atwood - Der blinde Mörder


    ie kanadische Autorin Margaret Atwood gehört seit ihren Bestsellern "Der Report der Magd", "Katzenauge", "Die Räuberbraut", und " Alias Grace" zu den Hochkarätern der Schriftstellerszene ihres Landes. Mit ihrem neuen Roman, "Der blinde Mörder", ein ziemlich schwergewichtiger Wälzer mit knapp 700 Seiten, ist ihr ein ganz großer Wurf gelungen.

    Die Handlung beginnt im Jahre 1870, als der Großvater der beiden Schwestern Laura und Iris seine später sehr erfolgreiche Knopffabrik in Port Ticonderoga gründet. Iris, die ältere Schwester, erzählt in Rückblicken die Geschichte ihrer Familie. Sie schildert die sympathische Großmutter, die so sehr auf den richtigen Stil bedacht ist, ihren Vater, der, nachdem ihre Mutter nach einer Fehlgeburt sehr früh stirbt, die beiden quirligen Mädchen so gut wie möglich großzieht. Reenie, die Haushälterin leistet dabei unschätzbare Arbeit.

    Wirbel unter die Fabrikarbeiter und in die Mädchenherzen bringt ein junger Anhänger der Gewerkschaft, Alex Thomas, der sich in Port Ticonderoga herumtreibt. Am Ende des Sommers brennt die Fabrik und niemand weiß, ob Brandstiftung im Spiel ist. Alex, der verdächtigt scheint, ist wie vom Erdboden verschluckt.

    Die wirtschaftliche Situation in der Fabrik ist angespannt, der II. Weltkrieg wirft in Europa bereits seine Schatten voraus, darum heiratet Iris den arroganten, aber vermögenden Industriellen Richard Griffen. "Das heißt also Ehe, dachte ich: diese geteilte Langeweile, diese Verkrampftheit und diese kleinen pudrigen Furchen neben der Nase."

    Bis zu ihrem Tod, im Mai 1999, lässt Iris ihr Leben Revue passieren. "Früher sorgte man dafür, dass Probleme in der Familie blieben, die immer noch der beste Platz dafür ist – nicht dass es je einen besten Platz für Probleme gäbe. Wieso nach all den vielen Jahren alles wieder aufwühlen, wo doch alle Beteiligten, wie übermüdete Kinder, so brav in ihren Gräbern liegen?"

    Sie beleuchtet den Selbstmord ihrer impulsiven Schwester Laura, der in der Öffentlichkeit vertuscht wurde. Auch der plötzliche Tod ihres eigenen Mannes erscheint im Rückblick in einem anderen Licht, als er in den Zeitungen dargestellt wurde. Drahtzieher hinter den Kulissen ist immer der undurchschaubare Alex Thomas, mit dem sowohl Laura als auch Iris ein Verhältnis haben, ohne voneinander zu wissen.

    Margaret Atwood nimmt sich Zeit und breitet diese tragische Familiengeschichte in einem riesigen Panorama aus. Mit enormer handwerklicher Geschicklichkeit schachtelt sie die zeitlichen Abläufe raffiniert ineinander und schlingt unterschiedliche Erzählstränge zu einer höchst ungewöhnlichen Komposition.

    Eingestreut in den Rückblick von Iris sind einzelne Zeitungsausschnitte, Auszüge aus dem postum veröffentlichten Roman ihrer Schwester und aktuelle Ereignisse im Leben der jetzt alten Frau.

     

    Der Stil ist, wie immer bei Atwood, brillant. Nur ihr gelingen solche Sätze: "Aber im Leben ist eine Tragödie keineswegs nur ein einziger langer Schrei. Sie schließt alles ein, was zu ihr führte. Stunde um triviale Stunde, Tag um Tag, Jahr um Jahr, und dann der plötzliche Moment: der Messerstich, die explodierende Granate, der Sturz des Autos von der Brücke."

    "Der blinde Mörder" gehört mit Sicherheit zu den besten Romanen in diesem Herbst 2000 und wer sich schon lange wieder einmal einen Roman gewünscht hat mit einer spannenden Handlung, überzeugenden Charakteren, historisch stimmig eingebettet und dazu auch noch anspruchsvoll unterhaltend erzählt, der sollte sich sofort dieses Buch schnappen und lesen, lesen, lesen, denn solche Lese-Schätze sind äußerst rar. © manuela haselberger




    Margaret Atwood - Der blinde Mörder
    aus dem Englischen von Brigitte Walitzek
    Originaltitel: © 2000, "The Blind Assassin"
    © 2000, Berlin, Berlin Verlag, 691 S., 24 €
    © 2002, Berlin, Berliner TB-Verlag, 693 S., 13.90 €




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    Fortsetzung des Lesezitats ...

    Nachts wirkte das Haus mehr denn je wie das einer Fremden. Ich wanderte durch die vorderen Zimmer, das Esszimmer, das Wohnzimmer, die Hand an der Wand, um das Gleichgewicht nicht zu verlieren. Meine Besitztümer schwebten in ihren höchsteigenen Schattenpfützen, von mir losgelöst, verleugneten, dass ich ihre Besitzerin war. Ich betrachtete sie mit dem Auge eines Einbrechers, versuchte zu entscheiden, was das Risiko eines Diebstahls lohnen und was ich zurücklassen sollte. Einbrecher würden die offensichtlichen Dinge mitnehmen - die silberne Teekanne, die meiner Großmutter gehört hatte, vielleicht das handbemalte Porzellan. Die wenigen noch verbliebenen Löffel mit Monogramm. Den Fernseher. Nichts, was ich wirklich haben will.

    All diese Dinge werden von irgendwem durchgesehen und weggeschafft werden müssen, wenn ich tot bin. Zweifellos wird Myra sich das unter den Nagel reißen; sie denkt, dass sie mich von Reenie geerbt hat. Sie wird es genießen, die vertrauenswürdige Nachlassverwalterin zu spielen. Ich beneide sie nicht jedes Leben ist eine Müllkippe, schon während es gelebt wird, und hinterher erst recht. Aber wenn eine Müllkippe, dann eine überraschend kleine; wenn man einmal hinter den Toten aufgeräumt hat, weiß man, wie wenig grüne Mülltüten aus Plastik man selbst füllen wird, wenn es so weit ist. Den Nussknacker in der Form eines Alligators, den einzelnen Manschettenknopf aus Perlmutt, den Schildpattkamm mit den fehlenden Zähnen. Das kaputte silberne Feuerzeug, die Tasse ohne Unterrasse, den Essig-und-Ölständer ohne den Essig. Die verstreuten Knochen, die ein Zuhause ausmachen, die Lumpen, die Überbleibsel Scherben, die nach dem Schiffbruch an die Küste gespült werden. S. 82

    Was Laura angeht. so war sie nicht selbstlos, nicht im Geringsten. Sie war hautlos, was etwas völlig anderes ist.

    Ich wurde Anfang Juni 1916 geboren. Unmittelbar danach kam Perce am Artilleriefeuer vor Ypern ums Leben, und im Juli fiel Eddie an der Somme. Zumindest nahm man das an: da, wo man ihn zuletzt gesehen hatte, klaffte nur noch ein riesiger Krater. Diese Ereignisse waren ein harter Schlag für meine Mutter, aber noch schlimmer für einen Großvater. Im August erlitt er einen schweren Schlaganfall, der sein Sprachvermögen und sein Gedächtnis beeinträchtigte.

    Inoffiziell übernahm meine Mutter die Leitung der Fabriken. Sie vermittelte zwischen meinem Großvater - von dem es hieß, sie befinde sich auf dem Weg der Genesung - und allen anderen, er besprach sich täglich mit seinem Sekretär und mit den verschiedenen Vorarbeitern, Da sie die Einzige war, die verstehen konnte, was mein Großvater sagte, oder behauptete, es verstehen zu können, wurde sie seine Dolmetscherin; und da sie die Einzige war, die seine Hand halten durfte, führte sie diese bei den fälligen Unterschriften, wer will sagen, dass sie nicht manchmal auf ihr eigenes Urteil zurückgriff? S. 103

    Ich wollte nach Europa fahren, oder nach New York, oder wenigstens nach Montreal - ich wollte Nachtclubs besuchen, Soireen, all die aufregenden Orte, die in Reenies Gesellschaftszeitschriften erwähnt wurden -, aber ich wurde zu Hause gebraucht. Zu Hause gebraucht, zu Hause gebraucht - es klang wie eine Verurteilung auf Lebenszeit. Schlimmer, es klang wie ein Grabgesang. Ich saß in Port Ticonderoga fest, der stolzen Bastion des gemeinen Wald-und-Wiesenknopfs und der preisgünstigen langen Unterhosen. Ich würde nie hier rauskommen, ich würde nie etwas erleben, ich würde eine alte Jungfer werden wie Miss Violence, bemitleided und verlacht. Das war meine tiefste Angst. Ich wollte woanders sein, aber ich sah keine Möglichkeit, da hinzukommen. Ab und zu ertappte ich mich dabei, dass ich hoffte von Mädchenhändlen entführt zu werden, obwohl ich nicht an sie glaubte. Wenigstens wäre es eine Abwechslung. S. 233

    Obwohl ich ihn allmählich besser leiden konnte, muss ich zu meiner Schande gestehen, dass ich seiner Geschichte gegenüber mehr als nur ein bisschen skeptisch war. Sie enthielt mir zu viel Melodrama - zu viele schicksalhafte Fügungen, gute und schlechte. Ich war noch zu jung, um an Zufälle zu glauben. Und falls er die Absicht hatte, Laura zu beeindrucken - hatte er die Absicht? -, hätte er sich keine bessere Methode ausdenken können. »Es muss schrecklich sein«, sagte ich, »nicht zu wissen, wer man wirklich ist.«

    »Das habe ich auch immer gedacht«, sagte Alex. »Aber dann ist mir klar geworden, dass die Person, die ich wirklich bin, nicht wissen muss, wer sie im üblichen Sinn ist. Was bedeutet das überhaupt - Herkunft, Familie und so weiter? Die Leute benutzen diese Dinge größtenteils als Entschuldigung für ihren eigenen Snobismus oder für ihre eigenen Unzulänglichkeiten. Ich bin von dieser Versuchung frei, das ist alles. Ich bin frei von diesen Bindungen. Es gibt nichts, was mich fesselt.«

    Er sagte noch etwas, aber da an dieser Stelle eine neuerliche Explosion erfolgte, konnte ich es nicht hören. Laura jedoch hörte es; sie nickte ernst.

    (Was hatte er gesagt? Ich erfuhr es später. Er hatte gesagt: Wenigstens hat man nie Heimweh.)

    Eine Löwenzahnblüte aus Licht zerplatzte über uns. Alle sahen nach oben. Es ist schwer, es in solchen Augenblicken nicht zu tun. Es ist schwer, nicht mit offenem Mund dazustehen.

    War das der Anfang, dieser Abend - auf der Anlegestelle Avilion, während das Feuerwerk den Himmel verzauberte? Es ist schwer zu sagen. Anfänge sind plötzlich, aber auch heimtückisch. Sie schleichen sich von der Seite an einen an, sie verstecken sich in den Schatten, sie lauern unerkannt. Dann, später, springen sie. S. 256

    Die Namen der Toten auszusprechen heißt, sie wieder lebendig zu machen, sagten die alten Ägypter: nicht immer das, was man sich vielleicht wünscht. S. 257

    Ihr Mann saß schweigend dabei, während sie redete, die Hände zu Fäusten geballt, ein halbes Lächeln wie zu Beton erstarrt, den Blick sinnend auf die Tischdecke gerichtet. Das also heißt Ehe, dachte ich diese geteilte Langeweile, diese Verkrampftheit und diese kleinen pudrigen Furchen neben der Nase. S. 327

    Dann ein angerissenes Streichholz, und damit hätte sich der Fall. Sie würde es für einen Akt der yalität halten: Reniee hätte genau dasselbe getan. Früher sorgte man dafür, dass die Probleme in der Familie blieben, die immer noch der beste Platz dafür ist - nicht dass es je einen besten Platz für Probvleme gäbe. Wieso nach all den vielen Jahren alles wieder aufwühlen, wo doch alle Beteiligten, wie übermüdete Kinder, so brav in ihren Gräbern liegen? S. 383

    Hier, im abgeschlossenen Badezimmer. auf ihren Knien ausgebreitet, schwarz auf weiß, ist Sakiel-Norn, Stadt der Herrlichkeiten - seine Götter, seine Bräuche, seine wundersamen Webteppiche, seine versklavten, misshandelten Kinder, seine zur Opferung bestimmten Jungfrauen. Seine sieben Meere, seine fünf Monde, seine drei Sonnen; die westlichen Berge und ihre unheimlichen Gräber, wo Wölfe heulen und wunderschöne untote Frauen lauern. Die Palastrevolte streckt ihre Tentakel aus, der König verhält sich abwartend, versucht herauszufinden, welche Mächte sich gegen ihn schworen haben; die Hohepriesterin kassiert ihr Bestechungsgeld. Jetzt die Nacht vor der Opferung, die auserwählte Jungfrau wartet im Bett der einen Nacht. Aber wo ist der blinde Mörder? Was ist aus ihm und aus seiner Liebe zu dem unschuldigen Mädchen geworden? S. 534

    Lesezitate nach Margaret Atwood - Der blinde Mörder


    © 1.11.2000 by
    Manuela Haselberger
    Quelle: http://www.bookinist.de
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