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Bookinists Buchtipp zu

Roger Willemsen
DIE CD

Deutschlandreise



Bookinists Buchtipp zu

Deutschland nochmal richtig SATT, wie´s eben so ist

Susanne Frank & Timothy Sonderhüsken

Draußen nur Kännchen

Frank Rothe fährt 24 Stunden mit der Bahn durch Deutschland und spricht mit einer freundlichen Mitropa - Mitarbeiterin, trifft einen Zeitsoldaten, der unterschrieben hat, "dass er bei einem Einsatz Verletzungen und Tod in Kauf nehmen würde." Oder der gebürtige Münchner, der über sich sagt: "I bin gern daheim und i mecht mei Ruh."
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Quer durch Deutschland
Roger Willemsen - Deutschlandreise

eine Verkehrsmittel sind hauptsächlich die Bahn, der Bus und hin und wieder ein Taxi. Und seine Ziele sind Groß- und Kleinstädte Deutschlands.
Der Autor Roger Willemsen fährt in den Osten, von Moelln über Rostock, bis nach Kap Arkona in den Norden, und entlang des Rheins, bis an die Schweizer Grenze nach Konstanz.

Er lauscht den Gesprächen in den zugigen Wartehäuschen der Bushaltestellen, spricht mit Pennern auf dem Bahnhofsvorplatz, nimmt an einer Abiturfeier teil und auch ein Besuch im Rotlicht - Milieu fehlt nicht. vgl. ... reinlesen

Das Faszinierende an Roger Willemsens Beobachtungen, - man meint, er hat sie alle sofort in sein Diktiergerät gesprochen, - ist die messerscharfe Analyse. In einem Hotel in Rostock findet die Jahrestagung der Bremer Firma "Profit and More" statt. "Und "More", heißt das Steinreichtum? Stinkendreichtum? Oder, wie man im Westen steigert: Geld bis zum Abwinken, bis zum Gehtnichtmehr, bis Oberkante Unterlippe, bis der Arzt kommt...."

Beim Lesen der deutschen Befindlichkeiten ist man hin- und hergerissen zwischen zustimmendem Nicken, heiterem Kopfschütteln und purem Entsetzen. Denn Willemsen zeigt deutschen Alltag ohne Schminke in manchmal abstoßender Vergrößerung.

"In Offenbach roch ich zum ersten Mal "die Parfüm gewordene Perle" "Initial" von "Boucheron", Paris, und während ich das tat, habe ich gleichzeitig vom meinem Hotelzimmerfenster aus einen Mann gesehen, der im hohen Bogen in seine Wohnstube pisste."

Ergänzend zu seinen Reisen, wäre eine Landkarte im Buch hilfreich, sodass die einzelnen Stationen besser verfolgt werden können.

Das Bild, das Roger Willemsen mit seinem sezierenden Blick von Deutschland heute vermittelt, ist, auch wenn man es nicht immer wahr haben will, sehr realistisch. Allein seine Sprache, mal elegant und stilistisch brillant, dann wieder überaus zynisch mit ironischen Einsprengseln, ist pures Lesevergnügen. Darum mein Tipp: unbedingt lesen!
manuela haselberger


Roger Willemsen - Deutschlandreise

© 2002, Frankfurt, Eichborn Verlag, 207 S., 17.90 € (HC)
© 2002, Frankfurt, LIDO, 2 CD, 130 Min., 24.90 € (CD)
© 2004, Frankfurt, Eichborn Verlag, 207 S., 8.85 € (TB)



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Er lügt wie ein Augenzeuge.
(Russisches Sprichwort)

Ich sitze im Zug und fahre weit weg. Nach Deutschland.
Oder besser zu den so genannten »Menschen draußen im Lande«. Aber wo ist das?

Deutschland ist irgendwo oder nirgendwo oder über all: Dieselben Glasbausteine in der Fassade, dieselben gestuft angebrachten Hausnummern, dieselben Garagen und vor den Garagen dieselben Ehefrauen, die ratlos in der Einfahrt stehen und zusehen> wie ihr Mann nach Hause kommt, und nebenan kommt der Nachbar in sein Haus, und die Frauen stehen und fragen sich: Warum kommt dieser in mein Haus zu mir und jener in ihr Haus zu ihr? Lauter Andere und Gleiche, alles anders und gleich, die Sorge, die Liebe, die Einzelhaft.

In Deutschland nach Deutschland zu reisen, das ist die Exkursion zu einer Fata Morgana. Am schönsten ist das Land als Versprechen, weit weg. Ein Weiler unter der Hügellinie, drei rote Dächer und eine Birke, ein Windstoß in den Sträuchern und eine Frau, die zum Wäscheaufhängen unter die Bäume tritt. Gute Menschen, die Milch aus zottigen Viechern melken und vor dem Essen beten. Das unausrottbar Schöne, doch, das gibt es> aber man darf ihm nicht zu nahe kommen.

Vergessen seien die Vorstellungen und Einbildungen, vergessen die böse und spießige, die sentimentale und gründliche, die brütende und metaphysische Nation! Deutschland ist alles, was zwischen neun Landesgrenzen die Netzhaut belichtet.
Wer braucht mehr?
Ich reise los im Morgengrauen. Na also: Alles ist schön. Im Frühnebel zögert der Sommer. Doch Bettwäsche liegt schon in den Fenstern, Gleisarbeiter sitzen mit der Thermoskanne am Bahndamm, und der Reisende mir gegenüber durchblättert mit lyrischem Gesichtsausdruck eine Ausgabe von »Coupe« mit der Titelgeschichte »11 brand-heiße Orgasmus-Ideen«. Deutschland kann kommen.

Hanne Kleine, die echte unter den alten Eminenzen von Sankt Pauli, unterhält im Keller seiner »Ritze« einen Boxring. Zwischen Plakaten aus den großen FaustkämpferTagen von »Müllers Aap«, Jupp Eltze und dem »Prinzen von Homburg« haben alle trainiert, die im deutschen Boxsport je einen Namen besaßen, und noch heute dringt das Aroma aus Jahrzehnten tätlicher Auseinandersetzung in die darüber liegende Gaststube.
Hanne war groß, als Sankt Pauli noch größer war. Heute ist er selbst ein Klassiker und der Stadtteil will es gerne bleiben. Aber die Gangster heißen nicht mehr »GamaschenKlaus« oder »SS-Dieter«, in den unterirdischen Bädern steht noch das Wasser halbhoch, aber Joe Pesci liegt nicht mehr dort. Es kommt die Erlebnis-Gastronomie, es geht das Essen ohne Erlebnis. Trotzdem habe ich einmal morgens um drei in der Speisekarte eines Italieners eine Schutzgeldliste gefunden; zivile Tarife, hundertfünfzig € für eine Wäscherei, zweihundertfünfzig für die Videothek. Am Tresen der »Ritze« hängen schon nachmittags die Stammkunden. Menschliches Strandgut. Die einen verschwinden im Keller zum Boxen, die anderen haken an der Theke eine Frau unter und kommen später allein zurück, bereit für die geistigen Gespräche.

Ein bißchen abseits monologisiert ein arbeitsloser Bühnenarbeiter vor dem dritten Zuhörer in Folge. Die Prostitution, sagt der Arbeiter, ist seine Sache nicht. Vor Jahren besucht er Sankt Pauli, geht gleich in die Herbertstraße - nicht, weil er geil wäre, sondern weil man das so macht -, sucht sich eine hoch gewachsene, trotzdem füllige Blonde aus, will sich »verwöhnen« lassen. Die aber breitet ein Frotteehandtuch über das Bett, kippt seinen Oberkörper rücklings ins Kissen, befreit ohne viele Umstände seinen »Sepp« - so nennt sie ihn wirklich - aus der Hose und sagt: »So, jetzt schaumermal, jetzt schaumermal.« Von da ab kommentiert sie, auf der Bettkante sitzend, jede Regung wie eine Sportreporterin und rüttelt am Ende das bißchen Lust heraus, das ihm bei alledem noch geblieben ist. »Bist ja zuletzt noch ganz gut gekommen«, sagt sie resümierend. »Alle Achtung.«

Auf das Lob kann er verzichten, verläßt deprimiert den Ort seiner Demütigung, kommt aber nach wenigen Schritten an einem Tattoo-Studio vorbei, im Fenster Herzen, Anker, Drachen und asiatische Glücksgötter: Fukurokuju mit dem samenförmigen Kopf, Hotei, Ebisu, Daikoku, Jurojin, Bishamon Benten. Er geht vor dem Souterrain-Fenster auf und ab, im Kopf zwei Gedanken, zur Trillerkette geflochten: »Tätowierungen sind Scheiße«, »Tätowierungen sind Weltklasse«. Nach einer halben Stunde entscheidet er sich für »Weltklasse«, betritt den Raum und läßt sich von einer Vietnamesin ein »J« auf den Oberarm gravieren, »J« für »Jasmin«, die Liebe seines Lebens.

Den Weltrekord in der Disziplin »Schnelles Bereuen eines Tatoos« steuert der phlegmatische Zuhörer bei:
»Joe Wagner aus Birmingham, Alabama, brauchte nach Vollendung seiner Tätowierung nur eine Minute und elf Sekunden bis zu dem Satz: >Fuck, this was stupid!<«
»Kann sein«, erwidert der Bühnenarbeiter.
Ein halbes Jahr später jedenfalls ist die Liebe gescheitert und der Bühnenarbeiter wieder in Sankt Pauli. Diesmal schenkt er sich die Prostituierte, geht schnurstracks zum Tatoo-Studio und überredet die Vietnamesin, das Motiv umzuarbeiten: Wo früher die Liebe war, soll jetzt eine Bombe mit kurzer, lodernder Zündschnur entstehen. Wie er leider zu spät bemerkt, ist die Vietnamesin völlig betrunken. Das »J« verschwindet zwar, die Bombe aber fällt fast quadratisch aus.

An der Theke der »Ritze« rollt er jetzt den Ärmel seines Polo-Shirts über eine Schmiererei in vier Farben. Da kann man nicht gratulieren. Auch er mustert seinen Oberarm, als wäre der sein Leben, und sagt: »Letztlich hat mir die Liebe den Arm vermasselt.«
Als ich gehe, ist der Barmann gerade mit einem Kugelschreiber dabei, die Bombe samt der Lunte in ein größeres Oberarmfresko zu integrieren.

Über die Hügel und in die Wälder, über die Dörfer und in die Kleinstadt. Jeder Ort hat noch seine »gemütliche Altstadtkneipe« namens »Funzel« oder »Peters Klause«, der Ramschladen heißt noch »Knüllers Kiste«, der Trödelladen »Sammelsurium«, die Änderungsschneiderei »Nähkorb«.
Die Denkmäler unter den Läden sind eine Generation älter und haben schon mal Mieder in der Auslage oder einen Styropor-Torso mit Feinripp-Exponaten. Wenn man Glück hat, heißen sie »Chevy - Für Sie und Ihn« oder »Robin Sport - Frech und zeitgemäß«. Doch gleich daneben schlägt schon die Neuzeit zu mit dem »City Fit Studio« samt Kardiotraining, Ernährungsseminaren und dem angeschlossenen »Beauty-Nails«~lade~ Weltmarkt Provinz, du bist unterworfen.! Der Siegeszug des Körpers hat jeden Flecken erreicht. Jargon und Dienste stammen aus dem 21. Jahrhundert, doch die Menschen dazu gibt es noch nicht.

In der Architektur fehlen Jahrzehnte. In der Sprache auch. Fachwerkbauten stehen am Platz wie Exponate, Gesichter blicken heraus wie aus Faller-Häuschen. Similia similibus curentur, Ähnliches durch Ähnliches heilte in Mölln zu Beginn des 19. Jahrhunderts der Erfinder der homöopathischen Medizin, Dr. med. Christian Friedrich Samuel Hahnemann. Hat nicht auch Eulenspiegel, der unweit von ihm sein Haus hatte, Schwindelei mit Schwindelei geheilt? Eine Schulklasse, darunter asiatisch und afrikanisch aussehende Kinder, nimmt jetzt sein Denkmal ein, sie kussen Eulenspiegels blanken Daumen oder seinen Fuß, der Klassenrüpel steigt sogar bis auf die Schultern und küßt ihn auf den Mund. Der beste Schwindler. Man zeigt ihnen auch in der Mühlenstraße das Bahide-Arslan-Haus, mit der flammenden Terrakotta-Skulptur auf der Fassade als Erinnerung an den Brandanschlag vom 23.11.1992. Sie sollen sich, so will es das pädagogische Begleitpersonal, das Feuer vorstellen, die Schreie hören, Mitleid haben. Hier wurde nichts Ähnliches durch Ähnliches geheilt. Eine Krankheit kam hier zum Ausbruch, sagt man ihnen, der »Fremdenhaß«, und den kuriert man? Durch Liebe!, lernen die Kinder. Liebe zu wem? Schwer zu sagen.

Im Erdgeschoß des Hauses läuft der Sender TRT im Fernsehen: Die obligatorische Matrone tanzt und wimmert in Schleiern vor einer vom Boden aus musizierenden Gruppe Männer. Auf der Fensterbank ein immergrünes Usambara-Veilchen aus Kunststoff. Doch in allen anderen Fenstern Puppen, Harlekine, Clowns, so viel Spielzeug, als hätte man das Gebäude von innen mit Plüschtieren ausgestopft. Alles so niedlich, so froh. Wenn das keine Liebe ist!

Die Tafel an der »Internationalen Begegnungsstätte« gleich dahinter: »Ein Ort der Erinnerung, des Nach- und Vordenkens, der Anstösse aber auch des Anstosses Der Vielfalt, des Miteinanders und der Hilfe, kurz: Ein neuer Anfang nach Moelln.« Mölln nach Mölln, plötzlich wird der Ort zu Zeit, zu Vorvergangenheit.

Der neue Anfang des Begegnens hat nur Dienstag und Donnerstag geöffnet. Dann bekommen hier die »nichtintegrierten« Ausländerkinder Nachhilfeunterricht. Heute stehen drei türkische Pykniker vor den geschlossenen Toren und tauschen Pokemons, die japanischen zu 12 €, die deutschen zu 4 € 50 das Päckchen. »Seid ihr Geschwister?«
»Sie meinen, weil wir so fett sind? Nee.«
Aber Nachhilfe haben sie dringend nötig. Eine verwahrloste Kittelschürze bleibt stehen, das Haar wächst ihr dreifarbig aus dem Schädel. Hündin Gina riecht an meinem Bein.
»Haben Sie auch einen Hund?«
Anders kann Kittelschürze sich das Geschnüffel nicht erklären.
»Nein.«
»Eine Katze?« »Nein.«
Sie zuckt die Achseln.
»Die hat'n Schatten«, sagt sie und tätschelt ihrer tattrigen Hündin so energisch den Kopf, dass es dieser den Schädel fast auf den Bürgersteig donnert. »Hatse von mir.« In der Nachbarschaft des berüchtigten Hauses wird alles symbolisch. Geht man die ungemütliche Straße weiter, kommt man an dem »urgemütlichen Altstadtlokal« namens »Gaslaterne« vorbei und erreicht am Ende »Karl Dunkel und Sohn«, laut Urkunde »Bestattungsunternehmen im Fachverband des Deutschen Bestattungsgewerbes e.V.«. Die Auslage komplettieren ein Angebinde aus Kornähren, eine sterbensmüde Hortensie, eine Kerze, die Bibel, im zweiten Schaufenster ein Evangelien-Buch, aufgeschlagen beim Kapitel »Von dem Tode und dem Sterben«: »Herzlich lieb hab ich dich, mein Heiland«, sagt die Schrift. Schön geschrieben, doch wer kniet nieder um die aufgeschlagene, vom Sonnenlicht zusammengerollte Seite besser lesen zu können? Wer steht sinnierend vor dem Fenster und grübelt Rat suchend über seinen Tod? Und wer, wer sucht sich überhaupt seinen Bestatter nach dem Schaufenster aus?

Elf Uhr morgens auf Sylt. Jetzt legen die Touristen in ihren Zimmern die Freizeituniformen an: Piratentücher um den Kopf, farbenfroh beschriftete T-Shirts, Adidas-Hemden, atmungsaktive Turnschuhe, Baseballkappen, jetzt kommen sie in die Lobby wie die berittene Polizei:
Wo ist hier die Erholung?
Die einsamen, vom Luxus verzogenen Hotelgäste, die im Garten zwischen den Volieren ihre Cocktails trinken, beneiden in ihrer Langeweile heimlich die Angestellten, wie sie von zwei Seiten eine Glastür wischen und versonnen dabei reden. Das Leben könnte so leicht sein. S.5-11

Lesezitat nach Roger Willemsen - Deutschlandreise











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Titel von
Roger Willemsen
 Taschenbuch



Die andere Seite der Nacht.

Laster, Lust und liederliche Schriften
© 1998



Der Selbstmord.

Briefe, Manifest, Literarische Texte.
© 2002



Bild dir meine Meinung.

Kritisches und Polemisches.
© 1999

 Hardcover



'Die Deutschen sind immer die anderen'.

Künstler sehen Deutschland. 40 Gespräche.
© 2001

 Audio-CD



Das Bühnengespräch mit Ivan Nagel.

CD. Live aus dem Deutschen Schauspielhaus in Hamburg.
© JAHR


© 28.1.2003

by Manuela Haselberger
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