Ahmed Rashid - Taliban - Afghanistans Gotteskrieger und der Dschihad (Buchtipp/Rezension/lesen)
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Afghanistans Gotteskrieger


An einem warmen Frühlingsnachmittag ließen die Ladenbesitzer in der Stadt Kandahar ihre Rollläden herunter und bereiteten sich auf das Wochenende vor. Mürrische Männer vom Stamm der Paschtunen mit langen Bärten und schwarzem, eng um den Kopf gewundenem Turban bahnten sich ihren Weg durch die engen, staubigen Gassen zum Fußballstadion, das genau über dein Hauptbasar lag. Kinder, meist zerlumpte Waisen, liefen die Gassen auf und ab und veranstalteten einen Radau beim Gedanken an das Schauspiel, das sie erwartete. Es war März 1997, und Kandahar war seit zweieinhalb Jahren die Hauptstadt jener grimmigen islamischen Krieger, der Taliban, die bereits zwei Drittel Afghanistans erobert hatten und jetzt um das noch verbliebene Drittel des Landes kämpften. Einige dieser Taliban hatten in den achtziger Jahren gegen die sowjetische Rote Armee gekämpft, viele von ihnen hatten das Regime von Präsident Nadschibullah bekämpft, der nach dem Rückzug der sowjetischen Truppen aus Afghanistan noch vier Jahre lang an der Macht geblieben war. Die Mehrheit jedoch hatte nicht am Kampf gegen die Kommunisten teilgenommen und entstammte Hunderten von Madrassas, Koranschulen, die in den afghanischen Flüchtlingslagern in Pakistan entstanden waren.


Lesezitat nach Ahmed Rashid - Taliban - Afghanistans Gotteskrieger und der Dschihad


Taliban
Ahmed Rashid - Taliban -
Afghanistans Gotteskrieger und der Dschihad

eit am 11. September 2001 das Attentat auf das "World Trade Center" in New York stattgefunden hat und die Drahtzieher, allen voran Osama Bin Laden, unter den Taliban in Afghanistan gesucht werden, interessiert sich die ganze Welt für diese Gruppierung.

Ein Sachbuch mit dem Titel "Taliban - Afghanistans Gotteskrieger und der Dschihad" kommt hier gerade rechtzeitig. Doch die anfängliche Skepsis, dass es sich dabei um einen Schnellschuss aus der Verlagsbranche handelt, ist schnell beseitigt.

Der Autor, Ahmed Rashid, hat 21 Jahre an diesem Buch gearbeitet und der vielfach ausgezeichnete Journalist, der in Pakistan lebt und arbeitet, berichtet seit geraumer Zeit aus Zentralasien und Afghanistan für die renommierte britische Tageszeitung "Daily Telegraph" sowie für die "Far Eastern Economic Review."

Rashid beschreibt in seinem Buch sehr genau das Entstehen der Taliban - Bewegung und wie es ihren Anhängern gelang, die Macht in dem zerstörten Afghanistan zu erringen als Russland nach einem verheerenden Krieg das Land verließ. Kritisch setzt sich der Autor mit dem unerträglichen Frauenbild der Taliban auseinander, ihre feindselige Einstellung zu jeglicher Unterhaltungskultur und wie es dazu kommen konnte, dass Osama Bin Laden bei ihnen Unterschlupf fand.

Doch hinter all den Wirren und kriegerischen Auseinandersetzungen stehen immer auch massive wirtschaftliche Interessen und diese schildert Rashid in seinem dritten Teil des Buches unter dem Titel: "Das neue große Spiel." Hier geht es um die Rohstoffe der gesamten Region in Zentralasien: Es sind die riesigen Öl- und Gasvorkommen, die weltweite Begehrlichkeiten wecken.

"Taliban" ist ein hochinteressantes Sachbuch, das sehr informativ über das Geschehen in den letzten Jahren in Afghanistan informiert. Dem Urteil von Bundesaußenminister Joschka Fischer ist nichts hinzuzufügen: "Ahmed Rashids Buch ist die wohl beste öffentliche Quelle über Ursprünge, Aufstieg und Machtstrukturen des Taliban - Regimes in Afghanistan. Ich war tief beeindruckt von der Lektüre." Einig ist er hierbei auch mit dem Europa - Abgeordneten Daniel Cohn- Bendit, der dieses Buch allen Lesern empfiehlt, die sich profund über Afghanistan ein Bild machen möchten. © manuela haselberger


Ahmed Rashid -
Taliban - Afghanistans Gotteskrieger und der Dschihad
Originaltitel: Taliban. Islam, Oil and the New Great Game in Central Asia, © 2000
Übersetzt von Harald Riemann
© 2001, München, Droemer Verlag, 432 S., 19.90 € (HC)
© 2002, München, Droemer Verlag, 432 S., 9.90 € (TB)

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Fortsetzung des Lesezitats ...

Seit ihrem dramatischen und unerwarteten Erscheinen Ende 1994 hatten die Taliban relativen Frieden und Sicherheit nach Kandahar und in die benachbarten Provinzen gebracht. Kriegerische Stammesgruppen wurden zerschlagen, ihre Führer gehängt, und der Bevölkerung nahmen sie die vielen Waffen ab; die Verbindungsstraßen wurden geöffnet, um den lukrativen Schmuggel zwischen Pakistan, Afghanistan, Iran und Zentralasien zu erleichtern, der die hauptsächliche Stütze der Wirtschaft bildete.

Die Taliban entstammen der größten ethnischen Gruppe Afghanistans, den Paschtunen, die etwa 40 Prozent der Gesamtbevölkerung von ungefähr 20 Millionen Menschen ausmachen. 300 Jahre lang hatten die Paschtunen Afghanistan regiert, doch zogen sie seit einiger Zeit gegenüber den kleineren ethnischen Gruppen des Landes den Kürzeren. Der Sieg der Taliban entfachte die Hoffnung neu, die Paschtunen könnten Afghanistan wieder beherrschen und einen Nationalismus in ihrem Sinne etablieren.

Zum Entsetzen vieler Afghanen und der ganzen muslimischen Welt führten die Taliban jedoch eine extreme Auslegung der Scharia, der islamischen Gesetzgebung, ein. Alle Mädchenschulen wurden geschlossen, und den Frauen gestattete man nur in Ausnahmefällen, das Haus zu verlassen; nicht einmal das Einkaufen war ihnen mehr erlaubt. Jede Art von Unterhaltung war strikt verboten. Der Verzicht auf Musik, Fernsehen, Video, Kartenspiel, Drachenfliegen und die meisten Sportarten wurde Gesetz. Der islamische Fundamentalismus der Taliban war so extrem, dass er letztlich die islamische Botschaft von Frieden und Toleranz sowie die Fähigkeit, mit religiös und ethnisch differierenden Gruppen in Harmonie zusammenzuleben, verunglimpfte. In Pakistan und Zentralasien wurde diese neue, extremistische Form des Fundamentalismus Vorbild; Kompromisse mit traditionellen islamischen Werten, sozialen Strukturen und existierenden staatlichen Systemen lehnten die Taliban strikt ab.

Ein paar Wochen zuvor hatten sie in Kandahar ihr schon länger bestehendes Fußballverbot aufgehoben. Die UN-Hilfsorganisationen ergriffen diese seltene Gelegenheit, etwas für die öffentliche Unterhaltung tun zu können, beim Schopfe und eilten herbei, um die Tribünen und Sitze des ausgebombten Fußballstadions wieder aufzubauen. Doch an diesem milden Donnerstagnachmittag, der das muslimische Wochenende einleitete, hatte man keinen ausländischen Entwicklungshelfer zur Neueröffnung des Stadions eingeladen. Es war auch kein Fußballspiel angesetzt. Stattdessen fand eine öffentliche Hinrichtung statt, bei der der Delinquent zwischen den Torpfosten erschossen werden sollte.S. 33-34 Es überrascht daher nicht, dass der Iran, die Türkei, Indien, Russland und vier der fünf Republiken Zentralasiens - Usbekistan, Kasachstan, Kirgistan und Tadschikistan - die "Nördliche Anti-Taliban-AIlianz" mit Waffen und Geld unterstützt haben, um den Vormarsch der Taliban aufzuhalten. Im Gegensatz dazu haben Pakistan und Saudi-Arabien die Taliban unterstützt. In der Zeit nach dem Kalten Krieg hat dies zu einer nie da gewesenen Polarisierung in der Region geführt. Die Siegeszüge der Taliban in Nordafghanistan im Sommer 1998 und ihre Kontrolle über 90 Prozent des Landes lösten einen noch heftigeren Konflikt aus. Der Iran drohte, Afghanistan zu besetzen, und beschuldigte Pakistan, die Taliban zu unterstützen. Kernstück dieses Regionalkonflikts ist der Kampf um die riesigen Öl- und Gasvorkommen Zentralasiens - die letzten unangezapften Energiereserven der Welt. Von ebenso großer Bedeutung ist der Konkurrenzkampf der Regionalstaaten und der westlichen Mineralölkonzerne untereinander. Es geht um den Bau der lukrativen Pipeline für den Transport der Energiestoffe zu den Märkten Europas und Asiens. Diese Rivalitäten sind buchstäblich zum neuen Spiel der Großmächte geworden, wirken wie ein Rückfall ins 19. Jahrhundert, als Russland und Großbritannien ihr großes Spiel um Kontrolle und Vorherrschaft in Zentralasien und Afghanistan ausfochten.

Seit Ende 1995 hat Washington das Vorhaben der US-amerikanischen Firma Unocal unterstützt, eine Gas-Pipeline von Turkmenistan nach Pakistan durch das von den Taliban kontrollierte Afghanistan zu bauen. Doch da tauchte unerwartet ein weiterer Mitspieler auf.

Am Tag nach der Hinrichtung kam ich für ein Interview in den Palast von Mullah Mohammed Hassan, des Gouverneurs von Kandahar. Als ich an den schwer bewaffneten Talibanwachen vorbei die Auffahrt hinaufgegangen war, blieb ich plötzlich wie angewurzeit stehen. Aus dem Büro des Gouverneurs kam ein eleganter Geschäftsmann in tadellosem blauem Blazer mit Goldknöpfen, gelber Seidenkrawatte und italienischen Halbschuhen. Bei ihm waren zwei andere, ebenso tadellos gekleidete Geschäftsleute, die prall gefüllte Aktenkoffer trugen. Sie hätten eher zur Wallstreet gepasst anstatt hierher zu obskuren Verhandlungen mit einer Bande islamischer Guerilleros in den staubeigen Gassen Kandahars. S. 40-41

Die Wunden der Taliban erinnern ständig an zwanzig Jahre Krieg, in dem mehr als 1,5 Millionen Menschen getötet und das Land verheert wurde. Die Sowjetunion transferierte ungefähr fünf Milliarden US-Dollar pro Jahr nach Afghanistan, um die Mudschaheddin zu unterwerfen - insgesamt also ungefähr 45 Milliarden-, und verlor. Die USA stifteten den Mudschaheddin zwischen 1980 und 1992 vier bis fünf Milliarden US-Dollar an Hilfsgeldern. Hinzu kam ein Fonds aus Saudi-Arabien, und zusammen mit Unterstützungen aus anderen europäischen und islamischen Ländern flossen den Mudschaheddin insgesamt über zehn Milliarden US-Dollar zu. Die meisten dieser Hilfsmittel wurden in Form von tödlichen modernen Waffen geliefert, die man an die einfache Landbevölkerung austeilte - mit verheerenden Folgen. Die Verstümmelungen der Talibanführer spiegeln auch den blutigen, brutalen Krieg wider, der sich in den 1980er Jahren in und um Kandahar abspielte. Die Durrani-Paschtunen im Süden und in Kandahar erhielten weit weniger Hilfsmittel von der CIA und den westlichen Hilfsorganisationen, die die Mudschaheddin mit Waffen, Finanzen und Logistik, beispielsweise medizinischen Einrichtungen, unterstützten, als die Ghilzai-Paschtunen im Osten des Landes und in Kabul. Die Hilfe wurde von Pakistans Interservices Intelligence (ISI) verteilt, der dazu neigte, Kandahar als rückständiges Gebiet anzusehen und die Durranis misstrauisch zu beargwöhnen. Infolgedessen war für einen verwundeten Mudschaheddin in Kandahar die nächstgelegene medizinische Anlaufstelle das pakistanische Quetta, was einen knochenharten zweitägigen Ritt auf dem Kamel bedeutete. Sogar heute noch ist erste Hilfe unter den Taliban selten; es gibt zu wenig Ärzte und überhaupt keine Chirurgen an der Front. S. 56

"Viele Menschen suchten nach einer Lösung. Ich stamme aus Kalat in der Provinz Zabul (136 Kilometer nördlich von Kandahar) und besuchte eine Madrassa, aber die Lage war so schlimm, dass wir uns nicht auf den Unterricht konzentrieren konnten. So verbrachten wir unsere Zeit damit, im Freundeskreis zu diskutieren, was man tun könne und was wir tun sollten", sagte Mullah Mohammed Abbas, der später Gesundheitsminister in Kabul werden sollte.

"Die alte Führerschaft der Mudschaheddin hatte völlig versagt und uns keinen Frieden gebracht. Also begab ich mich mit Freunden nach Herat, um auf den Appell Ismael Khans hin die Schura zu besuchen, aber auch dort fand man keine Lösung und die Dinge verschlimmerten sich noch. Schließlich kamen wir nach Kandahar, um mit Mullah Omar zu sprechen, und schlossen uns ihm an."

Nach langen Diskussionen fasste diese uneinige, aber zutiefst betroffene Gruppe einen Plan, mit dem noch heute erklärten Ziel, Frieden herzustellen, die Bevölkerung zu entwaffnen, die Scharia geltend zu machen und die Integrität und den islamischen Charakter Afghanistans zu verteidigen. Die meisten von ihnen hatten als Teilzeit- oder Vollzeitschüler die Madrassas besucht und so ergab sich der Name, den sie sich zulegten, wie von selbst. Ein Taub ist ein Koranschüler, ein nach Wissen Strebender - im Vergleich zum Mullah, der Wissen lehrt. So distanzierten sie sich mit dem Namen "Taliban" (Plural von Taub) von der Parteipolitik der Mudschaheddin und signalisierten, dass sie sich als eine Bewegung zur Läuterung der Gesellschaft und nicht als Partei zur Ausübung von Macht verstanden.

Alle, die sich um Omar scharten, waren Kinder des Dschihad, zutiefst desillusioniert durch die Zersplitterung und kriminellen Aktivitäten der einstmals idealisierten Mudschaheddin-Führerschaft. Sie betrachteten sich als Säuberer eines ausgearteten Bürgerkriegs, eines fehlgeleiteten Gesellschaftssystems und eines islamischen Lebensstils voller Korruption und Exzesse. Viele von ihnen waren in pakistanischen Flüchtlingslagern geboren, in pakistanischen Madrassas erzogen worden und ... S. 63

Seit der Besetzung Kandahars waren Afghanen und Hunderte pakistanische Madrassa-Schüler aus den Flüchtlingslagern über die Grenze geströmt, um sich Mullah Omar anzuschließen. Tausende weitere afghanische Paschtunen taten es ihnen auf ihrem Marsch nach Norden gleich. Die meisten von ihnen waren blutjung - zwischen 14 und 24 Jahre alt -und hatten noch nie gekämpft, konnten aber wie alle Paschtunen mit Waffen umgehen.

Viele von ihnen waren in den Flüchtlingslagern in Belutschistan und der Nordwestprovinz Pakistans aufgewachsen, eingebunden zwischen Arbeit und Koranstudium in den Dutzenden Madrassas, die an der Grenze aus dem Boden geschossen waren und von afghanischen Mullahs und pakistanischen Fundamentalisten geleitet wurden. Dort studierten sie die Lehren des Propheten Mohammed und die Grundlagen der islamischen Gesetze - interpretiert von Lehrern, die selbst kaum lesen und schreiben konnten. Weder Lehrer noch Schüler verfügten über mathematische, wissenschaftliche, historische oder geographische Kenntnisse. Kaum einer der jungen Soldaten war über die eigene Geschichte oder gar den Dschihad gegen die Sowjetunion informiert.

Diese jungen Männer entstammten einer anderen Welt als die Mudschaheddin, die ich in den 80er Jahren kennen gelernt hatte und die über ihre Stammes- und Clanherkunft genau im Bilde waren, die sich wehmütig an die verlassenen Gehöfte und Täler ihrer Jugend und die historischen Legenden Afghanistans erinnerten.

Diese Jungs hier hatten ihr Land nie im Frieden erlebt. Sie hatten keine Erinnerungen an Stammeszugehörigkeit, Stammesälteste, Nachbarn oder das bunte Völkergemisch des Heimatdorfs. Durch den anhaltenden Krieg waren diese Burschen an den Ufern der Geschichte gestrandet.S. 76 Der Islam sanktioniert auch den Aufstand gegen einen ungerechten Herrscher, egal, ob Muslim oder nicht, und der Dschihad ist der mobilisierende Mechanismus, um Veränderungen herbeizuführen. Insofern ist das Leben des Propheten Mohammed das Vorbild für den Dschihad, für das einwandfreie Leben eines Muslims und für politische Veränderung, denn der Prophet selbst hat aus tief empfundener Religiosität und moralischem Unmut heraus gegen die korrupte arabische Gesellschaft rebelliert, in der er lebte. Die Taliban gingen also ganz im Sinne des Dschihad vor, als sie die habgierigen Kriegsherrn um sich herum angriffen. Doch der Dschihad sanktioniert nicht das Töten eines Muslim-Bruders wegen ethnischer oder religiöser Verschiedenheit. Während die Taliban behaupten, sie kämpften einen Dschihad gegen böse, korrupte Muslime, meinen ihre Kontrahenten, dass die Berufung auf den Islam vorgeschoben und dazu missbraucht wird, alle Nicht-Paschtunen auszurotten.

Die Taliban-Interpretation von Islam, Dschihad und gesellschaftlichen Veränderungen ist also eine Anomalie in Afghanistan, weil der Aufstieg der Bewegung keine der traditionellen islamistischen Tendenzen, die im Krieg gegen die Sowjetunion aufgekommen waren, widerspiegelte. Die Taliban waren weder von Ikhwan inspirierte radikale Islamisten noch mystische Sufis oder Traditionalisten. Sie passten nicht in das islamische Ideen- oder Bewegungsspektrum, das in Afghanistan zwischen 1979 und 1994 entstanden war. Man könnte behaupten, dass zunehmende Degenerierung und schließlich ein Kollaps der Legitimität aller drei Tendenzen (radikaler Islamismus, Sufismus und Traditionalismus) in einem Machtkampf voller Habgier ein ideologisches Vakuum geschaffen hatten, das die Taliban ausfüllten. Sie stellten ausschließlich sich selbst dar und akzeptierten keinen anderen Islam als ihren eigenen. Dabei hatten sie sehr wohl eine ideologische Grundlage: eine extreme Form von Deobandismus, der von pakistanischen IslamParteien in afghanischen Flüchtlingslagern in Pakistan gepredigt wurdeS. 161

Mit einer Säuberung der Bürokratie Kabuls, deren untere Chargen seit 1992 in den Ämtern saßen, sorgten die Taliban für weitere Verwirrung. Alle dienstälteren Tadschiken, Usbeken und Hasaras wurden durch Paschtunen ersetzt, ungeachtet ihrer Qualifikation. Das Ergebnis dieses Verlustes an Sachkenntnis war, dass die Ministerien im Großen und Ganzen nicht mehr funktionierten.

Die Arbeitsauffassung der Taliban innerhalb der Ministerien ist unbeschreiblich. Wie bedeutend und dringend die militärische oder politische Krise auch immer sein mag, die Büros der Regierung in Kabul und Kandahar sind nur vier Stunden am Tag, von acht bis zwölf Uhr, geöffnet. Dann werden eine Pause für Gebete und eine lange Siesta eingelegt. Später am Abend kommt man dann gesellig zusammen. In den Schreibtischen der Ministerien gibt es keine Akten, und in den Regierungsstuben gibt es keine Besucher. Während Hunderte Taliban-Kader und -Bürokraten an Aktionen teilnahmen, um die männliche Bevölkerung zu zwingen, sich Bärte wachsen zu lassen, gab es in den Ministerien niemanden, der Auskunft geben konnte. In der Öffentlichkeit erwartet man nichts mehr von den Ministerien; die mangelnde Präsenz lässt die Taliban eher als eine Besatzungsmacht erscheinen denn als Regierungsbeamte.

Bis heute haben die Taliban nichts davon verlauten lassen, wie und wann sie eine repräsentative Regierung zu bilden gedenken, ob es eine Verfassung geben und wie politische Macht aufgeteilt werden soll. Jeder der Talibanführer hat diesbezüglich unterschiedliche Ansichten.S. 181

"Die Taliban wollen die Frauen in den Staub treten. Keine einzige Frau, auch nicht die ärmste oder konservativste, will, dass die Taliban Afghanistan regieren", sagte Nasiba. "Der Islam sagt, die Frauen sind den Männern gleich und man soll ihnen Respekt entgegenbringen. Doch die Taten der Taliban bringen die Leute sogar gegen den Islam auf."
Als die Taliban Kabul einnahmen, musste Nasiba ihre Arbeit aufgeben und nach Pakistan fliehen.

Die Taliban stammten aus der ärmsten, konservativsten und ungebildetsten Paschtunenprovinz im Süden Afghanistans. In Mullah Omars Heimatdorf waren die Frauen immer völlig verschleiert gewesen, und kein Mädchen hatte je eine Schule besucht, weil es keine gab. Omar und seine Kollegen übertrugen ihr eigenes Milieu, ihre eigenen Erfahrungen mit Frauen - oder vielmehr den Mangel an solchen - auf das ganze Land und rechtfertigten ihre Politik mit dem Koran. Eine Zeit lang behaupteten Hilfsorganisationen, dies sei traditionelle afghanische Kultur, die man respektieren müsse. Aber für ein in ethnischer Hinsicht und auf dem Entwicklungsniveau so vielfältiges Land wie Afghanistan gab es keinen einheitlichen Standard für die Rolle der Frau in der Gesellschaft. Zudem hatte kein Herrscher Afghanistans vor den Taliban auf einer Kleiderordnung mit Bärten für Männer und der burkha für Frauen bestanden.

Das übrige Afghanistan war nicht annähernd wie der Süden. Die Paschtunen im Osten waren stolz darauf, ihre Töchter in die Schule zu schicken, und viele ließen sich auch nicht von den Taliban davon abhalten, betrieben die Dorfschulen entweder weiter oder schickten ihre Familien nach Pakistan. Dort unterstützten Hilfsorganisationen wie das Schwedische Komitee ungefähr 600 Grundschulen mit rund 150 000 Schülern, davon 30 000 Mädchen. S. 193

Von 1992 bis 1995 hatte Afghanistan zwischen 2200 und 2400 Tonnen Opium pro Jahr produziert. Es wetteiferte mit Burma, dem weltweit größten Hersteller von Rohopium. 1996 produzierte Afghanistan 2250 Tonnen. Beamte des United Nations Drugs Control Programme (UNDCP) erklärten, dass 1996 allein in der Provinz Kandahar 120 Tonnen Opium, geerntet auf 3160 Hektar Mohnfeldern, produziert wurden - eine unglaubliche Steigerung gegenüber 1995, als nur 79 Tonnen auf 2460 Hektar Land gewonnen wurden. Als sich die Kontrolle der Taliban 1997 über Kabul hinaus nordwärts erweiterte, stieg Afghanistans Opiumproduktion um weitere beeindruckende 25 Prozent auf 2800 Tonnen. Zehntausende Paschtunen-Flüchtlinge, die aus Pakistan in die von den Taliban kontrollierten Gebiete kamen, bewirtschafteten ihr Land für die leichteste und lukrativste Ernte der Welt.

Laut UNDCP erhielten die Bauern weniger als ein Prozent des Gesamtprofits aus dem Opiumhandel, weitere 2,5 Prozent verblieben in Afghanistan und Pakistan in Händen der Händler, während fünf Prozent für die Länder, durch die das Opium in den Westen gebracht werden musste, ausgegeben wurden. Den restlichen Profit steckten sich die Händler in Europa und den USA in die Tasche. Sogar bei dieser niedrigen Rückflussrate gehen vorsichtige Schätzungen davon aus, dass ungefähr eine Million afghanische Bauern mit ihrem Mohnanbau über 100 Millionen US-Dollar pro Jahr verdienen. Insofern streichen die Taliban mindestens 20 Millionen US-Dollar an Steuern ein, wahrscheinlich noch mehr.

Seit 1980 verwandten alle kriegsführenden Mudschaheddin Drogengelder für ihre Militäraktionen und wirtschafteten in die eigene Tasche. Sie hatten Häuser und Geschäfte in Peschawar und neue Jeeps gekauft und unterhielten Bankkonten im Ausland. Offiziell weigerten sie sich zuzugeben, dass sie in den Drogenhandel verwickelt waren, und bezichtigten ihre jeweiligen Rivalen. Keiner war so dreist oder ehrlich wie die Taliban, die erklärten, sie hätten keine Absicht, Drogen zu kontrollieren. 1997 kamen nach Schätzungen von UNDCP und den USA 96 Prozent des afghanischen Heroins aus den von den Taliban beherrschten Gebieten.S. 207

Erst im Sommer 1996 begann ich Nachforschungen über diese sich anbahnende Geschichte anzustellen. Die plötzliche Einnahme Kabuls 1996 durch die Taliban veranlasste mich, Antwort auf zwei Fragen zu suchen, mit denen sich viele westliche Journalisten vergeblich herumschlugen. Unterstützten die Amerikaner die Taliban direkt oder indirekt über Unocal oder über ihre Alliierten Pakistan und Saudi-Arabien? Und was war der Anlass für diese massive regionale Polarisation zwischen den USA, Saudi-Arabien, Pakistan und Taliban auf der einen Seite und dem Iran, Russland, den Staaten Zentralasiens und der Anti-Taliban-Allianz auf der anderen? Während einige sich darauf konzentrierten, herauszufinden, ob es eine Wiederbelebung der alten CIA-ISI-Verbindung aus der Zeit des afghanischen Dschihad gab, wurde es für mich immer offensichtlicher, dass die Pipeline-Strategie zur treibenden Kraft hinter dem Interesse Washingtons an den Taliban geworden war, was der Reihe nach Gegenreaktionen Russlands und des Iran auslöste.

Aber die Recherche darüber war wie das Eintreten in ein Labyrinth, in dem niemand die Wahrheit sagte oder seine wirklichen Motive und Interessen preisgab. Es war eher die Arbeit eines Detektivs als eines Journalisten. Allein der Zugang zu den wirklichen Strippenziehern in diesem Spiel war schwierig, weil die Politik nicht von Politikern und Diplomaten gemacht wurde, sondern von geheimnistuerischen Ölfirmen und den Geheimdiensten der Regionalstaaten. Die Ölfirmen taten am geheimnisvollsten - ein Erbe des grimmigen Wettbewerbs, dem sie sich rund um die Welt aussetzten. Eine voreilige Bekanntgabe, wo sie als nächstes bohren würden oder welche Pipeline-Strecke sie bevorzugten, oder auch nur, mit wem sie eine Stunde zuvor Lunch hatten, gab das Spiel an den Feind weiter - an die gegnerische Ölfirma.S. 270

Lesezitate nach Ahmed Rashid - Taliban - Afghanistans Gotteskrieger und der Dschihad




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von Siba Shakib




© 22.11.2001 by
Manuela Haselberger
Quelle: http://www.bookinist.de