Der Überfall
Der Tag, der mein Leben für immer verändern sollte,
begann mit einem traumhaften Sonnenaufgang. Um die
Sonne zu begrüßen, wandte ich mich nach Osten und
sprach das erste meiner fünf täglichen Gebete zu Allah.
Es war der Frühling 1992, gegen Ende der Trockenzeit,
und ich war etwa zwölf Jahre alt. Nach dem Beten machte
ich mich für die Schule fertig. Der Hin- und Rückweg
dauerte zu Fuß jeweils eine Stunde. Ich war eine
ausgesprochen fleißige Schülerin, denn ich wollte Ärztin
werden, wenn ich einmal erwachsen war, ein sehr
ehrgeiziger Traum für ein afrikanisches Mädchen aus
einfachen Verhältnissen.
Ich komme vom Stamm der Nuba in den Nubabergen des
Sudan, einer der abgelegensten Gegenden der Welt.
Damals lebte ich in einem Lehmhüttendorf, das sich in
eine Senke zwischen den hohen Hügeln schmiegte. Mein
Stamm bestritt seinen Lebensunterhalt mit Jagd,
Ackerbau und Viehzucht, und mein Vater, der eine Herde
von fünfzig Rindern besaß, galt als verhältnismäßig
wohlhabend. Die meisten Bewohner unseres Dorfes waren
Moslems.
Als ich nach einem anstrengenden Schultag nach Hause
kam, erledigte ich erst einmal meine häuslichen Pflichten.
Dann kochte meine Mutter das Abendessen - mein Vater
hatte mit meinen Brüdern draußen auf den Feldern die
Ernte eingebracht, und alle waren sehr hungrig. Nach dem
Essen gingen wir alle hinaus in den Hof und lauschten den
Geschichten, die mein Vater erzählte. Ich weiß noch, wie
ich am Feuer saß und lachte und lachte. Mein Vater war
ein sehr humorvoller, witziger Mensch. Ich liebte meine
Familie über alles.
Da der Abend kühl war, blieben wir nicht lange draußen.
Wie immer kuschelte ich mich zum Schlafen an meinen
Vater. In der Mitte der Hütte brannte die ganze Nacht
lang ein Feuer, das uns wärmen sollte. Uran, meine kleine
Katze, rollte sich auf meinem Bauch zusammen. Meine
Mutter lag in ihrem Bett auf der anderen Seite des Feuers.
Bald waren wir eingeschlafen - und dann begannen die
schrecklichsten Stunden meines Lebens. Draußen war
plötzlich ein schrecklicher Tumult zu hören. Erschrocken
fuhr ich hoch und sah ein seltsames orangefarbenes Licht
in die Hütte scheinen.
»Ook tom gua!«, rief mein Vater und sprang auf. »Feuer!
Im Dorf brennt es!«
Wir stürzten zur Tür und stellten fest, dass am anderen
Ende des Dorfes Flammen hoch in den Himmel
emporschlugen. Zunächst glaubten wir, dass eine Hütte
zufällig Feuer gefangen hatte, was in unserem Dorf recht
häufig vorkam. Dann aber bemerkten wir Menschen, die
mit brennenden Fackeln in der Hand zwischen den Hütten
herumliefen. Ich beobachtete, wie sie die Fackeln auf die
Dächer der Hütten warfen, sodass diese sofort in
Flammen aufgingen. Als die Menschen aus ihren
Behausungen flohen, wurden sie von den Männern
angegriffen und zu Boden geschleudert.
»Mudschaheddin!«, schrie mein Vater. »Wir werden von
Arabern überfallen! Die Mudschaheddin sind im Dorf!«
Obwohl ich noch immer nicht richtig begriff, was
geschehen war, war ich vor Angst wie gelähmt. Dann
packte mein Vater mich am Arm.
»Go lore okone? Go lore okone?«, rief er. »Wohin können
wir fliehen?«
Er suchte verzweifelt nach einem Ausweg. Ich spürte,
dass meine Mutter, die dicht neben mir stand, am ganzen
Leibe zitterte, und auch ich war starr vor Furcht. Mit dem
einen Arm drückte ich meine Katze Uran an mich, die
andere Hand umklammerte die meines Vaters. Und dann
fingen wir an zu rennen.
»Lauf zu den Hügeln«, schrie mein Vater. »Hinter mir her!
Lauf! Lauf!«
Es war wie in einem schlimmen Albtraum. Mein Vater
rannte voraus, dann ich mit meiner Katze und meine
Mutter dicht hinter uns. Der Nachthimmel war hell
erleuchtet, weil so viele Hütten brannten. Frauen und
Kinder eilten in alle Richtungen davon und weinten und
schrien voller Panik. Ich sah, wie die Angreifer Kinder
gewaltsam aus den Armen ihrer Eltern rissen.
»Halt dich an mir fest, so gut du kannst, Mende!«, rief
mein Vater.
Ich sah, wie die Männer den Leuten die Kehle
durchschnitten. Ihre gekrümmten Dolche blitzten im
Feuerschein. Ich kann niemandem beschreiben, was für
Dinge ich sah, als wir durchs Dorf rannten. Niemand soll
je Zeuge solcher Gräueltaten werden müssen, wie ich sie
in dieser Nacht erlebte.
Durch Rauch und Flammen hindurch konnte ich erkennen,
dass mein Vater auf die Berge zuhielt. Doch kaum hatten
wir den Saum der Hügel erreicht, bemerkten wir vor uns
eine lange Reihe weiterer Angreifer zu Pferd. Von weitem
schon sah ich ihren wilden, durchdringenden Blick, die
langen Bärte und ihre abgerissenen, schmutzigen Kleider.
Sie sahen völlig anders aus als die Männer unseres
Stammes. Mit erhobenen Waffen schnitten sie uns den
einzigen Fluchtweg ab. Ich sah, wie einige verängstigte
Dorfbewohner vor uns direkt in die Falle liefen. Als sie den
Hinterhalt bemerkten, kehrten sie schreiend um und
versuchten, irgendeinen anderen Ausweg zu finden. Chaos
und Panik brachen aus, begleitet vom Krachen der
Gewehrsalven.
Als wir umkehrten, um in die entgegengesetzte Richtung
davonzulaufen, hörte ich meinen Vater verzweifelt nach
meiner Mutter rufen. In all dem Tohuwabohu hatten wir sie
verloren. Nun war ich allein mit Vater und rannte und
rannte und sollte immer noch schneller rennen. Doch auf
einmal stolperte ich und stürzte. Ich weiß noch, wie meine
Katze mir in diesem Moment aus dem Arm sprang. Und
gerade als ich mich aufrappelte, griff einer der
Mudschaheddin nach mir und wollte mich fortziehen.
Mein Vater warf sich auf ihn und versuchte ihn
niederzuringen. Er schlug auf den Angreifer ein und traf
ihn so am Kopf, dass er fiel und nicht mehr aufstand. Dann
zog mich mein Vater an den Armen hoch, weg von dem
Handgemenge; meine Beine fühlten sich an, als würden
sie von scharfen Steinen zerfetzt. Aber ich achtete nicht
auf den Schmerz. Irgendwie brachte mich mein Vater
wieder auf die Füße, und wir rannten weiter, rannten und
rannten.
»Mende, lauf, so schnell du kannst!«, rief mein Vater
immer wieder. »Wenn sie dich kriegen wollen, müssen sie
erst mich töten!«
Wir hasteten zurück zum anderen Ende des Dorfes. Ich
jedoch war nun restlos erschöpft, meine Kräfte schwanden
mit jeder Sekunde. Und da plötzlich gerieten wir mitten in
eine Herde panisch davongaloppierender Rinder. Ich fiel
ein zweites Mal. Ich nahm trampelnde Hufe über und
neben mir wahr. Zusammengekrümmt lag ich auf der Erde
und war mir sicher, dass ich nun sterben würde.
Von irgendwoher hörte ich meinen Vater rufen: »Mende
agor! Mende agor!« - Wo bist du, Mende, wo bist du?
Seine Stimme klang vor Erschöpfung ganz fremd. Ich
versuchte zu antworten und mich bemerkbar zu machen,
doch meine Kehle war wie zugeschnürt vom Schmerz und
vom Staub. Ich konnte nur noch heiser flüstern: »Ba! Ba!
Ba!« - Papa! Hier!
Aber er hörte mich nicht. So lag ich da wie versteinert.
Tränen strömten über mein Gesicht. Und da packte mich
ein Mann von hinten und drückte mich zu Boden. Sein
stoppliger Bart kratzte mich im Nacken, und ich konnte
seinen stinkenden Atem riechen.
Ich wusste, dass mein Vater ganz in der Nähe verzweifelt
nach mir suchte. Immer wieder versuchte ich, nach ihm zu
rufen, doch der Mann hielt mir nur noch brutaler den Mund
zu. »Sei endlich still!«, fuhr er mich an. »Wenn du weiter
so schreist, finden dich die anderen Männer und töten
dich.«
Er zog mich auf die Beine und führte mich durchs Dorf. Im
Schein der brennenden Hütten konnte ich sehen, dass
auch er einen Dolch und eine Pistole im Gürtel trug.
Noch als ich abgeführt wurde, war ich mir sicher, die
Stimme meines Vaters zu hören. »Mende! Mende!
Mende!« Mein Vater ist der tapferste Mann der Welt. Er
hätte versucht, mich zu retten. Wenn er mich nur hätte
finden können, hätte er den Kampf mit jedem Mudschahed
im Dorf aufgenommen. Ich wollte laut aufschreien: »Ba!
Ba! Hier bin ich! Ich kann dich hören!« Doch der Araber
hielt mir den Mund fest zu.
Als wir weiterliefen, sah ich, dass das ganze Dorf brannte,
und rund um uns ertönten Schreie. Ich sah Nubafrauen auf
dem Boden, Mudschaheddin auf ihnen. In der Luft lag der
Geruch von Brand, Blut und Terror.
Während ich vorwärts gezwungen wurde, betete ich: »O
Allah, o Allah, rette mich, bitte rette mich.« Und ich
betete zu Gott, dass er auch meine Familie retten möge.
Immer wieder, als man mich zum Wald brachte, flehte ich
meinen Gott um Rettung für uns alle an.
Wir ließen das brennende Dorf hinter uns und kamen zum
Waldrand. Unter den Bäumen saßen etwa dreißig andere
Kinder aneinander gedrängt auf dem Boden. Weitere
Mudschaheddin kamen und brachten kleine Nubajungen
und -mädchen mit. Die Kleider und Messer der Angreifer
waren blutgetränkt; in ihrem Blick funkelte die reine
Bosheit. Als sie sich näherten, hörte ich sie aus voller
Kehle brüllen: »Allahu Akhbar! Allahu Akhbar! Allahu
Akhbar!« - Gott ist groß!
Ich hatte keine Ahnung, ob jemand aus meiner Familie
entkommen war oder ob sie alle ermordet worden waren.
Ich hatte auch keine Ahnung, was nun mit mir geschehen
würde. Und so endete meine wundervolle, glückliche
Kindheit, und mein Leben als Sklavin begann.
Lesezitate nach Mende Nazer, Damien Lewis - Sklavin