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Bookinists Buchtipp zu


Wüstenblume

von Waris Dirie




Spagat zwischen der ersten
und der dritten Welt

Waris Dirie - Nomadentochter

Ihren langen Weg, der sie über London nach Amerika direkt an die Spitze der Top - Models führte und der mit der Flucht aus ihrer Heimat Somalia begann, beschreibt Waris Dirie sehr eindringlich in ihrem Bestseller "Wüstenblume".

In der Zwischenzeit hat sie einen Sohn geboren und die Karriere vor den Kameras steht nicht mehr im Mittelpunkt ihres Lebens. Einen weiteren Einschnitt brachte die Trennung von ihrem langjährigen Freund. Jetzt zieht Waris Dirie energisch einen Strich unter ihr bisheriges Schaffen und macht sich auf die Reise zurück nach Somalia. Sie will ihre Mutter besuchen und auch ihren Vater sehen, obwohl dieser vor vielen Jahren schuld daran war, dass sie aus ihrer Heimat floh.

Hauptsächlich geht es ihr darum, die Wurzeln ihrer Herkunft zu ergründen. Oft denkt Waris Dirie bei der Erziehung ihres kleinen Sohnes daran, wie sie früher ihrer Mutter mit den kleineren Geschwistern geholfen hat. Vieles ist haften geblieben, im Unterbewusstsein verfügbar, doch sie möchte auch die spirituelle Seite ihrer Herkunft erkunden.

Während einer Woche, mehr Zeit bleibt für den Besuch nicht, trifft sie viele ihrer Familienangehörigen wieder. Ihr Vater, dessen Anerkennung für sie heute noch wichtig ist, schließlich hat er verhindert, dass sie eine Schule besuchte und er war es, der sie gegen ein paar Kamele verkaufen wollte, ist zwischenzeitlich ein alter, kranker Mann, der, fast erblindet, im Krankenhaus liegt.

"Sie würde nichts annehmen, was sie nicht brauchte, weil Besitz im Leben eines Nomaden hinderlich ist. Es zählen nur deine Familie, deine Geschichten und die Tiere. Sie sind die Quelle des Lebens und der Brunnen der Freude."

Natürlich bringt Waris Dirie auch ihr besonderes Anliegen zur Sprache: sie engagiert sich als Sonderbotschafterin der UNO weltweit im Kampf gegen die Beschneidung von Frauen. Sie selbst wurde als junges Mädchen beschnitten, doch als sie dieses Thema im Kreise der Familie anschneidet, stößt sie auf eine undurchdringliche Wand. Bis heute wird über diese Fragen in Somalia noch immer nicht gesprochen.

Besonders interessant macht "Nomadentochter", dass Waris Dirie sich in Amerika oder London ebenso sicher bewegt, wie in Somalia. Deshalb ist sie in der glücklichen Lage, beide Kulturen zu beschreiben, sie nebeneinander zu stellen, ohne dass immer die westliche Welt im Vergleich besser abschneidet. So sagt die Autorin über ihre Mutter, die sich kein anderes Leben wünscht: "Es ist nicht schwer in Somalia zu bleiben, wenn man in dem kargen Land geboren und aufgewachsen ist und nicht viel anderes kennt. Dadurch besitzt sie etwas, das mehr wert ist als aller Reichtum des Westens. In ihrem Leben herrschen Gelassenheit und Frieden."

Leser, die sich über eines der ärmsten Länder der Erde informieren möchten, erhalten in dieser gut geschriebenen, flüssig zu lesenden Autobiografie einen guten Einstieg, denn im Grunde ihres Herzens ist Waris Dirie eine Nomadin geblieben. © manuela haselberger


Waris Dirie - Nomadentochter
Originaltitel: Desert Dawn, © 2002
Übersetzt von Theda Krohm-Linke

© 2002, München, Blanvalet, 288 S., 21.90 € (HC)




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In Somalia sind Teufel weiß. Wir nennen sie djinn und sie lauern überall. Einfach überall! Sie kriechen in Menschen und Tiere, verursachen Krankheiten, spielen ihnen Streiche und machen sie verrückt. Wenn du etwas irgendwo hinstellst und es ist auf einmal nicht mehr da, dann weißt du, ein djinn steckt dahinter. Meine Mutter hat ihnen immer zuserufen: ¸He! Teufel! Geh von meinen Sachen weg! Sie gehören dir nicht, du bist hier nicht erwünscht!« Dann hat sie mir gezeigt, dass man sich abwenden muss und am besten etwas anderes tut, wenn der djinn weg ist, findet man das Verlorene bald schon wieder. Meine Mutter wusste alles über djinns und wie man sie loswird. Sie kannte viele Zaubersprüche und Rezepte, mit welchen Blättern oder Rinden man den djinn vertreiben konnte, wenn man krank war. Sie sammelte Pflanzen, kochte Wurzeln oder gab sie uns roh zu essen. Besondere Blätter und Pilze verwahrte sie in Lederbeuteln. Im Rauch und in den Sternen konnte sie lesen und wusste stets den richtigen Zeitpunkt. Wegen ihrer magischen Kräfte wurde sie hoch geachtet, und die Leute brachten kranke Tiere zu ihr - ich erinnere mich gut daran aus der Zeit, als ich ein kleines Mädchen war.

Ich wurde in der somalischen Wüste geboren, und ich weiß nicht, wie viele Kinder meine Mutter auf die Welt gebracht hat. Denn viele Babys starben gleich nach der Geburt. Wie die meisten Somalis besaßen wir Kamele und Ziegen und lebten von deren Milch. Traditionsgemäß hüteten meine Brüder eher die Kamele, und wir Mädchen kümmerten uns um die kleineren Tiere.

Eines Tages, als ich seit ungefähr acht gu, also Regenzeiten, auf der Welt war, hütete ich, nicht weit vom Lager meiner Familie entfernt, unsere Ziegen. An diesem Morgen war ich über die steilen, sandigen Ufer des tuug, des trockenen Flussbetts, zu einem Platz geklettert, den ich am Tag zuvor entdeckt hatte. Dort gab es frisches Gras und ein paar Akazienbäume. Die größeren Ziegen richteten sich auf den Hinterbeinen auf und zogen die Äste herunter, sodass sie an den unteren Blättern knabbern konnten. In der Regenzeit weiden die Ziegen rings um das Lager, ohne dass man viel Scherereien mit ihnen hat; aber während der Dürreperiode muss man Grasflecken finden und .auf sie aufpassen, weil dann auch die anderen Tiere hungrig sind. An diesem heißen Nachmittag saß ich im Schatten, sang und spielte mit den Puppen, die ich mir aus Stöckchen gebastelt hatte. Seit eh und je wusste ich, was ich werden wollte. Schon als kleines Kind hatte ich feste Vorstellungen.

Auch mein künftiger Mann stand mir klar vor Augen. Ich spielte, dass ich ein Haus besaß. Kleine Steine waren meine Ziegen und größere waren Kamele und Rinder. Mein Haus war groß und rund. Mit nassem Sand ging es am besten, weil ich es dann genauso formen konnte wie unsere Hütte - nur dass meines besser war, weil ich es selbst gestalten konnte. Meine Mutter baute unser Haus aus Matten, die sie aus langen Gräsern flocht, sodass es schnell abgebaut und auf die Kamele verladen werden konnte, wenn wir weiterzogen. Mein Spielhaus war so sicher und schön wie ihres, mit einem Ehemann und Kindern. Wir lebten weit weg von meiner Familie.

Unter der Mittagssonne schien alles zu erstarren. Ich konnte in beide Richtungen des sandigen tuug schauen. Am Abend zuvor hatte ich auf dem Weg zurück ins Lager die bösen gelben Augen eines Hyänenrudels gesehen, die mich und die Ziegen beobachteten. Obwohl mein Vater gesagt hatte, sie kämen nicht näher, solange ich da wäre, hatte ich Angst. Sie sind gerissen, und wenn man sie nicht scharf im Auge behält, dann schnappen sie sich eine der Ziegen, während man auf die anderen achtet. Man muss sich groß und furchtlos geben, denn, wenn sie Angst spüren, lassen sie einen nicht in Ruhe. Whitey, die Lieblingsziege meiner Mutter, schaute hoch und witterte, deshalb sah auch ich mich um. Ein Mann kam am Rand des tuug entlang und zog an einem geflochtenen Strick ein Kamel hinter sich her. Für gewöhnlich folgen Kamele einem Leittier, das eine hölzerne Glocke trägt. Sie bimmelt hohl, und die anderen gehen einfach einzeln hinterher, in einer Reihe wie Elefanten - wobei sie sich am Schwanz des Vorgängers festhalten. Dieses ulkige Kamel zuckte und drehte sich auf eine merkwürdige Art zu einer Seite. Es wehrte sich nicht, sondern zitterte und hatte Schaum vor dem Maul. Ab und zu blieb es stehen. Das Tier war zweifellos von einem djinn besessen, ein Teufel steckte in seinem Leib. Ich sah zu, wie der Mann das arme Ding am Hang entlang hinter sich herzerrte. Plötzlich brach es zusammen.Er schrie und brüllte es an, es solle wieder aufstehen. Wild schlug er mit einem Stock auf seinen Bauch ein, aber das Kamel lag nur heftig zuckend im Sand. Ich glaubte zu erkennen, dass es eine hahl ein schwangeres Weibchen war, wertvolles Tier. Der Mann setzte sich hin und barg den Kopf in den Händen. Es überraschte mich, einen erwachsenen Mann im Schmutz sitzen zu sehen. Nomaden bleiben immer stehen und wenn sie sich ausruhen, heben sie einen Fuß an .anderen Schenkel und hängen die Arme über einen Stock über den Schultern. Manchmal hocken wir Frauen uns hin, aber Männer sitzen niemals auf der Erde. Auch geschlagen hatte hier noch keiner ein Kamel. In meiner Familie erachtete man Kamele als wertvoll. Mein Vater und meine Onkel waren streng mit unserer Herde; aber sie schlugen die Tiere nur wegen Eigensinn und Ungehorsam. Kamele können gemein sein, und ich hatte früh gelernt, mich vor ihren Tritten und Bissen in Acht zu nehmen.

Ich versteckte mich, damit er nicht merkte, dass ich ihn beobachtete. Vielleicht würde er .auch mich schlagen. Am liebsten wäre ich nach Hause gerannt und hätte es meiner Mutter erzählt; aber ich wagte es nicht, die Ziegen allein zu lassen. Mein Vater würde außer sich sein vor Wut und mich verprügeln, wenn die Tiere davonliefen oder eine Hyäne sich eins schnappte. Also stand ich still wie eine Babygazelle hinter einem Busch und wagte kaum zu atmen.

Schließlich hörte die hahl auf zu zittern. Sie blickte sich einen Moment um und schien erst jetzt zu merken, dass sie auf dem Boden lag. Zuckend zog sie ihre Beine unter den Bauch und erhob sich. Zwar war sie so anmutig wie die meisten Kamele, .aber Schaum und Geifer tropften ihr aus dem Maul. Auch der Fremde stand auf, fast so als hätte er das schon viele Male mitgemacht - und zerrte sie weiter. Sie schleppten sich den tuug hinunter und an der anderen Seite wieder hoch, auf unser Lager zu. Bestimmt machte er sich große Sorgen um sein krankes Kamel; denn wenn es starb, würde er das Fohlen auch verlieren.

Länger als ich denken konnte, war es heiß und hocken gewesen. Ich wusste, dass meine Eltern sich Sorgen machten, obwohl sie nichts sagten. Wir hatten nicht viel Wasser, weil auch die Wasserlöcher im tuug immer mehr austrockneten. Schon ein paar Mal waren wir weitergezogen, um Wasser für die Tiere zu finden. In der Nacht war ein neu geborenes Kamelfohlen gestorben. Mein jüngerer Bruder, den wir Alter Mann nannten, weil seine Haare sehr früh weiß wurden, hatte es am Morgen gefunden. Alter Mann schien immer alles vor den anderen zu wissen, obwohl er noch so klein war. Mein Vater stubste das winzige Ding an, das nur aus Beinen und Hals bestand, und blickte zum wolkenlosen Himmel. Wenn es trocken war, sah er immer zum Himmel und betete zu Allah um Regen. Wir konnten das Fleisch nicht essen - weil es für uns als Muslime unrein ist, ein Tier zu essen, das nicht auf die richtige Art geschlachtet wurde. Die Geier kreisten schon so niedrig, dass ihre langen Flügel Schatten warfen, wenn sie über unsere Köpfe flogen. Ich erinnere mich noch gut an das Geräusch des heißen Windes und das leise Murmeln meiner Mutter, die betete.

Meine Mutter versäumte ihre täglichen Gebete nie, ganz gleich, wie verzweifelt die Lage war. Wenn man krank ist, muss man nur dreimal am Tag beten statt fünfmal, und man muss sich auch nicht zu Boden werfen; aber meine Mutter betete unbeirrt immer fünfmal. Bevor Moslems beten, waschen sie sich, damit sie sauber und rein sind, wenn sie mit Gott sprechen. Allah, möge diese Waschung meine Seele reinigen... Wir hatten kaum genug Wasser, um am Leben zu bleiben oder die Tiere zu tränken, also gab es keines zum Waschen. Wenn Mama kein Wasser fand, wusch sie sich mit Sand. Fünfmal am Tag grub sie den Sand unter einem Busch aus, an einer Stelle, über die noch niemand gelaufen war. Sie wusch sich damit die Hände wie mit Wasser, rieb es sich durchs Gesicht und über die Füße. Dann rollte sie ihre gewebte Gebetsmatte nach Osten aus, in Richtung der heiligen Stadt Mekka, kniete nieder und betete. Es gibt keinen Gott außer Allah, und Mohammed ist sein Prophet... Da wir keine Uhr besaßen, teilten wir die Zeit durch die täglichen fünf Gebete ein.S. 7-11

Lesezitate nach Waris Dirie - Nomadentochter



© 24.4.2002 by
Manuela Haselberger
Quelle: http://www.bookinist.de