Dezember 1996. In wenigen Tagen beginnen die Ferien, die Parlamentssaison neigt sich ihrem
Ende zu. Häufiger noch als sonst renne ich zwischen meinem Büro, wo ein Termin den anderen jagt, und dem Halbrund des Plenarsaals, wo ich an den Sitzungen teilnehmen muss, der Zeit hinterher. Ich bin fünfunddreißig Jahre alt und seit zwei Jahren Abgeordnete.
Gegen 15 Uhr 30 - ich bin mitten in einem Gespräch - öffnet meine Sekretärin die Tür einen Spalt.
»Da ist jemand, der Sie dringend sprechen will, Ingrid. Ein Mann...«
»Hat er einen Termin?«
»Nein. Aber er lässt nicht locker.«
Die Debatte im Abgeordnetenhaus beginnt um 16 Uhr. Ich überlege einen Moment.
»Gut, sag ihm, ich empfange ihn direkt nach meinem jetzigen Besuch, aber ich habe nur eine Viertelstunde, tut mir leid.«
Ein eleganter Mann betritt das Zimmer. Er ist in den Vierzigern, von mittlerer Größe, weder gut aussehend noch hässlich, sodass ich später nicht in der Lage bin, ihn zu beschreiben, zu identifizieren.
»Setzen Sie sich bitte.«
»Danke. Wir beobachten Sie aufmerksam, Doctora, wir haben große Hochachtung für das, was Sie tun ...«
Wir lächeln uns an. Ich sitze mit gestrafftem Oberkörper an der anderen Seite des Schreibtischs, der uns trennt, und habe die Ellbogen aufgestützt; wahrscheinlich hat er ein Gesuch vorzubringen, wie die meisten, die zu mir kommen.
»Deshalb wollte ich Sie auch sprechen, Doctora, wir machen uns wirklich Sorgen um Sie. Kolumbien durchläuft eine Zeit großer Spannungen, heftiger Gewalt. Man muss doppelt vorsichtig sein und sehr, sehr aufpassen.«
Ich sehe ihn die Stirn runzeln und mit düsterem Gesicht den Blick abwenden.
Ich bin derartige Worte gewöhnt. Die meisten Menschen, denen ich begegne und die mich unterstützen1 teilen diese Zwangsvorstellung von der Gefahr, speziell die Frauen, die mir immer wieder und auf sehr fürsorgliche Weise sagen, dass sie mich in ihre Gebete einschließen, damit mir nichts geschehe und Gott mich beschütze. In solchen Momenten versuche ich meine Gesprächspartner davon zu überzeugen, dass meine Sicherheit nicht in Gefahr sei, dass ich absolut nichts riskiere, da ich der Ansicht bin, dass die Regierung mit dieser Angst der Kolumbianer spielt. Wie ließe sich die Hoffnung eines Volkes besser zunichte machen, als indem man es davon überzeugt, dass jeder, der zu reden und die Dinge beim Namen zu nennen wagt, unverzüglich aus dem Weg geräumt wird?
»Machen Sie sich keine Sorgen«
, sage ich zu diesem Mann, »ich werde perfekt beschützt, ich habe um mich herum einen diskreten, aber erfolgreichen Sicherheitsapparat, Sie haben nichts zu befürchten. Ich danke Ihnen allerdings für das Interesse, das Sie mir entgegenbringen, aber was kann ich für Sie tun?«
Überraschenderweise wiederholt er mit noch finstererem Blick, was ich für eine höfliche Einleitung gehalten habe.
Der Präsident des Pariser Zivilgerichts hat per einstweiliger Verfügung angeordnet,
auf den Protest von Herrn Ernesto Samper gegen die ihn betreffenden
Vorwürfe auf den Seiten 8-11, 53,151-154, 155-161, 177 und 197 f. dieses
Buches, die er als verleumderisch betrachtet hinzuweisen.
»Es war mir ein großer Wunsch, Sie kennen zu lernen, Doctora, aber in erster Linie bin ich hier, um Sie zu warnen. Wir sind sehr besorgt ...«
»Das ist sehr freundlich, ich bin gerührt, aber, wie Ihnen meine Sekretärin sicher gesagt hat, ich habe wenig Zeit.«
Ich blicke ostentativ auf meine Uhr.
»Sie haben nicht verstanden«
, fährt er trocken fort. »Ich will Ihnen klarmachen, dass Sie wirklich aufpassen müssen.«
Nun hat sein Gesicht nichts Sympathisches mehr. Er fixiert mich starr mit hartem Blick.
Mit einem Mal wird mir bewusst, dass er nicht der Mann ist, für den ich ihn hielt, dass er nicht der verzweifelte Bürger ist, der einen um Hilfe anfleht, der hartnäckige Bewunderer, den ich vermutet habe, sondern jemand mit einem Auftrag, der mir etwas ganz Konkretes zu übermitteln hat. Ich wechsele meinerseits den Tonfall.
»Wie lautet die Botschaft?«, frage ich mit leichtem Lachen. »Wollen Sie mir drohen?«
»Nein, das ist keine Drohung. Ich bin nicht hier, um Ihnen Angst zu machen, ich bin hier, um Sie zu warnen. Sie sollten wissen, dass Sie in Gefahr sind, dass Ihre Familie in Gefahr ist. Ich spreche im Namen der Leute, die bereits einen Vertrag auf Sie abgeschlossen haben. Sie raten Ihnen zu verschwinden, weil der Entschluss gefasst ist. Um genau zu sein, Doctora, will ich Ihnen sagen: Wir haben die >Sicarios< bereits bezahlt.«
Mit Sicherheit bin ich blass geworden. In diesem Moment weiß ich, dass er nicht lügt. Das Wort »Sicarios« fungiert bei uns als Schlüsselwort. Das sind Männer auf Motorrädern, die in den größten Elendsvierteln der Außenbezirke rekrutiert werden und täglich für lächerliche Summen in Kolumbien Menschen umbringen.
Ich habe also eine Grenze überschritten, eine rote Linie. Diesmal will man mich wirklich einschüchtern. Sechs Monate zuvor, als ich das Parlament in einer eisigen Julinacht verließ,
wurden mein Auto und das meiner Leibwächter von Schützen als Zielscheibe benutzt. Damals ist niemand getroffen worden und ich haue glauben wollen, dass wir einfach im falschen Moment am falschen Ort vorbeigekommen waren.
»Was Sie mir also letztlich ankündigen wollen«, sage ich wohlartikuliert und meinen Blick starr auf ihn geheftet, »ist, dass Sie mich töten werden.«
»Ich habe Ihnen gesagt, Sie sollen gehen, weil die entsprechenden Maßnahmen bereits ergriffen sind.«
Der Mann steht auf, gibt mir die Hand, verabschiedet sich sehr höflich und verschwindet.
Habe ich seine Hand gedrückt? Habe ich sogar sein Lächeln erwidert?
S. 7-9
Lesezitate nach Ingrid Betancourt - Die Wut in meinem Herzen