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Zoff in der Siedlung
Minette Walters - Der Nachbar

ie Machart der Krimis von Minette Walters ist zwischenzeitlich bekannt: aktuelle Zeitungsnotizen, eingestreute Polizeiprotokolle und verschiedene Schauplätze, die häufig wie mit der Kamera beobachtet werden, wechseln sich ab, sodass sich der Leser aus unterschiedlichen Blickwinkeln sein eigenes Bild der Handlung machen kann.

Auch ihr Roman "Der Nachbar" ist nach diesem Muster gestrickt. Doch das ist nicht zum Nachteil dieses Krimis, dessen Hauptakteur der Schauplatz selbst ist: die Acid Row. "Ein trostloses Pflaster, wo kaum jemand eine abgeschlossene Schulbildung hatte, Drogen allgemein verbreitet waren und Prügeleien an der Tagesordnung."

Mit Sicherheit ein sozialer Brennpunkt der Sonderklasse. Hier leben Alte, Sozialhilfeempfänger, Süchtige und Kranke auf engstem Raum zusammen. "Für die Acid Row galten andere Regeln als für den Rest der Welt."

Allerdings, als die Bewohner durch eine undichte Stelle im medizinischen Dienst davon erfahren, dass seit Kurzem ein pädophiler Straftäter hier einquartiert wurde, schlagen die Wellen erst richtig hoch. Noch dazu verschwindet Amy, ein kleines Mädchen, spurlos. Ist sie eines seiner Opfer geworden? In Windeseile formiert sich eine gewalttätige Demonstration, die auch vor dem Einsatz von Molotow-Cocktails nicht zurückschreckt.

Als die Ärztin Sophie zu einem Patienten in der Acid Row gerufen wird, sieht sie sich plötzlich mit einem gefährlichen Verbrecher konfrontiert, der sie bedroht und den die Menge vor seiner Haustür am liebsten lynchen würde. Und für die Kräfte der Polizei gibt es keine Möglichkeit die Straßenbarrikaden zu überwinden, zumindest nicht in kurzer Zeit.

Die Stärke des neuen Krimis von Minette Walters liegt in der Darstellung des sozialen Brennpunkts "Acid Row", denn nicht alle Familien der Siedlung sind aggressiv und auf der Seite des Mobs. Da versucht Jimmy, gerade aus dem Gefängnis entlassen, seiner schwangeren Freundin zu Hilfe zu kommen und setzt sein eigenes Leben dabei aufs Spiel. Oder die kranken, alten Bewohner, die mittels einer Telefonkette untereinander Kontakt halten und ihren eigenen Beitrag leisten, die entfesselte Menge in Zaum zu halten und sich nicht von den wohlfeilen Vorurteilen der Sprechchöre blenden lassen.

"Der Nachbar" ist kein nervenzerfetzender Psycho, die Konstruktion ist solide gearbeitet und hat sich bei Minette Walters Romanen schon häufig bewährt, doch die Darstellung der gewalttätigen Eskalation und die verschiedenen Reaktionen der betroffenen Menschen ist sehr gut geglückt.

Handfestes Krimifutter !. © manuela haselberger


Minette Walters - Der Nachbar
Originaltitel: Acid Row, © 2001
Übersetzt von Mechtild Sandberg-Ciletti

© 2002, München, Goldmann Verlag, 414 S., 22.90 € (HC)
© 2002, München, Goldmann Verlag, 413 S.,  9,95 € (TB)
© 2002, randomhouse audio, 6 CDs, 39.50 € (CD)
© 2002, randomhouse audio, 4 Cass., 39.50 € (MC)





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Die Krawalle legten sich, als die Nachricht vom Blutbad in der Siedlung bekannt wurde. Einzelheiten blieben unklar. Niemand konnte sagen, wie viele Menschen umgekommen waren und wie sie ihr Leben verloren hatten, aber es war von Kastration, Lynchjustiz und Angriffen mit einer Machete die Rede. Die Straßen leerten sich schnell. Alle fühlten sich schuldig, auch wenn keiner es offen eingestand, und niemand wollte sich wegen Mordes verantworten müssen.

Mit den Jugendlichen, die oben auf den Barrikaden die Polizei mit Benzin bomben in Schach gehalten hatten, verhielt es sich ähnlich. Sie behaupteten später nicht ganz zu Unrecht, sie hätten nicht gewusst, was vor sich ging; als jedoch Berichte von dem blutigen Gemetzel durchsickerten, suchten auch sie das Weite. Sich in ehrenhaftem Kampf mit dem Feind zu schlagen, war eine Sache; sich der Beschuldigung auszusetzen, an dem rasenden Irrsinn in der Humbert Street beteiligt gewesen zu sein, ihm gar noch Vorschub geleistet zu haben, etwas ganz anderes.

Die Schlagzeilen am folgendem Morgen - dem 29. Juli - waren grausig. Alkoholisierte Menge im Blutrausch - Pädophiler brutal abgeschlachtet - 3 Tote und 189 Verletzte nach fünfstündigem Massaker... Die Welt schauderte angewidert. Die Leitartikler stellten die üblichen Verdächtigen an den Pranger. Regierung, Polizei, Sozialdienste, Pädagogen. Die Jugendberatungsstellen im ganzen Land waren demoralisiert.

Aber von den zweitausend Menschen, die sich bei den Unruhen um Plätze mit guter Sicht auf die Orgie von Tod und Gewalt geschlagen hatten, wollte später kein Einziger dabei gewesen sein.


19. - 20. Juli 2001
Beim Nightingale Health Centre las höchstens eine Hand voll Leute die amtliche Mitteilung über den Zuzug eines Pädophilen in die Bassindale Siedlung, bevor das Blatt in der Verwaltung unter Papierbergen verschwand und schließlich von einer Schreibkraft abgelegt wurde, die glaubte, es hätte ordnungsgemäß die Runde gemacht. Für die Mitarbeiter, die die Meldung zu Gesicht bekamen, war sie ein alltägliches Dokument, das den Namen eines neuen Patienten und einige Angaben zu seiner Person enthielt. Für alle Übrigen war es ohne Belang, da es auf ihre Einstellung gegenüber dem Patienten keinen Einfluss haben würde - oder sollte.
Eine der amtlichen Betreuerinnen des Gesundheitsdienstes wollte die Angelegenheit bei einer Personalbesprechung zur Diskussion stellen, wurde aber von ihrer Gruppenleiterin, die für die Aufstellung der Tagesordnung zuständig war, abgewiesen. Möglich, dass die seit langem schwelende Feindschaft zwischen den beiden Frauen - von denen eine die andere für inkompetent hielt - die Gruppenleiterin bei ihrer Entscheidung beeinflusste. Es sei Sommer, meinte sie, und da wolle jeder gern zu einer vernünftigen Zeit zu Hause sein. Außerdem könnten sie an der Sache ohnehin nichts ändern, selbst wenn die Ärzte sich darüber einig seien, dass es unverantwortlich und brandgefährlich sei, einen Pädophilen in einer Wohnsiedlung voller Kinder unterzubringen. Sein Umzug nach Bassindale sei von der Polizei veranlasst worden.

Dieselbe Betreuerin wurde in dem offenkundigen Bemühen, die Entscheidung ihrer Gruppenleiterin zu kippen, hei Dr. Sophie Morrison vorstellig. Zu diesem Zeitpunkt allerdings ging es ihr bereits weniger um die bedenkliche Anwesenheit des Pädophilen als um den persönlichen Triumph, und Sophie Morrison, naiv und unerfahren im amtlichen Intrigenspiel, war leicht unter Druck zu setzen. So jedenfalls schätzte Fay Baldwin die umgängliche junge Frau ein, die vor zwei Jahren zum Ärzteteam des Nightingale Health Gentre gestoßen war.

Fay wartete bis zum Ende der Abendsprechstunde, dann meldete sie sich mit dem für sie typischen Klopfzeichen - einem Ratatat-tat spröder Fingernägel, das bei allen ihren Kollegen und Kolleginnen die gleiche Reaktion hervorrief. »Haben Sie einen Moment Zeit?«, fragte sie, den Kopf ins Zimmer streckend, mit gewollter Munterkeit.

»Tut mir Leid, im Moment nicht. « Sophie stürzte sich über die Tastatur ihres Computers und begann wie besessen irgend einen Unsinn zu tippen, der ihr gerade in den Kopf kam. »Ich muss dringend noch ein Protokoll schreiben«, erklärte sie dabei, »und dann ab nach Hause. Tut mir wirklich Leid, Fay. Hat die Sache nicht bis morgen Zeit?«

Es half nichts. Es half nie. Die grässliche Person schob sich einfach ins Zimmer und deponierte ihren spitzen Hintern auf der Schreibtischkante. Sie war wie gewohnt vorbildlich gekleidet und tadellos frisiert, rein äußerlich ein Ausbund an Kompetenz und Professionalität. In ihrem Inneren allerdings sah es ganz anders aus. Sie war in einem Teufelskreis gefangen. Einerseits versuchte sie verzweifelt an dem Einzigen festzuhalten, was ihrem Leben Sinn gab - an ihrer Arbeit; andererseits hatte ihr Hass auf die Menschen, mit denen sie zu tun hatte - Patienten und Kollegen gleichermaßen - katastrophale Ausmaße erreicht.

Sophie hatte den Standpunkt vertreten, dass es das Beste wäre, sie vorzeitig in den Ruhestand zu schicken und ihr psychologischen Beistand anzubieten, damit sie mit der Leere in ihrem Lebens zurecht käme. Der leitende Arzt der Praxisgemeinschaft - mit weit weniger Verständnis für frustrierte alte Jungfern, die am liebsten über andere herzogen - hielt es für klüger, schlafende Hunde nicht zu wecken. In drei Monaten werde man sie sowieso los sein, meinte er. Etwas anderes wäre es gewesen, wenn sie ihre Patientin gewesen wäre; aber Sie hatte der Konkurrenz am anderen Ende der Stadt den Vorzug gegeben. »Ich könnte mich nie vor Leuten ausziehen, die ich kenne«, hatte sie kokett erklärt.

Als interessierte das jemanden!
»Ich brauche nur eine Minute«, zwitscherte Fay jetzt mit ihrer Kleinmädchenstimme. »Sechzig Sekunden werden Sie doch für mich übrig haben, Sophie.«
»Wenn es Sie nicht stört, wenn ich dabei meine Sachen packe.« Sophie seufzte innerlich. Sie schaltete ihren Computer aus und schob ihren Stuhl zurück, wobei sie sich fragte, welche ihrer Patientenkarten sie soeben mit ihren wilden Tippübungen vollgepflastert hatte. Es war immer dasselbe. Sobald man es mit Fay zu tun bekam, ließ man sich die blödsinnigsten Dinge einfallen, nur um der Unglücksperson irgendwie zu entkommen. »Ich bin um acht mit Bob verabredet.«
»Stimmt es, dass Sie heiraten?«
»Ja«, bestätigte Sophie, froh, sich auf sicherem Terrain zu befinden.
»Ich hab ihm die Pistole auf die Brust gesetzt.«
»Also, ich würde niemals einen Mann heiraten> der im Grunde genommen gar nicht will.«
»Aber Fay, das war doch nur Spaß.« Sophies Lächeln erlosch angesichts der herabgezogenen Mundwinkel der anderen. »Ach, lassen wir's einfach, es ist ja nun wirklich keine weltbewegende Neuigkeit.« Sie zog den Zopf, der ihr bis zur Taille hinunterfiel, über die Schulter nach vorn, und begann, ihn mit den Fingern auszukämmen. Dabei lenkte sie ganz ohne Absicht die Aufmerksamkeit auf ihre natürliche jugendliche Frische.

»Melanie Patterson hat's mir erzählt«, bemerkte Fay giftig. »Ich hätte Sie schon letzte Woche drauf angesprochen, aber sie hat gesagt, es wäre ein Geheimnis. «
Mist! »Ach, ich wollte einfach das Schicksal nicht herausfordern. Ich meine, nicht, dass Bob es sich in letzter Minute noch anders überlegt«, erklärte Sophie, auf ihren Zopf konzentriert. Sie machte ihren Verlobten schlecht, aber wenn sich dadurch der nächste Krach mit Fay über Melanie Patterson vermeiden ließ, wollte sie das gern auf sich nehmen. Sie und Fay waren bereits in der vergangenen Woche heftig aneinander geraten, und sie legte nicht den geringsten Wert auf eine Wiederholung der Szene.
»Sie sagte, Sie hätten sie zur Hochzeit eingeladen. «
Mist und noch mal Mist! Sophie stand auf und ging zu dem Spiegel an der gegenüberliegenden Wand, nur um nicht in Fays vorwurfsvolles Gesicht sehen zu müssen. » Bis dahin ist es noch eine Ewigkeit«, log sie. »Die Einladungen gehen frühestens in vier Wochen raus. « Im Spiegel sah sie, dass Fays Miene sich etwas entspannte. »Was wollten Sie denn mit mir besprechen? « fragte sie.

»Es trifft sich gut, dass wir gerade von Melanie reden«, hakte Fay sogleich ein. »Es geht nämlich unter anderem um sie. Claire lehnt jede Diskussion über das Thema ab - sie behauptet, es gäbe nichts zu besprechen -, aber ich kann ihr da beim besten Willen nicht folgen. Erstens nehme ich unsere Arbeit um einiges ernster als sie, und zweitens wissen wir doch, dass Melanies Kinder ständig auf der Straße herumhängen und Sophie schnitt ihr das Wort ab. »Hören Sie auf, Fay«, sagte sie mit ungewohnter Schärfe. »Sie haben Ihre Ansichten über Melanie letzte Woche deutlich genug zum Besten gegeben. «

»Ja, aber
»Nein!« Sophie drehte sich herum. Ihre Augen waren zornig. »Ich werde mich nicht noch einmal mit Ihnen über Melanie streiten. Begreifen Sie denn nicht, dass Claire Ihnen nur eine Brücke bauen möchte, wenn sie jede weitere Debatte zu diesem Thema ablehnt?«
»Sie können der Diskussion nicht aus dem Weg gehen«, entgegnete Fay, sofort aufgebracht. »Schließlich bin auch ich für Melanie zuständig. «
Sophie griff nach ihrem Köfferchen. »Jetzt nicht mehr. Ich habe Claire gebeten, Melanie eine der jüngeren Betreuerinnen zuzuweisen. Sie wollte es Ihnen am Montag mitteilen.«

Fays stark gepudertes Gesicht verlor alle Farbe. Der Ruhestand war wohl plötzlich einen bedrohlichen Schritt näher gerückt. »Sie können mir keine Betreuungspersonen wegnehmen, nur weil Sie anderer Meinung sind als ich«, rief sie heftig.
»Wenn Sie eine meiner Patientinnen als Hure und Schlampe beschimpfen und völlig aus der Rolle fallen, wenn ich es wage, Ihnen zu sagen, dass das so nicht geht, dann ist das etwas Ernsteres als eine Meinungsverschiedenheit«, entgegnete Sophie kühl. »Es ist schlicht unprofessionell, Fay.«
»Aber was anderes ist sie doch nicht«, zischte Fay wütend. »Sie kommen aus gutem Hause... Sie müssten eigentlich fähig sein, das selbst zu erkennen. « Speicheltröpfchen flogen von ihren Lippen. »Sie geht mit jedem Kerl ins Bett, der auch nur das geringste Interesse an ihr zeigt - in der Regel, wenn sie betrunken ist-, und dann stolziert sie herum wie Graf Koks und erzählt jedem, der es hören will, dass sie wieder schwanger ist - als wär das was, worauf man stolz sein kann.«

Sophie schüttelte den Kopf. Es war sinnlos, sich mit dieser Person herumzustreiten. Jede Auseinandersetzung mit ihr endete unweigerlich im Persönlichen. Ihre Ansichten waren von ihrem eigenen Lebensstil gefärbt. Sie hätte in die Zeiten gepasst, als uneheliche Kinder eine Schande gewesen, und Frauen, die » nichts auf sich hielten«, in Heime gesperrt und mit Verachtung gestraft worden waren. Damals hätte sie als >anständige Frau< noch etwas gegolten und nicht wie heute einzig Mitleid oder Belustigung hervorgerufen. Es war ein Rätsel, wieso sie ihre Berufung ausgerechnet darin gesehen hatte, sich im öffentlichen Gesundheitswesen zu betätigen … S. 9-15

Lesezitate nach Minette Walters - Der Nachbar




Minette Walters:

In Flammen

Minette Walters:

Das Echo

Minette Walters:

Dunkle Kammern

Minette Walters:

Wellenbrecher


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Titel von
Minette Walters
 Taschenbuch



Die Bildhauerin.

Sonderausgabe.
© 2001



Im Eishaus.

Sonderausgabe.
© 2001



Die Schandmaske.

© 1998



Am Sandstrand.

Das große Ferienlesebuch.
© 2000



Schlangenlinien.

© 2002



Die Bildhauerin.

© 1997


© 2.9.2002 by
Manuela Haselberger
Quelle: http://www.bookinist.de