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NACH
ALL DEN Jahren habe ich immer noch
eine Narbe im Gesicht. Sehr dünn und gefärbt wie ein Imkerhandschuh. Mein Stiefvater
Simon Jester stand eines Tages am Herd und wendete ein Ei. Ich trat hinter ihn
und sagte irgendetwas. Erschrocken fuhr er herum.
»lch
bin's nur«, sagte ich, und allein sein Blick ließ mich schaudern.
Statt zu
antworten, drückte er mir die Kante des heißen Pfannenhebers ins Gesicht. Meine
Mutter, die darauf bestand, dass ihre Kinder sie beim Vornamen - Meg - anredeten,
fand mich später auf der Veranda und strich weiße Creme auf die lange, schmale
Blase. »Das ist die Hitze, Alice«, sagte sie dabei leise. »Macht ihn reizbar.«
Das war nur die halbe Wahrheit, Megs Spezialität. Simons Wahnsinn war nicht
Sklave der Temperatur allein. Wobei ich davon überzeugt bin, dass es die
lodernde Hitze eines Sommernachmittags war - zusammen mit dem unverzeihlichen
Verrat meines Bruders -, die Simon am Ende zu dem Entschluss brachte, uns
beide umzubringen.
An jenem
Tag stand ich vor dem Spiegel in einem Badezimmer, das durchdringend nach
Simons Aftershave roch, betrachtete mich aufmerksam und suchte nach Hinweisen
darauf, dass Simon meine Zahnpasta vergiftet hatte, mein Kopfkissen, meine
Milch, die ich am Morgen ins Licht gehalten hatte. Meine Augen waren klar. Die
Pupillen waren nicht geweitet. Meine Lippen waren nicht blau. Meine Haut hatte
keinen gelblichen Ton. Nirgends ein Tremor. Ich beugte mich vor und entblößte
die Zähne. Mein Zahnfleisch blutete nicht. Der Dunst meines Atems auf dem
Spiegel sah harmlos aus. Und doch konnte mein Körper mich jeden Augenblick im
Stich lassen. Das Herz konnte mir stehen bleiben.
Es war
Anfang Juni. Das Gras stand hoch um die Zaunpfähle, wo mein Bruder vergessen
hatte, es zu schneiden. Klee und Sonnenhut. Blühender Oleander. Marienkäfer,
Grashüpfer, Grillen. Meine bloßen Füße konnten die Wiese nicht berühren, ohne
lebende Dinge einzusammeln, aber ich wusste, dass etwas nicht stimmte mit dem
Ökosystem dieses Gartens, dieses Hauses. Stiefväter haben sich nicht gegen
ihre neuen Kinder zu verschwören, und wenn sie es doch tun, dann haben die
Mütter dem ein Ende zu machen. Aber meine eigene Mutter wollte die Wahrheit
über Simon nicht glauben, sperrte sich hartnäckig dagegen, ärgerte sich über
Glut und Farbe dieser Wahrheit.
Ich
beendete meine Inspektion vor dem Badezimmerspiegel und ging hinaus auf die
hintere Veranda, wo mein Bruder saß und seine Brille polierte. Seine Hände
zitterten, und der nervöse Tic an seinen Augen war so stark, wie ich es seit
langem nicht gesehen hatte, aber anscheinend hatte er die seltsame Benommenheit
abgeschüttelt, in der er sich seit jenem Morgen befand, und darüber war ich
erleichtert. Ich setzte mich neben ihn und sagte: »Das Spiel ist aus, schätze
ich.« Ich sagte es sehr beiläufig und mit einem Hauch von Müdigkeit, und ich
hoffte, dass mein Ton meinen Bruder beruhigen würde.
»Ich
weiß«, sagte er.
»Wir
sind zu weit gegangen.« »Ich bin zu weit gegangen.«
»Ist
doch egal, wer was getan hat.«
Boone
sah hinüber zu unserer Mutter, die auf der Zypressenholzschaukel saß, mit
Blick auf die Veranda, und sich den geschwollenen Bauch hielt. Ihren toten
Bienenvölkern hatte sie den Rücken zugewandt. Sie schien in Erinnerungen an
diese Bienen zu versinken. An ihr wechselndes Summen. Ihr perfektes
Funktionieren. Ihren verzweifelten Drang nach Ordnung, der sich mit der
Jahreszeit zu Wachs und Honig verrührt hatte. Die Letzten waren gestorben,
bevor die Narzissen aufgeblüht waren, und die Rahmen in den Bienenstöken
hatten sich mit einem Filz überzogen, der sich bei näherem Hinsehen als
verwesende Leichen erwies. Meg neigte indessen immer noch dazu, im Präsens von
ihnen zu sprechen, als wären sie noch da und arbeiteten und summten und stächen
sie in die ungeschützten Hände. Sie trug ein formloses grünes Schleiergewand
und krümmte die bloßen Füße, wenn die Schaukel sie nach vorn trug. Selbst aus
dieser Entfemung sahen wir den Glanz, den die Schwangerschaft in ihr Gesicht
brachte. Den Triumph. Sie winkte uns träge zu, und Boone schüttelte ungläubig
den Kopf.
»Warum
hilft sie uns nicht?«, flüsterte er.
»Sie
glaubt nicht, dass irgendetwas passieren wird.«
»0 Gott.
« Er strich mit den Fingerspitzen über die buschigen Kurven seiner Augenbrauen
und setzte die Brille wieder auf. Er sah mich an, und seine Brauen zuckten. Der
Nachmittags. wind strich einen leisen Tic glatt. Er berührte meinen Arm. »Hasst
du mich?«
»Nein. «
»Wirklich
nicht?«
»Simon
hat doch nur auf einen Vorwand gewartet. Wenn du es nicht getan hättest, wäre
es etwas anderes gewesen. «
»Bitte,
Alice. Geh und sprich mit ihr.« »Was soll das nützen?«
»Vielleicht
glaubt sie uns endlich.«
Boone
war vierzehn - zwei Jahre älter als ich -, aber er hatte nicht begriffen, was
ich begriffen hatte: dass eine Schnappschildkröte sich leichter vom Angelhaken
lösen lässt als eine Frau von ihrem Retter. Aber um ihm eine Freude zu machen,
watete ich durch das Gras zu meiner Mutter hinüber und ließ dabei Mücken hochtanzen
und Grashüpfer in ihren verrückten, ziellosen Sprüngen davonstieben. Hier und
da lagen die aufgegebenen Objekte der Bienenzucht meiner Mutter im Gras: weiße
Handschuhe, ein Nylonschleier, ein Stockmeißel, ein Rauchapparat, aus dem
verkohltes Sackleinen quoll. Um diese Zeit hätten die Bienen eigentlich am Rand
der Regentonne versammelt sein und Wasser für die dampfenden Körbe holen
müssen. Jetzt waren alle Bienen tot. Bis auf ... Meg rutschte auf der Schaukel
herüber und hielt mir den Handrücken entgegen. »Schau«, sagte sie entzückt.
»Eine Biene! Sie kroch zwischen ihren Fingern und durch das rosige Tal
zwischen den Knöcheln, kam hinten herum und den Ringfinger hinauf bis zu dem
Diamanten auf ihrem Trauring, und dann balancierte sie halsbrecherisch auf dem
winzigen Edelstein, dessen wahrer Wert zweifelhaft war. Es war eine wilde Biene
keine von Megs italienischen Bienen, die hier in ihrem schmerzlichen Drang nach
Nektar die Landschaft durchstreift hatten. Gleichwohl bewunderte Meg sie auf ihrem
Finger, als sei ihr Diamant plötzlich größer geworden. »Das ist mein neuer
Freund«, sagte sie.
Die
Biene war mit gelben Pollen bedeckt. Sie drehte sich noch einmal auf dem Ring
und flog davon. Meine Mutter seufzte traurig, denn sie hasste es, verlassen zu
werden.
»Simon
wird uns umbringen für das, was Boone getan hat«, sagte ich. »Ich sehe es
seinen Augen an.«
Sie
antwortete nicht. Stattdessen nahm sie meine Hand und drückte sie an ihren
Bauch. Ich spürte das Strampeln des Babys an der Handfläche.
»Fühlst
du das?«, fragte sie. »Das ist dein Bruder.« »Halbbruder. Falls es ein Junge
ist.«
»Oh, es
wird ein Junge werden. Simon wünscht sich einen Jungen.«
»Hast du
gehört, was ich gesagt habe, Meg? Über Simon?« »Das sind doch nur Worte. Es
macht Simon Spaß, uns Angst zu machen. Nach dem Essen, wenn es kühler ist, wird
er schon wieder zu sich kommen. «
»Wenn es
kühler ist? Darauf kommt es nicht an. Er würde meinen Tod planen, wenn er auf
einem Eisberg säße. « Ich holte tief Luft. »Willst du nicht wissen, was heute
Morgen passiert ist?«
»Nein.«
Wie Meg das Wort aussprach, klang es sanft und traurig.
Unter
meiner Hand fing das Baby wieder an zu treten. »Dauert jetzt nicht mehr lange«,
sagte Meg leise.
»Bis wir
tot sind?«
»Ach
Schatz . . . « Megs Stimme klang leise und traurig. »Es wird nichts Schlimmes
passieren.« Sie strich mir das Haar zurück. Zog mich näher zu sich, so dass ich
ihren Duft wahrnehmen konnte: eine unreife Süße wie vom Geißblattnektat. Sie
bewegte die Füße, und die Schaukel begann zu schwingen. Ich betrachtete ihren
Bauch. Ein Tyrann, dieses Baby, ohne Zweifel. Temperamentvoll im Mutterleib.
Verärgert über das matte Licht, das durch die Bauchdecke dringt. Über die Wärme
des Fruchtwassers. Die Anspannung der Nabelschnur.
Sanft
schüttelte ich Megs Umarmung ab, wandte der Schaukel den Rücken zu und ging
durch das Gras zurück.
Boone
war von der Veranda verschwunden. Wahrscheinlich war er in sein Zimmer
gegangen, um da zu zittern. Die wilde Biene, die über Megs Finger gekrochen
war, hockte auf dem Geländer. Sie hatte sich auf ihrer Suche nach Süßem verirrt
und
schnupperte jetzt an dem Schweiß, den die Handfläche meines Bruders auf dem
Holz hinterlassen hatte. Ich fragte mich, ob sie wohl schon über den stillen
Bienenfriedhof geflogen war, vorbei an ihren toten Artgenossen.
Ich
blickte zu Meg zurück. Sie schaukelte vor und zurück und hielt sich den Bauch.
Ich
drehte mich wieder um und schlug mit der flachen Hand auf das Geländer. Die
Biene starb unter meiner Handfläche zusammen mit all ihren geschäftigen
Absichten, und ich ließ den zerquetschten Leichnam dort hängen, mit Pollen aus
dem einen Magen und Nektar aus dem anderen. Ich ging ins Haus und kam am
Wohnzimmer vorbei, als er mich rief. Beim Klang seiner Stimme setzte mein Herz
aus.
Er
lehnte aufrecht in seinem Sessel, einen leeren Porzellanteller auf dem Schoß,
und inspizierte mit zusammengekniffenen Augen die Zinken seiner Gabel. Immer
wieder drehte er die Gabel im Nachmittagslicht, das durch das unverhängte
Fenster hereinströmte. Sein schwarzes Haar war von einem Gummiband
zusammengehalten und so straff nach hinten gezogen, dass man ein Muttermal an
seinem Ohr und ein anderes am Haaransatz sehen konnte. In seinem Ziegenbärtchen
saßen Krümel. Er drehte sich um und musterte mich mit seinen eng
zusammenliegenden Augen. »Wo ist deine Mama?«
Draußen.
«
»Wann
gibt es Abendessen?« »Wann immer du willst.«
Er sah
zu mir hoch, und ich entdeckte die Falte zwischen den Augen. Eine Runzel, die
schlechte Laune bedeutete. Einer seiner beiden Ärmel hatte sich an diesem Tag
rot gefärbt. Er verzog das Gesicht, als er den Arm hob und zur Küche deutete.
»Ist da noch mehr von dem Kuchen?«
Als ich
nickte, sagte er: »Bring mir welchen.«
Ich ging
in die Küche. An dem Pfirsich in der Obstschale hing immer noch ein Tropfen
Blut; zwei Tropfen waren auf dem Boden vor der Spüle getrocknet, und einer war
wie eine Träne an der weißen Front des Herdes heruntergelaufen. Ein Blutfleck
wie ein Riss zog sich ankerförmig quer über den Vorhang, und ein kleiner
brauner Streifen war noch auf der rosenfarbenen Seife zurückgeblieben.
Ich
suchte ein Messer und schnitt ein Stück Kuchen für Simon ab, und dabei dachte
ich über seine Pläne nach. Ich wusste, dass er Zugang zu Giften hatte; von
Entsetzen und Unsicherheit getrieben, hatte ich alle seine Bücher zu diesem
Thema gelesen, zu ihren Eigenschaften und Wirkungen, und ich wusste, dass
innerhalb unseres Hauses, Gartens und der Garage ein halbes Dutzend tödliche Gifte
zu finden waren: Strychnin, Arsen, Calciumcyanid, Sevin, Fluornatrium.
Thallium in den älteren Produkten. Nicht mehr Gift als üblich für eine
Familie, die sich mit Mäusen, Kakerlaken und Ratten zu plagen hatte, abgesehen
von den jetzt toten Bienen. Eine Familie, die Silber zu polieren, Fußböden zu
reinigen, Schränke zu beizen hatte.
Ich
kehrte ins Wohnzimmer zurück und reichte Simon den Kuchen. Dann sah ich zu, wie
er kleine Brocken davon abbrach und in den Mund steckte. Er schluckte sie wie
Tabletten. Bohrte die Finger hinein, drückte so fest zu, dass er Löcher
hinterließ. Seine Hand zitterte. Dieser Mann. Tyrannisiert Kuchen und Kinder.
Er sah zu mir hoch, und seine Augen drängten sich dicht an die Falte zwischen
ihnen. Weitere Falten auf der Stirn. »Immer noch hier?«
»Wo soll
ich denn hingehen?«
»Mir aus
den Augen, wenn du nichts dagegen hast.« »Hab ich nicht.«
»Moment.«
Er sah
mich lange an, und Schweiß rann ihm übers Gesicht. . S. 7-13
Lesezitate nach Kathy Hepinstall - Ein Hauch von Bittermandel
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