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Bookinists Buchtipp zu


Zähl nicht die Stunden

von Joy Fielding
© 2001

Bookinists Buchtipp zu


Flieh, wenn du kannst

von Joy Fielding


Grandes Dames
Joy Fielding - Nur wenn du mich liebst

ie vier Frauen verstehen sich auf Anhieb, als sie sich auf dem Kinderspielplatz treffen. Auch wenn sie unterschiedlicher nicht sein könnten. Barbara lebt nur für ihr Äußeres und in Outfit-Fragen gilt sie als die absolute Expertin. Ihr Gegenteil ist Chris mit dem blonden Pferdeschwanz, die mit ihrer Natürlichkeit und Unbefangenheit alle bezaubert. Susan kämpft unablässig mit überflüssigen Pfunden und Vic klettert als Rechtsanwältin die Karriereleiter flott nach oben. Alle gemeinsam vergöttern sie ihre Töchter und treffen sich am liebsten zum Kaffeeklatsch unter Freundinnen. Die "Grandes Dames", wie sie sich nennen, aus der Grand Avenue in Cincinnati.

Doch in den nächsten zehn Jahren schlägt das Leben tiefe Kerben in ihre Freundschaft. Bald schon fehlt Chris in der fröhlichen Runde. Ihre Entschuldigungen sind vage und ihre häufigen Stürze und blauen Flecken geben Grund zu Besorgnis. Tony, ihr Mann, scheint sich hinter der Fassade des liebevollen Vaters und fürsorglichen Ehemanns zu verstecken und ein grausames Spiel in den eigenen vier Wänden zu inszenieren. Hilfe von außen ist schwierig, denn Chris leugnet alles und bietet die Rolle der perfekten Ehefrau und Mutter.

Einzig Barbara weiß Bescheid, als Chris bei ihr eines Nachts Schutz sucht. Doch Barbara wird wenig später von ihrer Tochter tot in ihrem Schlafzimmer aufgefunden, brutal niedergeschlagen. Vic, die Rechtsanwältin, beginnt Fragen zu stellen, und schon bald hat sie einen Verdacht, der jedoch so ungeheuerlich ist, dass sie ihn kaum zu äußern wagt.

Der Roman "Nur wenn du mich liebst" von Joy Fielding bietet eine grandiose Freundschaftsgeschichte, angereichert mit einer üppigen Portion Spannung, so dass man das Buch nur sehr ungern aus der Hand legt. Ein wenig ist es, als ob man selbst zusammen mit den vier Frauen am Küchentisch gesessen hätte. Man kennt sie alle seit langem persönlich, verfolgt gespannt ihr Schicksal, erlebt die Ups und Downs ihrer Ehen und natürlich fiebert man der Verhaftung Barbaras Mörderin entgegen. Ja, es war tatsächlich eine Frau, so viel sei verraten, denn wie so oft, sind die Dinge nicht so, wie sie auf den ersten Blick scheinen.
© manuela haselberger


Joy Fielding -
Nur wenn du mich liebst
Originaltitel: Grand Avenue, © 2001
Übersetzt von Kristian Lutze

© 2002, München, Goldmann, 479 S., 22.90 € (HC)




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Einführung

Wir nannten uns die Grandes Dames: Vier Frauen, die auf den ersten Blick und dem äußeren Anschein nach erschreckend wenig gemeinsam hatten. Wir wohnten nur in derselben, ruhigen, von Bäumen gesäumten Straße, waren mit ehrgeizigen und erfolgreichen Männern verheiratet und hatten eine ungefähr zwei Jahre alte Tochter. Die Straße heißt Grand Avenue und ist trotz der Veränderungen, die Mariemont, eine gutbürgerliche Randgemeinde von Cincinnati, im Laufe der Jahre durchgemacht hat, erstaunlich gleich geblieben. Eine Reihe von adretten Holzhäusern liegt ein gutes Stück von der Straße zurück, die ihrerseits die geschäftige Hauptstraße kreuzt und sich dann trage zu einem kleinen Park an ihrem anderen Ende windet. In diesem Park - dem Grand Parkette, wie der Stadtrat das winzige dreieckige Stückchen Land genannt hatte, ohne sich der Ironie bewusst zu sein - haben wir uns vor fast einem Vierteljahrhundert, genauer gesagt vor dreiundzwanzig Jahren, zum ersten Mal getroffen, vier erwachsene Frauen, die schnurstracks zu den drei Kinderschaukeln strebten, weil sie wussten, dass der Verliererin nur die Sandkiste bleiben und das missfällige Schreien ihres frustrierten Töchterchens weithin zu hören sein würde. Sicherlich war sie nicht die erste Mutter, die die Erwartungen ihrer Tochter enttäuscht hat, und bestimmt nicht die letzte.

Ich weiß nicht mehr, wer das Rennen verloren hat, wer angefangen hat, mit wem zu reden, oder auch nur worum es in diesem ersten Gespräch ging. Ich erinnere mich nur noch daran, wie unbeschwert wir plauderten, wie nahtlos wir von einem zum anderen Thema wechselten, die familiären Anekdoten und das wissende Lächeln der anderen, an die willkommene, wenn auch unerwartete Vertrautheit, umso willkommener, eben weil sie so unerwartet war.

Vor allem jedoch erinnere ich mich an das Lachen. Selbst heute, so viele Jahre und Tränen weiter - und trotz allem, was geschehen ist, trotz der unvorhersehbaren und manchmal grausamen Umwege, die unsere Leben genommen haben -, höre ich ihn noch, den undisziplinierten, aber eigenartig melodiösen Chor aus Kichern und Glucksen in unterschiedlicher Tonlage und Intensität, jedes Lachen eine Unterschrift, so verschieden wie wir selbst. Und doch verschmolzen diese verschiedenen Stimmen zu einer harmonischen Melodie. Jahrelang habe ich den Klang jenes frühen Lachens überall mit mir herumgetragen. Ich konnte ihn willentlich heraufbeschwören. Er hat mich gestützt und aufrecht gehalten. Vielleicht weil es später so wenig davon gab.

An jenem Tag blieben wir im Park, bis es anfing zu regnen, ein plötzlicher Sommerschauer, auf den niemand vorbereitet war, und eine von uns schlug eine spontane Party in einem unserer Häuser vor. Wahrscheinlich war ich es selber, denn wir landeten bei mir. Vielleicht lag es auch nur daran, dass unser Haus gleich am Park lag. Ich weiß es nicht mehr. Ich erinnere mich, dass wir vier es uns in dem holzgetäfelten Partykeller mit feuchten Haaren und ohne Schuhe bei frischem Kaffee fröhlich und noch immer lachend bequem gemacht und mit schlechtem Gewissen zugesehen haben, wie unsere Töchter jede für sich allein zu unseren Füßen spielten. Denn wir wussten, dass wir mehr Spaß hatten als sie, dass unsere Kinder viel lieber zu Hause wären, wo sie ihr Spielzeug nicht teilen und nicht mit Fremden um die Aufmerksamkeit ihrer Mütter konkurrieren mussten.

"Wir sollten einen Club gründen", schlug eine der Frauen vor, "und uns regelmäßig treffen."
"Super Idee", stimmten wir anderen ihr sofort zu.
Um den Anlass festzuhalten, kramte ich die arg vernachlässigte Super-8-Kamera meines Marnes hervor, deren Bedienung mich ebenso überforderte wie die ihrer modernen Entsprechungen, sodass das Ergebnis eine unbefriedigende Folge schneller und wackeliger Schwenks auf verschwommene Frauen mit oben angeschnittenen Köpfen ist. Vor ein paar Jahren habe ich den Film auf eine Videokassette überspielen lassen, und jetzt sieht er seltsamerweise viel besser aus. Vielleicht liegt es an der modernen Technik oder dem Breitwandbildschirm, der sich per Knopfdruck aus der Decke herabsenkt. Vielleicht ist mein Blick mittlerweile auch so unscharf, dass er mein technisches Versagen kompensiert, denn die Frauen erscheinen mir klar und deutlich.

Was mir besonders auffällt, wenn ich den Film heute ansehe, was mir, genau genommen, jedes Mal den Atem stocken lässt, egal, wie oft ich ihn betrachte, ist nicht nur, wie unbeschreiblich und unerträglich jung wir alle waren, sondern, wie alles, was wir waren - und alles, was wir werden sollten -, schon in jenen fabelhaft faltenlosen Gesichtern geschrieben stand. Doch wenn man mich auffordern würde, in diese scheinbar glücklichen Gesichter zu blicken und ihre Zukunft vorherzusagen, könnte ich es auch heute nicht, dreiundzwanzig Jahre später, da ich nur zu gut weiß, wie alles geendet hat. Selbst mit diesem Wissen ist es mir unmöglich, die Bilder dieser Frauen mit ihrem Schicksal in Einklang zu bringen. Kehre ich deshalb immer wieder zu dieser Kassette zurück? Suche ich Antworten? Vielleicht suche ich Gerechtigkeit. Vielleicht Frieden.

Oder eine Erklärung.
Vielleicht ist es so einfach - und so kompliziert.
Ich weiß nur, wenn ich diese vier jungen Frauen betrachte, mich selbst eingeschlossen, unsere Jugend eingefangen, eingesperrt auf einem Videoband, dann sehe ich vier Fremde. Keine von uns kommt mir besonders vertraut vor, ja, selbst ich bin mir so fremd, dass ich in meiner Erinnerung nur ein Vorname von vieren bin - und nicht "ich".

Man sagt, die Augen seien der Spiegel der Seele. Kann irgend- jemand, der in die Augen dieser vier Frauen blickt, wirklich behaupten, so tief zu sehen? Und diese süßen, unschuldigen Kleinkinder auf den Armen ihrer Mütter - gibt es überhaupt irgendwen, der hinter diese großen, sanften Augen blicken und darunter das Herz eines Ungeheuers schlagen hören kann? Ich glaube nicht.

Wir sehen, was wir sehen wollen.
Da sitzen wir also in einer Art losem Halbkreis, winken und lächeln nacheinander in die Kamera, vier betörend durchschnittliche Frauen, die der Zufall und ein Regenschauer an einem Sommertag zusammengeführt haben. Unsere Namen sind so gewöhnlich, wie wir es waren: Susan, Vicki, Barbara und Chris. Für Frauen unserer Generation vollkommen gebräuchliche Namen. Die Namen unserer Töchter stehen natürlich auf einem ganz anderen Blatt. Als Kinder der 70er, Früchte unserer privilegierten und phantasievollen Schöße, war unser Nachwuchs selbstverständlich alles andere als gewöhnlich, davon waren wir zumindest zutiefst überzeugt, und die Namen unserer Kinder spiegeln diese Überzeugung wider: Ariel, Kirsten, Tracey und Montana. Ja, Montana. Das ist sie, dort ganz rechts, das blonde, pausbackige Kind, das wütend gegen die Knöchel seiner Mutter tritt, während seine großen marineblauen Augen sich mit bitteren Tränen füllen, kurz bevor seine pummeligen kleinen Beinchen seinen steifen kleinen Körper aus dem Bild tragen. Niemand kann sich diesen plötzlichen Ausbruch erklären, am allerwenigsten ihre Mutter; Chris, die sich nach Kräften bemüht, das kleine Mädchen zu besänftigen und sie zurück in die Geborgenheit ihrer ausgestreckten Arme zu locken. Ohne Erfolg. Montana bleibt störrisch außerhalb des Bildes und lässt sich nicht überreden oder trösten. Chris verharrt eine Weile in der unbequemen Position auf der Stuhlkante, die dünnen Arme ausgestreckt und leer. Mit ihren schulter-langen, blonden, aus dem herzförmigen Gesicht gekämmten und zu einem hohen Pferdeschwanz gebundenen Haaren sieht sie aus wie ein properer Babysitter und nicht wie eine Frau Ende zwanzig. Ihr Gesichtsausdruck sagt, sie werde zur Not für immer darauf warten, dass ihre Tochter ihr die eingebildeten Verfehlungen verzeiht und dorthin zurückkehrt, wo sie hingehört.

Auch wenn ich weiß, dass es stimmt, scheint es mir heute unbegreiflich, dass sich keine von uns für hübsch hielt, von schön ganz zu schweigen. Selbst Barbara, eine ehemalige Miss Cincinnati und Finalistin für den Titel der Miss Ohio, die ihre Liebe zu wallendem Haar und Stilettoabsätzen nie abgelegt hatte, war von permanenten Selbstzweifeln geplagt. Sie sorgte sich ständig um ihr Gewicht und grämte sich über jedes Fältchen, das sich in die Haut um ihre großen braunen Augen und ihre vollen, beinahe obszön sinnlichen Lippen grub. Das ist sie dort neben Chris. Ihre hoch toupierte dunkle Lockenmähne ist vom Regen ein wenig platt gedrückt worden, und ihre eleganten Ferragamo-Pumps liegen verlassen vor der Haustür zwischen den Sandalen und den Turnschuhen der anderen Frauen, doch ihre Haltung ist immer noch schönheitswettbewerbperfekt. Barbara hat nie flache Schuhe getragen, nicht einmal im Park, und Jeans besaß sie erst gar nicht. Sie war immer absolut makellos gekleidet, und seit ihrem sechzehnten Lebensjahr hatte niemand, einschließlich ihres Ehemanns Ron, sie je ungeschminkt gesehen. Sie gestand uns, dass sie in den vier Jahren, die sie nun verheiratet war, jeden Morgen um sechs Uhr, eine halbe Stunde vor ihrem Mann, aufgestanden war, sich geduscht, geschminkt und frisiert hatte. Ron hatte sich in eine Miss Cincinnati verliebt, erklärte sie wie vor einem Kollegium aus Preisrichtern, und bloß weil sie jetzt eine Mrs. sei, gäbe ihr das nicht das Recht, sich gehen zu lassen. Selbst an Wochenenden war sie so früh auf den Beinen, dass sie auf jeden Fall hinreichend präsentabel war, bevor ihre Tochter Tracey aufwachte und gefüttert werden wollte.

Nicht, dass Tracey große Ansprüche gestellt hätte. Laut Barbara war ihre Tochter ein in jeder Hinsicht perfektes Kind. Die einzige Schwierigkeit, die sie je mit Tracey gehabt hatte, war in den Stunden vor ihrer Geburt aufgetreten, als das gut 4000 Gramm schwere Baby, das es in sicherer Steißlage nicht besonders eilig hatte, zur Welt zu kommen, sich geweigert hatte, mit einer Drehung in die Beckenlage zu rutschen. Also musste es mit einem Kaiserschnitt geholt werden, der eine Narbe von Barbaras Bauch bis zu ihrem Schambein hinterließ. Heutzutage entscheiden sich Ärzte in der Regel für den weniger entstellenden und kosmetisch behutsameren Unterbauchquerschnitt, der weniger Muskeln in Mitleidenschaft zieht und unterhalb der Bikinilinie verborgen bleibt. Barbaras Bikinizeiten waren jedenfalls vorbei, wie sie sich wehmütig eingestand. Ein weiterer Grund, sich zu grämen, noch etwas, was die vielen Mrs. von den Miss Cincinnatis dieser Welt trennte.

Wie majestätisch sie von ihrem Stuhl zu Boden gleitet, den Rock elegant zwischen die Knie klemmt, um ihrer achtzehn Monate alten Tochter; die sich vergeblich mit den Bauklötzen abmühte, zu zeigen, wie man einen Turm bauen kann. Wenn die Klötze auf den Boden purzeln, hebt sie sie jedes Mal geduldig auf und ermutigt Tracey, es noch einmal zu versuchen, bis sie sie schließlich selbst übereinander stapelt und immer wieder von vorn beginnt, wenn ihre Tochter den Turm versehentlich umstößt. Tracey wird jetzt jeden Moment in die schützenden Arme ihrer Mutter kriechen, die Augen schließen und einschlafen, ihr Porzellanpüppchengesicht von schwarzen Locken gerahmt, die sie von Barbara geerbt hat. "Es war einmal ein Mädchen klein", kann ich Barbara sagen hören, während sich ihre Lippen auf dem Bildschirm stumm bewegen, in jenem besänftigenden Singsang, mit dem sie immer mit ihrer Tochter sprach, "das hatte hübsche Locken fein, aus glänzend schwarzem Haar. Und war sie brav, war sie sehr; sehr brav. Doch wenn sie einmal böse war ….
"-dann war sie ganz gemein!", quiekte Tracey fröhlich in ihrer Babysprache und riss ihre schokoladebraunen Augen auf. Und wir lachten alle.
Barbara lachte am lautesten, obwohl sie das Gesicht dabei kaum bewegte. In panischer Angst vor drohenden Falten und mit zweiunddreißig die Älteste der Anwesenden hatte sie es zu einer Kunst entwickelt zu lachen, ohne dabei zu lächeln. Sie öffnete den Mund und stieß raue, laute Töne aus, während ihre Lippen eigenartig starr blieben und sich weder kräuselten noch verzogen. Im deutlichen Kontrast dazu lachte Chris übers ganze Gesicht, den Mund in achtloser Selbstvergessenheit verzogen, obwohl das entstehende Geräusch zart, ja beinahe zögernd klang, als wüsste sie, dass Ausgelassenheit ihren Preis hatte.

Barbara und Chris hatten sich vor diesem Nachmittag erstaunlicherweise noch nie gesehen, obwohl wir alle seit mindestens einem Jahr in der Grand Avenue wohnten, doch sie wurden sofort beste Freundinnen, ein schlagender Beweis für das alte Sprichwort von den Gegensätzen, die sich anziehen. Neben den offenkundigen äußeren Unterschieden - blond gegenüber brünett, klein gegenüber groß, ein wie frisch gewaschen strahlendes Gesicht gegenüber künstlichem, kosmetischem Glanz - waren sie auch ihrem Wesen nach vollkommen verschieden. Doch sie ergänzten einander perfekt, Chris war weich, zurückhaltend, wo Barbara alles andere als schüchtern war. Sie wurden rasch unzertrennlich.
S. 7-13

1


Chris lag mit geschlossenen Augen in ihrem Messingbett, von den Zehen bis zum Kinn fest in das steife weiße Baumwolllaken gewickelt, die Arme wie gefesselt starr an ihren Körper gepresst. Sie stellte sich vor, sie wäre eine ägyptische Mumie, die einbalsamiert in einer antiken Pyramide lag, während Horden neugieriger Touristen in schmutzigen, ausgelatschten Sandalen über ihrem Kopf hin und her wanderten. Das würde zumindest meine Kopfschmerzen erklären, dachte sie und hätte beinahe gelacht, wenn da nicht das Pochen in ihren Schläfen gewesen wäre, das wie ein Echo ihres dumpfen Herzschlags klang. Wann hatte sie sich zum letzten Mal so ängstlich und verloren gefühlt?

Nein, Angst war ein zu starkes Wort, verbesserte sich Chris sofort, ihre Gedanken zensierend, noch bevor sie ganz ausformuliert waren. Es war keine Angst, die sie lähmte, sondern ein vages, beunruhigendes Unbehagen, das wie ein vergifteter Strom durch ihren Körper sickerte. Diese unbestimmte, vielleicht sogar undefinierbare Befindlichkeit war es, die sie die Augen fest geschlossen halten und die Arme starr an ihren Körper drücken ließ, als wäre sie im Schlaf gestorben.

Spürten Tote dieses eindringende, alles durchdringende Gefühl des Unbehagens, fragte sie sich, bevor sie ihrer morbiden Gedanken überdrüssig wurde und die Geräusche des Morgens in ihren Kopf sickern ließ: Unten im Flur sang ihre sechsjährige Tochter Montana, der dreijährige Wyatt spielte mit der Spielzeugeisenbahn, die er zu Weihnachten bekommen hatte; und direkt unter ihr in der Küche öffnete Tony Schranktüren und schlug sie klappernd wieder zu. Nach einigen Minuten war die lähmende Angst zu bloßem Unbehagen geschrumpft, das sich besser in den Griff bekommen und letztendlich leichter ganz abtun ließ. Noch ein paar Minuten, und Chris konnte sich vielleicht einreden, dass das, was vergangene Nacht geschehen war; in Wahrheit ein böser Traum gewesen war; Produkt ihrer überhitzten - überreizten, wie Tony vielleicht sagen würde - Phantasie.

"lt's a heartache!", schmetterte Montana in ihrem Zimmer am Ende des Flurs.
"Tsch-tsch-tsch-tsch, tsch-tsch-tsch-tsch", zischte Wyatt, das Geräusch einer Eisenbahn imitierend, laut.
Irgendwo unter ihr ging eine weitere Schranktür auf und klappernd wieder zu. Geschirr klirrte.
"Nothing but a heartache!"
Chris schlug die Augen auf.
Ich habe ein Geheimnis, dachte sie.
Sie ließ ihren Blick durch das kleine Schlafzimmer wandern, ohne den Kopf von dem riesigen Daunenkopfkissen zu heben. Durch die schweren, bernsteinfarbenen Vorhänge fielen ein paar Sonnenstrahlen, die die hellblauen Wände gespenstisch blass erscheinen ließen und in deren Licht über ihrem Kopf kleine Staubpartikelchen tanzten. Der schwarze Rollkragenpullover, den Tony gestern Abend zum Essen getragen hatte, hing achtlos hingeworfen über der Lehne des kleinen blauen Stuhls in der Ecke, einen leeren Arm ausgestreckt zu dem breiten blauen Webteppich, der noch immer klebrig von vor langer Zeit verschüttetem Apfelsaft war. Die Tür zu dem kleinen, direkt angrenzenden Bad stand ebenso offen wie die oberste Schublade der Korbkommode. Die Uhr auf ihrem Nachttisch zeigte 9:04 an.

Sie sollte wahrscheinlich aufstehen, sich anziehen und nach Wyatt und Montana sehen. Tony hatte ihnen offensichtlich Frühstück gemacht, was sie nicht überraschte. Sonntags stand er immer mit den Kindern auf. Außerdem war er nach einem großen Streit immer besonders nett zu ihr. Sie hatte gespürt, wie er beim ersten Gepolter aus Wyatts Zimmer leise aus dem Bett geschlüpft war; aber so getan, als würde sie schlafen, während er sich eilig angezogen hatte, und bevor er sich über sie gebeugt und ihr einen Kuss auf die Stirn gehaucht hatte. "Schlaf", hatte sie ihn flüstern hören und seinen Atem beruhigend sanft auf ihrer Haut gespürt.

Sie hatte versucht, wieder einzudösen, doch es war ihr nicht gelungen, und als ihre Lider jetzt endlich gnädig schwer wurden, war es zu spät. Die Kinder würden sich jede Minute bei ihren einsamen Beschäftigungen langweilen, durch die Schlafzimmertür stürmen und ihre Aufmerksamkeit einfordern. Sie musste aufstehen, duschen und sich auf den vor ihr liegenden, anstrengenden Tag vorbereiten. Entschlossen schlug Chris das Laken zur Seite, schwang die Beine aus dem Bett und spürte unsichtbare Kekskrümel unter ihren nackten Füßen zerbrößeln, als sie in Richtung Bad tapste. "Oh, Gott", sagte sie, als sie ihr geschwollenes Gesicht in dem Spiegel über dem Waschbecken sah. "Ich weiß, dass du irgendwo da drinnen steckst." Vorsichtig tupfte sie über die Schwellung um ihre Augen. Wurde sie nicht langsam zu alt, um sich in den Schlaf zu weinen?

Außerdem hatte sie gar nicht geschlafen, die ganze Nacht lang keine Minute. "Chris", hatte sie Tony in regelmäßigen Abständen in ihr Ohr flüstern hören, bevor er sich, als sie nicht geantwortet hatte, wieder auf seine Seite des Bettes zurückgezogen hatte. "Chris, bist du wach?"

Er hat also auch nicht geschlafen, dachte sie mit nicht geringer Befriedigung, als sie ihr Gesicht mit kaltem Wasser benetzte, einen nassen Waschlappen auf ihre Augen drückte und spürte, wie ihre müde Haut langsam wieder auf Normalgröße schrumpfte. "Wer bist du?", fragte sie sich nicht zum ersten Mal müde und strich sich ein paar Strähnen ihres strubbeligen blonden Haars aus dem Gesicht. "Weiß der Teufel", antwortete ihr Spiegelbild mit Vickis Stimme, und Chris kicherte. Das Geräusch kratzte in ihrer Kehle wie eine Katze an einer Fliegengittertür.

"lt's a heartache!", sang Montana auf der anderen Seite der Badezimmerwand.
Das kann man laut sagen, dachte Chris, stieg unter die Dusche, drehte den Hahn auf und genoss den Schwall heißen Wassers auf ihren Armen und Beinen, spürte ihn wie tausend kleine Peitschenhiebe auf ihrem Rücken. Was gestern Nacht geschehen war; war ebenso sehr ihre Schuld wie Tonys, gestand sie sich ein. Sie stellte sich direkt unter den Strahl, sodass er ihr Haar in der Mitte teilte, bevor er sich über ihr Gesicht ergoss.

Hatten die Kinder sie streiten hören? Sie hörte über dem Rauschen des Wassers das entfernte Echo der Stimmen ihrer sich anschreienden Eltern, das drei Jahrzehnte später immer noch so laut und mächtig klang wie eh und je. Chris erinnerte sich, wie sie in ihrem Bett gelegen und gelauscht hatte, wenn ihre Eltern unten gestritten hatten. Ihre wütenden Worte waren ungeduldig im Flur gekreist und hatten an die Wände ihres Zimmers geklopft, als wollten sie sie unbedingt einbeziehen, bis sie schließlich durch die Bodenritzen in die Luft eingedrungen waren, die sie atmete. Sie hatte sich ihr kleines Kissen aufs Gesicht gedrückt, um das Gift nicht einzuatmen, hatte sich mit zitternden Händen die Ohren zugehalten und versucht, die hässlichen Geräusche zu dämpfen. Einmal war sie sogar aus dem Bett gekrabbelt und hatte sich in der hintersten Ecke des Kleiderschranks verkrochen, doch die Stimmen waren immer lauter geworden, bis sie das Gefühl hatte, dass jemand mit ihr im Schrank war. Als unsichtbare Finger von den Säumen der über ihr hängenden Kleider nach ihr tasteten und fremde Zungen ihre Wangen ableckten, war sie weinend zurück in ihr Bett gelaufen, hatte die Decke bis unters Kinn gezogen, die Arme fest an den Körper gepresst, die Augen zugekniffen und war bis zum Morgen so liegen geblieben.

Hatte sie vergangene Nacht nicht im Grunde dasselbe getan?
War sie kein bisschen erwachsen geworden? Chris drehte das Wasser ab, trat aus der Dusche und wickelte ein weiches, blau-weiß gestreiftes Handtuch um ihren Kopf und ein zweites um ihren Körper; dankbar dafür, dass sie sich im beschlagenen Spiegel nur schemenhaft erkennen konnte. Sie öffnete die Badezimmertür und spürte die kalte Umarmung der Luft. Wie bin ich nur hier gelandet, fragte sie sich, als sie ins Schlafzimmer zurückschlurfte, mitten im Albtraum meiner Eltern.

"Hallo Schatz", sagte Tony leise.
Chris nickte wortlos und blickte weiter zu Boden, während ihre Nase den Geruch frisch zubereiteter Pfannkuchen witterte.
"Ich habe dir Frühstück ans Bett gebracht", sagte er.

Chris ließ sich aufs Bett sinken und lehnte sich gegen die Kissen, während wie von Zauberhand ein Tablett mit einem Teller voll Blaubeerpfannkuchen, einem Glas frisch gepressten Orangensafts und einer Kanne wunderbar duftenden Kaffees vor ihr auftauchte. Neben einer Butterdose aus Edelstahl standen ein kleiner weißer Keramikkrug mit echtem Ahornsirup und eine kleine gläserne Stielvase mit einer roten Butterblume aus Plastik. "Das musstest du doch nicht", sagte Chris leise, den Blick weiterhin abgewandt. Das habe ich nicht verdient, dachte sie. Tony saß am Fuß des Bettes. Sie spürte, wie er sie beobachtete, während sie ihre Pfannkuchen mit Butter bestrich und mit warmem Sirup beträufelte, bevor sie vorsichtig erst eine, dann eine weitere Gabel voll zum Mund führte. Paradoxerweise wurde sie mit jedem Bissen hungriger und mit jedem Schluck, den sie trank, durstiger. Binnen Minuten waren die Pfannkuchen verputzt, das Saftglas war leer und der Kaffee ausgetrunken. "Gut?", fragte Tony erwartungsvoll, und sie konnte das Lächeln in seiner Stimme hören.

"Wundervoll", antwortete sie, entschlossen, ihn nicht anzusehen, weil sie wusste, dass das Spiel dann vorüber war.
"Es tut mir so Leid, Chris." "Nicht."
"Du weißt, dass ich es nicht so gemeint habe." "Bitte... "
"Du weißt, wie sehr ich dich liebe."
Chris spürte, wie ihr Tränen in die Augen schossen, und hasste sich dafür. "Bitte, Tony .. . "
"Willst du mich nicht mal ansehen? Hasst du mich so sehr, dass du meinen Anblick nicht ertragen kannst?"
"Ich hasse dich nicht." Chris hob kurz den Blick und verschlang ihren Mann mit den Augen.
Auch wenn man Tony nie als attraktiv bezeichnet hätte wie Barbaras Mann oder vornehm wie Vickis, nicht einmal gütig, das erste Wort, was einem in den Sinn kam, wenn man Susans Mann beschreiben sollte, gab es, wenn man sich erst einmal in seinem Blick verloren hatte, kein Zurück mehr. Ein Mann voller Geheimnisse, hatte Barbara verkündet; eine beeindruckende Persönlichkeit, hatte Susan vorgeschlagen; sexy, hatte Vicki knapp zusammengefasst. Ein Rohdiamant, waren sie sich alle einig gewesen.

Mehr roh als glitzernd, dachte Chris jetzt, während sie beobachtete, wie ihr Mann Zentimeter für Zentimeter auf dem Bett nach oben rutschte und mit der Hand über ihre feuchten Beine strich, was ein Kribbeln wie einen verirrten Stromschlag bis zu ihrem Herz rasen ließ. Von nahem war er kleiner; als er auf den ersten Blick wirkte, allerdings auch muskulöser; als seine schmalen Schultern vermuten ließen. Er trug Jeans und den moosgrünen Pullover; den sie ihm zu seinem letzten Geburtstag geschenkt hatte, weil sie fand, dass der weichere Farbton der Wolle das harte Grün seiner Augen unterstrich. Sein Haar war bis auf eine weiße Strähne nahe seiner rechten Schläfe braun und dicht. Tony erzählte jedem, dass die Strähne die Folge eines Kindheitstraumas war; wobei das Trauma sich mit jedem Erzählen veränderte, genauso wie die Erklärung für die Narbe, die sich von seinem linken Ohrläppchen bis zu seinem Unterkiefer durch seine Haut schnitt. Im Laufe ihrer elfjährigen Ehe hatte Chris so viele Versionen darüber gehört, wie er sich diese Narbe zugezogen hatte, dass sie sich beim besten Willen nicht mehr erinnern konnte, ob sie das Ergebnis eines beinahe tödlichen Sturzes in Kindertagen, die Folge eines Autounfalls, den er wie durch ein Wunder überlebt hatte, oder das Resultat einer Kneipenschlägerei war. Sie war sich sicher; dass der wahre Grund unendlich viel prosaischer als all diese Variationen war; obwohl sie Tonys Geschichten nie in Zweifel ziehen würde. Tony brauchte das Dramatische. Er übertrieb die profanen Kleinigkeiten des Lebens, vergrößerte das Gewöhnliche und feierte das Alltägliche. Das machte ihn ja gerade so charmant und feuerte seine Kreativität an. Man konnte keine Zeitung aufschlagen, ohne eine Anzeige zu erblicken, die er gestaltet, nicht bis zur nächsten Straßenecke laufen, ohne ein Plakat zu sehen, das er entworfen hatte. Ein Werbefeldzug für Edelkatzenfutter stammte genauso von ihm wie die "Alles Käse!"-Kampagne einer Großmolkerei. War er nicht schneller als irgendjemand vor ihm zum Senior Artdirector von Warsh & Rubican aufgestiegen? Und war nicht sein natürlicher Hang zur Übertreibung zumindest ein Teil dessen gewesen, was sie zu ihm hingezogen hatte? In jenen frühen Jahren war ihr durch Tony alles so aufregend, grenzenlos und so machbar erschienen.

Chris lächelte, und mehr Ermutigung brauchte er nicht. Sie beobachtete, wie er sofort weiter auf dem Bett nach oben rutschte, das Tablett behutsam auf den Boden stellte und ihre Hände ergriff.
"Tony..."
"Es wird nie wieder passieren, Chris." "Das darf es auch nicht."
"Bestimmt nicht."
"Du hast mir Angst gemacht."
"Ich hab mir selbst Angst gemacht", stimmte er ihr zu. "Ich habe diese brüllende Stimme gehört und konnte nicht glauben, dass ich das selbst war. Die schrecklichen Dinge, die ich gesagt habe..."
"Das meine ich nicht."
"Ich weiß. Bitte verzeih mir."
Kann ich das?, fragte Chris sich. Konnte sie ihm verzeihen? "Vielleicht sollten wir es mit einer Beratung oder Therapie versuchen." Chris hielt den Atem an und wappnete sich gegen seinen garantiert folgenden Wutausbruch. Hatte Tony seine Meinung über Eheberatung nicht schmerzhaft deutlich gemacht?
S. 21-27

Lesezitate nach Joy Fielding - Nur wenn du mich liebst










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Joy Fielding
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The First Time.

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Lauf, Jane, lauf.

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Am seidenen Faden.

Sonderausgabe.
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Lebenslang ist nicht genug. Ein mörderischer Sommer.

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Sag Mammi goodbye.

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© 17.10.2002 by
Manuela Haselberger
Quelle: http://www.bookinist.de