Polina Daschkowa - Club Kalaschnikow (Buchtipp/Rezension/lesen)
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Club Kalaschnikow
Polina Daschkowa - Club Kalaschnikow

ls der Casinobesitzer Gleb Kalaschnikow direkt vor seinem Haus erschossen wird, geht ein Raunen durch die Moskauer Gesellschaft. Wo ist der Täter zu suchen? Die Ansatzpunkte für die Polizei sind vielfältig. Der Verdacht liegt nahe, dass es sich um einen Mord aus dem Umfeld des organisierten Verbrechens handelt, wird doch das Casino von einem großen Mafia Ring kontrolliert.

Allerdings ist der Tote zu Lebzeiten auch nicht gerade ein Kind von Traurigkeit gewesen. Vielleicht wurde seine junge, hübsche Geliebte Olga eifersüchtig. Denn verlassen wollte Kalaschnikow seine Ehefrau, eine erfolgreiche Ballett-Tänzerin, auf keinen Fall.

Polina Daschkowa ist heute mit einer Gesamtauflage von über fünfzehn Millionen Büchern die erfolgreichste Krimiautorin Russlands. Und ihre Beliebtheits-Kurve in Deutschland ist seit ihrem Debüt "Die leichten Schritte des Wahnsinns" steil ansteigend. Das hat vor allem einen Grund: Der Blick, den sie ihren Leser in das ganze Spektrum der russischen Gesellschaft werfen lässt, ist äußerst geschärft.

Gezeigt werden einflussreiche Mafia-Größen und korrupte Politiker, die sich geschickt aus der alten Sowjetunion in das neue demokratische Russland gerettet haben und es bis zu einer Beraterfunktion bei Präsident Jelzin brachten. Doch Daschkowa kennt auch das Milieu der Obdachlosen, die sich aus den Abfalleimern der neuen elitären Schicht ernähren, oder der Kranken und Alten, die am Existenz-Minimum darben, nachdem sie nicht mehr berufstätig sind und ihren Kummer und Schmerz im Wodka ertränken.

Und noch eins: langweilig sind die Plots bei Polina Daschkowa niemals. Sie platziert ihren Mord gleich zu Beginn der Geschichte und dann entwickelt sie daraus ihre Figuren, gibt ihnen eine realistische Biografie mit Ecken und Kanten. Zunächst sind es eine Menge loser Fäden, die der Leser in die Hand bekommt, die Zeitsprünge sind nicht immer gleich zuordenbar, doch man darf sich dieser Könnerin beruhigt anvertrauen. Am Schluss ordnet sich ihr großes Puzzle zu einem gelungenen, spannenden Bild der heutigen russischen Gesellschaft. © manuela haselberger


Polina Daschkowa - Club Kalaschnikow
Originaltitel: MECTO ...., © 1999
Übersetzt von Margret Fieseler

© 2002, Berlin, Aufbau Verlag, 445 S., 20 € (HC)






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Kapitel 1

In einer warmen Septembernacht bog ein weißer Ford vom "Prospekt Mira" in eine der stillen Nebenstraßen ab. Aus den halbgeöffneten Fenstern des Autos dröhnte ohrenbetäubend laut Popmusik. Die Scheinwerfer eines entgegenkommenden Wagens beleuchteten für einen Moment die Silhouette der jungen Frau am Steuer. Der Mann neben ihr war nicht zu sehen, er lag fast auf dem weichen Sitz. Sein Kopf fiel der Frau dauernd auf die Schulter. Laut und falsch sang er mit dünner Tenorstimme den ausgelassenen Schlager mit.

"Hör auf, Gleb", sagte die Frau stirnrunzelnd und schaltete den Kassettenrecorder aus.
"Musik, sag ich!" Der Mann stieß auf und stellte den Recorder wieder an.
Der Schlager donnerte über die ganze Straße.
"Hättest du nicht wenigstens bei meiner Premiere nüchtern bleiben können? Gleich im ersten Akt einzuschlafen! Sogar geschnarcht hast du."
"Das ist eine dreckige Verleumdung. Ich schnarche überhaupt nicht! Niemals. Und im zweiten Akt habe ich nicht geschlafen, sondern meiner Begeisterung Ausdruck verliehen!" Er mußte wieder aufstoßen.
"Stimmt", die Frau nickte, "aber am Büfett. Du hast deiner Begeisterung so laut Ausdruck verliehen, daß es sogar im Zuschauerraum und auf der Bühne zu hören war."
"Na und, ich darf doch wohl mal auf ein Glas Kognak rausgehen und ein Häppchen essen. Das ist mein gutes Recht. Du bist unser Star, die geniale Primaballerina Und ich der Gatte im Hintergrund, der Kaufmann und Mäzen. Übrigens, Katja, ich hab am Büfett allerlei Leute getroffen. Was glaubst du wohl, wen zum Beispiel?" Gleb schob die feuchten Lippen vor und schmatzte dreimal.

"Wen denn?" fragte Katja gleichgültig.
"Deinen bekloppten Verehrer. Deshalb hab ich ja auch Stunk gemacht, weil ich die Schnauze gestrichen voll hatte. Der hat mich genervt, das hab ich ihm direkt gesagt: du nervst mich, hab ich gesagt." Gleb fluchte kräftig und stieß wieder auf.
Katja gab keine Antwort, sie hielt auf dem riesigen finsteren Hof Ausschau nach einem Parkplatz. Sie war zu müde, um den Wagen in die Garage zu fahren.
"Hör mal, verehrte Diva, du willst doch dieses Gestrüpp nicht etwa ins Haus schleppen?" Gleb machte eine Kopfbewegung zum Rücksitz, auf dem sich die Blumensträuße türmten. "Das stinkt fürchterlich, ich muß davon niesen."

Katja parkte exakt an der Bordsteinkante. Sie warf einen Blick zu den dunklen Fenstern ihrer Wohnung empor und wunderte sich. Noch vor einer Minute, als sie auf den Hof fuhr, hatte sie Licht im Wohnzimmer bemerkt. Jetzt war alles dunkel geworden. War Shannotschka doch über Nacht geblieben, um ihnen ein festliches Abendessen zu servieren? Hatte sie gehört, wie der Wagen vorfuhr, das Licht gelöscht und sich im Dunkeln versteckt, um dann plötzlich die Lichter über dem gedeckten Tisch aufflammen zu lassen, wenn Gleb und sie die Wohnung betraten? Aber es würde keine Feier geben. Gleb war sturzbetrunken, er würde unflätig fluchen, aufstoßen, rülpsen und zudringlich werden, Shannotschka würde beleidigt sein und weinend davonrennen, wie immer.

Nach der Premiere hatte es ein üppiges kaltes Büfett gegeben. Gleb Kalaschnikow war zwischen Blazern, burgunderroten Jacketts und nackten parfümierten Schultern umherflaniert, hatte Kognak und Champagner getrunken, die blutjungen Tänzerinnen des Corps de Ballet löffelweise mit Kaviar gefüttert und sie mit obszönen Anspielungen eingeladen, sich in seinem Casino als Striptease-Tänzerinnen etwas dazuzuverdienen.
Er hatte Narrenfreiheit. Die Premiere war von ihm gesponsert, das Waganow-Ballett existierte von seinem Geld. Er war der allmächtige Chef, Herr über die leibeigenen Künstler.

Katja hatte keine Lust, in den Bankettsaal zu gehen, nicht einmal für ein paar Minuten. Sie schminkte sich absichtlich lange ab, nahm eine heiße Dusche, zog sich an und saß dann einfach mit geschlossenen Augen im Sessel. Die Muskeln schmerzten und summten wie Kabel unter Strom. Ihr Körper durchlebte alles noch einmal, wiederholte im Geist jeden Schritt. Lady Macbeth wirbelte über die Bühne und drehte sich in der Todespirouette. Ein schwereloser Engel des Todes. Katja tanzte so, daß die Zuschauer die Mörderin liebten, sich an ihr erfreuten, sie verstanden und entschuldigten, um dann plötzlich zur Besinnung zu kommen, sich zu wundern und dabei vielleicht etwas Neues, Wichtiges bei sich zu entdecken.

Es war eine gelungene Aufführung gewesen, alles andere war ohne Bedeutung. Durch ihren Kopf schossen bereits alle möglichen dummen Gedanken: Gleb hatte sich betrunken und randalierte, man klopfte an ihre Tür, das Handy auf dem Schminktisch klingelte ununterbrochen. Sie mußte hinaus. Es gab kein Entrinnen.
Katja öffnete die Augen und sah in den Spiegel. Sie hatte schon seit langem bemerkt, daß ihr Gesicht sich mit jeder neuen Rolle veränderte - ein anderer Ausdruck in den Augen, ein neuer Zug um den Mund. Mit jeder Heldin durchlebte sie ein ganzes Leben, von der Geburt bis zum Tod. Eben noch war sie zusammen mit der blutrünstigen Lady Macbeth gestorben, und nun mußte sie neu geboren, wieder sie selbst werden, Jekaterina Filippowna Orlowa, eine müde Frau von dreißig Jahren mit überstrapazierten Muskeln.

Ganz ohne Make-up konnte sie nicht in den Bankettsaal gehen. Blitzlichter würden aufflammen, und danach würde in irgendeiner Boulevardzeitschrift ein doppelseitiges Foto mit einer grünlich-blassen, erschöpften, ungeschminkten Primaballerina erscheinen. Und an ihrer Seite Gleb: betrunken, mit rotem Gesicht und verrutschter Krawatte, mit irrem Blick und einem zweideutigen Grinsen auf den feuchten Lippen. Seht her, Leute, das strahlende Paar, die Creme der Moskauer Boheme, weidet euch an ihrem Anblick! Ihr braucht sie nicht zu beneiden. Nur aus der Dunkelheit des Zuschauerraumes wirkt die Primaballerina wie eine Märchenschönheit. In Wirklichkeit sieht sie älter aus als sie ist, hat dunkle Ringe unter den Augen, eine von der Schminke welke Haut, blasse Lippen und hervorstehende Schlüsselbeine. Ihr Mann ist ein Grobian und Raufbold, fast schon ein Alkoholiker, Kinder haben sie keine und werden wohl auch keine mehr bekommen.

Katja kämmte ihre langen kastanienbraunen Haare und drehte sie im Nacken zu einem straffen Knoten. Wieder schrillte das Telefon, sie zuckte zusammen und zerkratzte sich mit der Haarnadel schmerzhaft den Hals. Ein heiseres Flüstern erklang im Hörer: "Er macht sich doch gar nichts aus dir. Geh besser von selbst, bevor es zu spät ist... "

Katja drückte auf den Knopf und warf das Handy weg, als hätte sie einen Stromschlag erhalten.
Noch vor zwei Wochen, als sie morgens um acht zum ersten Mal von einem solchen Anruf geweckt worden war, hatte sie sich gesagt: nicht nervös werden, gar nicht beachten. Wenn man eine Primaballerina ist, einen reichen Mann hat, eine Fünfzimmerwohnung, ein Haus auf Kreta, zwei Autos und noch vieles mehr, gibt es immer Leute, die einen kränken und einschüchtern möchten. Beim ersten Mal hatte die heisere Frauenstimme geflüstert: "Heute wirst du dir auf der Bühne ein Bein brechen, du Dörr-Giselle", - und sofort aufgelegt.

Mit übermenschlicher Anstrengung lächelte Katja ihrem bleichen Spiegelbild zu. Noch etwas Lippenstift, eine dünne Schicht Puder, ein paar Tropfen Parfum. Und nur keine Panik.
Sie stand auf und betrachtete sich in dem riesigen Spiegel. Ein glatter Rock aus dünnem schwarzem Leder, ein schlichter milchfarbener Kaschmirpullover, schwarze Pumps mit halbhohem Absatz. Vielleicht ein bißchen zu korrekt und alltäglich, aber sie hatte nicht die Absicht, sich lange am Büfett aufzuhalten. Sie war müde und wollte schlafen.

"Katja!" heulte Gleb auf, als er sie im Bankettsaal erblickte. "Meine Süße, mein Schnuckel, komm her, laß dich küssen!"
Mit ausgebreiteten Armen torkelte er auf sie zu. Die Menge trat auseinander, auf den Gesichtern las Katja taktvolle Gleichgültigkeit und leisen Spott. Manche wandten sich ab, als sei nichts geschehen. Andere blickten Katja mit aufrichtigem Mitgefühl an. Ein Blitzlichtgewitter blendete sie. Gleb trat einer Musikwissenschaftlerin auf den Fuß, die Dame schrie auf, wich zurück, eine hohe Schale mit Früchten stürzte zu Boden. Apfelsinen und Äpfel hüpften wie Tennisbälle übers Parkett.
Man beglückwünschte und küßte Katja. Ihr Tanzpartner Mischa Kudimow schützte sie mit seiner zuverlässigen Schulter vor einer dreisten Videokamera.
"Alles war großartig, Katja, wir haben uns prima geschlagen. Ich bin völlig erledigt. Dieser widerliche kleine Reporter mit dem Ohrring fliegt jetzt endgültig raus! Ich bin gleich wieder da."
Mischa ging zu dem hünenhaften Wachmann, der mit gelangweiltem Gesicht an der Tür stand, und flüsterte ihm kurz etwas zu. Darauf schnappte sich der Wachmann ein geschlechtsloses Geschöpf in zitronengelbem Spitzenjackett und mit einem riesigen falschen Brillanten im Ohr. Katja erkannte ihn, es war einer der schlimmsten Skandalreporter des Moskauer Fernsehens. Er hatte Katja vorhin seine Videokamera direkt unter die Nase gehalten, um eine möglichst häßliche Perspektive zu bekommen.

Was will der mit klassischem Ballett, der fotografiert doch sonst nur Rockstars, dachte Katja und blickte dem zitronenfarbenen Jackett hinterher.
Eine halbe Stunde später war es ihr gelungen, Gleb ins Auto zu bugsieren. Weitere zwanzig Minuten später fuhr ihr weißer Ford vor ihrem Haus vor.

Mit ein paar Blumensträußen vom Rücksitz im Arm gingen sie auf den Hauseingang zu. Gleb schlingerte und schwankte und sang die ganze Zeit den dummen Schlager. Plötzlich stolperte er und fiel mit seiner ganzen betrunkenen Schwere auf seine Frau. Katja konnte ihn gerade noch auffangen und sich selber auf den Beinen halten. Die Sträuße mit den großen, in Zellophan gehüllten Rosen fielen raschelnd auf den Asphalt. Im selben Moment ertönte ein gedämpfter Schuß. Oben im dritten Stock, in einem dunklen, sperrangelweit geöffneten Fenster, bauschte sich sanft ein heller Vorhang. S. 7-12

Lesezitate nach Polina Daschkowa - Club Kalaschnikow



Bookinists Buchtipp zum

ersten
auf deutsch
erschienen
Daschkowa-Buch


Die leichten Schritte des Wahnbsinns

von Polina Daschkowa




© 2.3.2002 by
Manuela Haselberger
Quelle: http://www.bookinist.de