Die Nacht war frostklar, viel zu kalt, als dass es hätte schneien können. Ein scharfer Ostwind ging, der ihm unter den Kragen kroch und ihm Tränen in die Augen trieb. Ein für diese Jahreszeit untypischer Kälteeinbruch hatte die Zweige mit Raureif überzogen und die ersten Blatt-Triebe erfrieren lassen. Hoch oben am Nachthimmel leuchteten die Sterne beinahe zögerlich und furchtsam, unendlich weit entfernt. Der Weg war von einem Wellenmuster aus hart gefrorenem Schlamm bedeckt. Pfützen, die noch von Schneefallen der vergangenen Woche herrührten, waren mit einer dicken, schwarzen Eisschicht bedeckt, die jedoch nicht stark genug war, um das Gewicht eines kräftigen Mannes zu tragen.
Die massige Gestalt stolperte den sternenbeschienenen Pfad entlang verlor das Gleichgewicht und landete dumpf und schwer in einer Wasserlache.
"Verdammte Scheiße!" Wie ein Peitschenhieb zerschnitt seine Stimme die nächtliche Stille.
Da Eis unter ihm zerbarst, und er sank mit dem Hinterteil schmählich in eiskaltes Wasser. Schlammiges Nass drang durch seinen Trenchcoat bis auf die Haut.
"Was für ein bescheuerter Treffpunkt", schimpfte er halblaut vor während er mühsam versuchte, wieder auf die Beine zu kommen. Seine Bewegungen waren schwerfällig und unkoordiniert und verieten einen Mann in mittleren Jahren, der seine Tage größtenteils am Schreibtisch sitzend verbrachte und schon lange nichts mehr für seine körperliche Fitness getan hatte.
Zielstrebig machte er sich wieder auf und trottete weiter. Er fror nun, trotz seines schweren Mantels und des Jagdanzugs. Der Wind jagte Wolkenfetzen über den Himmel, so dass der Mond ihm den Weg leuchten konnte, als er tiefer in den Foxtail Wood eintauchte. Es war fast zwei Uhr morgens, und keine lebende Seele schien sich in dieser unwirtlichen Nacht zu regen.
Da erblickte er plötzlich das unstete Licht einer Taschenlampe weiter, erleichtert, endlich am Ziel zu sein. Eine freundliche Stimme rief ihn.
"Hier drüben, Alan! Achtung, da ist ein Baumstumpf - autsch, das hat bestimmt wehgetan. Alles in Ordnung mit dir?"
Alan rieb sich das Schienbein und stieß noch wüstere Verwünschungen aus, als er endlich die kleine Lichtung erreichte, wo das Licht der Taschenlampe leuchtete.
"Auf die Minute pünktlich wie immer." Die Stimme klang beschwichtigend, aber Alan war zu schlecht gelaunt, um sich so leicht besänftigen zu lassen.
"Eine selten blöde Uhrzeit, das kann ich dir sagen!"
"Ich weiß, aber es gibt einen guten Grund. Ich sagte dir bereits am Telefon, dass wir sehr vorsichtig sein müssen."
"Aber warum? Was ist denn passiert? Als wir uns das letzte Mal getroffen haben, war doch alles bestens."
"Jetzt beruhige dich und trink erst mal einen Schluck - das wird dich aufwärmen."
Alan nahm die Thermosflasche und schenkte sich einen ordentlichen Schluck von dem, was immer sie enthalten mochte, ein. Anerkennend sog er den Duft der dampfenden Flüssigkeit ein, und seine Nase erkannte stark gewürzten Glühwein. Er leerte den halben Becher in einem Zug. Einen verdammt guten Bordeaux hatten sie da genommen, eigentlich ein Jammer, so einen Wein derart zu verpanschen, aber er würde sich gewiss nicht beklagen. Neben dem reichen, fruchtigen Aroma schmeckte er Brandy, Gewürznelken, Zimt, Zitrone und noch etwas anderes ... was konnte das sein? Während er den Becher vollends leerte, ließ ihn ein bitterer Nachgeschmack erschauern.
"Ist dir immer noch kalt? Komm, nimm noch einen Schluck."
Er ergriff den Becher und trank, ohne nachzudenken. Wenigstens war ihm jetzt wärmer, und er fühlte sich etwas gelöster. Als er den zweiten Becher ausgetrunken hatte, wandte er sich seinem Gegenüber zu.
"Was ist so wichtig, so außerordentlich dringend, dass du mich zu dieser unchristlichen Zeit an diesen gottverlassenen Ort bestellst? Was soll diese Ge... Ge... Geheimnistuerei?" Er stolperte über seine eigenen Worte. Der Wein war ihm ganz schön zu Kopf gestiegen. Er würde sich zusammenreißen müssen.
"Ich werde dir alles erklären. Komm erst mal hier rüber."
Alan folgte dem anderen über die mondbeschienene Lichtung. Auch die letzte Wollte hatte sich inzwischen verzogen. Der Untergrund war tückisch glatt, und er rutschte auf einer dunklen Fläche, die er zu spät als Eis erkannte, aus und landete hart auf seiner Hüfte.S. 9-10
Der Umzug von Alexander und Sally nach Wainwright Hall ging reibungslos vonstatten. Das Anwesen war im Stil spätviktorianischer Gotik gehalten, mit verzierten Schornsteinen, einem ungewöhnlichen Turm, Wasserspeiern und Stützbögen. Die Einrichtung bestand aus schwerem viktorianischen Mobiliar, das sich offenbar schon seit drei Generationen, seit Alexander Wainwright dem Ersten, im Familienbesitz befand. Über der Haupttreppe hing ein Porträt, das ihn mit Ende vierzig zeigte, als er das dritte Mal heiratete, und zwar die Frau, die einmal Alexanders Ururgroßmutter werden sollte.
In einem der Gästezimmer hing ein Porträt auch von ihr, auf dem sie ein Baby im Arm hielt, Alexanders Großvater. Sie hatte eine so starke Ähnlichkeit mit seiner Mutter, dass Alexander darauf bestand, das Gemälde im großen Salon, seinem Lieblingszimmer, aufzuhängen. Alles andere überließ er Sally, die ganz in ihrem Element war.
Mrs Willett, die Haushälterin, wurde resolut "nach unten" beordert, wo sie den Auftrag erhielt, in Küche, Speisekammer und den anderen Vorratsräumen den Frühjahrsputz durchzuführen. Mr Willett widmete sich derweil wohlweislich dem Garten, so wie er es auch in den vergangenen dreißig Jahren gehalten hatte. Jeden Abend, wenn sie in ihr Cottage, das ehemalige Gesindehaus, heimkehrten, warnte ihn seine Frau vor den Plänen, die "Ihre Majestät" auch für den Garten hatte, so dass es ihm erst gar nicht einfiele, eine dicke Lippe zu riskieren. Er käme auch noch an die Reihe. Während Willett sich um die Pflanzen kümmerte, pfiff er leise vor sich hin.
Alexander in seiner Eigenschaft als Alan Wainwrights Nachfolger war damit beschäftigt, das Geschäft am Laufen zu halten. Alans Tod hatte die ganze Firma erschüttert, doch bisher hatte Alexander sämtliche Mitarbeiter mit unerwarteter Autorität bei der Stange halten können.
Während er durch die Korridore ging und sowohl die Führungskräfte als auch die Belegschaft durch sein unvermutetes Auftauchen aufschreckte, zeichnete sich mehr und mehr eine geradezu unheimliche Ähnlichkeit mit seinem Onkel ab.
Einige Tage nach ihrem Einzug in Wainwright Hall überraschte Alexander Sally mit der Neuigkeit, er habe seinen Cousin Graham zum Abendessen eingeladen. Es sei an der Zeit, die Kluft, die sich durch das Testament seines Onkels zwischen ihnen aufgetan hatte, zu überwinden. Jenny würde ihn begleiten. Sie könnten auswärts essen, um Graham die Peinlichkeit zu ersparen, im Hause seines Vaters empfangen zu werden, wo er doch sicherlich überzeugt gewesen war, selber einmal alles zu erben. Zu seiner großen Erleichterung war Sally einverstanden.
Abgesehen von der Tatsache, dass Graham Sally beharrlich über ihre Vergangenheit ausfragte und sich mit ausweichenden Antworten nicht zufrieden geben wollte, fing der Abend ganz gut an. Nach Wochen anstrengender Arbeit brauchte Alexander dringend ein wenig Zerstreuung. Nach dem Hauptgericht nahm er Jennys leicht gelangweilte Miene zum Anlass, sie zu einer Zigarette und einem kurzen Abendspaziergang an der frischen Luft zu entführen. Dankbar ging sie auf den Vorschlag ein, und so spazierten sie in einträchtigem Schweigen über den Dorfanger. Plötzlich sagte sie: "Ich bin nicht hinter seinem Geld her."
"Wie kommen Sie denn jetzt darauf? Ich bin mir sicher, dass keiner das von Ihnen denkt."
"Ach nein? Ihre Frau jedenfalls schon."
"Sally? Aber nein, da irren Sie sich."
Jenny warf ihm einen seltsamen Blick zu und wollte ihm schon widersprechen, als sie es sich anders überlegte und lediglich mit den Achseln zuckte.
"Wie auch immer. Ist ja auch egal, solange Sie das nicht glauben."
"Natürlich nicht. Ich sehe doch, wie sehr Sie Graham zugetan sind. Außerdem braucht er jemanden, der ein bisschen auf ihn aufpasst."
Lachend drückte Jenny seinen Arm. "Ich weiß, was Sie meinen. Er t so furchtbar verwöhnt, dass ich wahrscheinlich die erste Frau bin, von der er jemals das Wort nein gehört hat." S. 64-65
Lesezitate nach Elizabeth Corley - Nachruf auf eine Rose