Was jedoch die berufliche Zukunft betraf, so hatte Olaf ganz schlechte Karten.
Elche verdienen ihr Geld normalerweise im Weihnachtsgeschäft. Man läßt sich vor einen Schlitten spannen, man stellt sich vor ein Kaufhaus, man läßt sich fotographieren, man läuft als Touristenattraktion durch Wintersportgebiete, man erschreckt irgendwelche Autofahrer fürs Fernsehen - was auch immer. Auf jeden Fall gehört zu all diesen Aufgaben ein intaktes Geweih. Jeder glaubwürdige Elch muß rechts und links am Kopf eine Schaufel tragen. Das ist Voraussetzung. Sonst braucht man gar nicht erst anzutreten.
Wieder mal war Olaf aus alter Gewohnheit zur Landstraße gelaufen, in der Hoffnung, einen doofen Autofahrer erschrecken zu können. Kaum hatte Olaf hinter einem Baum Deckung genommen, da hörte er auch schon ein deutliches Motorengeräusch. Es klang allerdings nicht so richtig nach einem modernen Auto, sondern eher nach einer altersschwachen Dampfmaschine. Als das Geräusch ganz nahe gekommen war, sprang Olaf aus der Deckung hervor; streckte die abgebrochene Schaufel wie eine Kelle quer über die Straße und rief mit amtlicher Stimme: "Haaalt! Verkehrskontrolle!"
Normalerweise verreißt jeder Autofahrer in diesem Moment voller Panik das Lenkrad, schert jäh aus der Bahn und landet im Straßengraben. Jeder, der schon einmal mit dem Auto im Norden Europas unterwegs war, kennt diese peinliche Situation: man schiebt fluchend den Wagen aus dem Graben, während am Straßenrand ein feixender Elch (meistens sind es sogar mehrere) mit dem Finger auf einen zeigt und sich gar nicht mehr einkriegt vor Schadenfreude.
Diesmal jedoch war alles ganz anders.
Olaf erblickte einen altmodischen Lastwagen, der keuchend zum Stehen kam. Vorne auf dem Bock saß ein Weihnachtsmann in voller Montur. Er klatschte in die Hände, sprang hinter dem Lenkrad hervor und kam auf Olaf zu.
"Was für ein Glück!" rief der Weihnachtsmann, und erst jetzt bemerkte Olaf, daß der rot Uniformierte über dem linken Auge eine schwarze Klappe trug. "Was für ein Glück, daß ich Sie hier treffe!" wiederholte der Weihnachtsmann. "Gerade eben, mitten in dieser Einöde, verreckt mir die alte Mühle! Und ausgerechnet in diesem Moment kommen Sie mir zur Hilfe!"
"Reiner Zufall", sagte Olaf etwas verlegen.
"Ach Quatsch," rief der Weihnachtsmann, "das ist kein Zufall, das ist ein Wunder! Ein echtes Wunder! S. 21-23
Lesezitate nach Volker Kriegel - Olaf, der Elch