Kapitel 1
Lagos, Nigeria
überlebende auf einem floß
Sade packt gerade ihr Englischbuch ein, als Mama aufschreit. Zwei ohrenbetäubende Schüsse zerfetzen die Luft. Sie hört den gellenden Schrei ihres Vaters, erst höher, dann tiefer.
»Nein! Nein!«
Ein aufheulender Motor und das Kreischen durchdrehender Reifen übertönen seine Stimme.
Die Schultasche fällt vom Bett. Bücher, Füller und Stifte liegen verstreut am Boden. Sade rennt zur Veranda und drängt sich an Femi vorbei durch die Tür. Sein Körper ist stocksteif vor Angst.
»Mama mi?«, flüstert sie.
Papa kniet in der Auffahrt, Mama halb an sich gedrückt. Ihr eines Bein ist nackt, gerade ausgestreckt. Papas starke Hände umfassen sie, versuchen das blutrote Ungeheuer aufzuhalten, das immer größer wird. Aber es hat sich bereits durch ihren leuchtend weißen Krankenschwesternkittel gefressen und bedeckt die Erde ringsum.
Ein paar Sekunden nur, mehr nicht. Später wird es einem immer viel, viel länger vorkommen.
S. 5
Kapitel 35
wir müssen uns trauen
Meine Iieben Kinder;
als ihr noch klein wart, haben Mama und ich euch immer Geschichten erzählt. Auch eure Großeltern, Onkel Tunde und Tante Buki - eigentlich viele von uns Erwachsenen, die euch heiß und innig liebten. Ihr erinnert euch doch ganz bestimmt an Schildkröte. Er war zwar langsam wie ein gebeugter alter Mann, aber war er nicht auch ganz schön klug? Manchmal hinterlistig und gewitzt, manchmal weise und vernünftig! Es gibt da eine ganz besondere Geschichte, die ich euch gern erzählen möchte. Darin ist Schildkröte all dies und außerdem auch kühn und mutig. Vielleicht kennt ihr die Geschichte schon. Macht ja nichts. Das Schöne ist schließlich, dass wir nie müde werden, solche Geschichten immer und immer wieder zu hören. Außerdem ist diese Geschichte so besonders, weil es eine Geschichte ist, in der es um Geschichten geht!
LEOPARD UND SCHILDKRÖTE
Es war einmal ein hungriger Leopard, der etwas zu fressen suchte. Schon den ganzen Tag war er erfolglos umhergepirscht. In seinem Magen begann es so langsam zu zwacken. Als die Abenddämmerung hereinbrach, gelangte er auf eine Waldlichtung und dort, direkt vor ihm, lag eine Schildkröte. Mit einem einzigen Schlag ließ Leopard seine Franke auf Schildkrötes Rücken niedersausen.
»Oh, bitte!«, rief Schildkröte. »Das wird auf jeden Fall mein Ende sein. Aber ich bitte Euch, allmächtiger Leopard, gewährt mir ein paar Minuten Gnadenfrist, bevor Ihr mich verschlingt! Ich möchte mich darauf vorbereiten, diese Welt zu verlassen.«
Leopard wusste ja, dass Schildkröte nicht entkommen konnte. Und außerdem dachte er, dass seine Verdauungssäfte sich optimal auf Schildkröte einstellen konnten, wenn er noch ein wenig abwartete.
»Da ich gerade guter Laune bin«, knurrte er, »gewähre ich dir fünf Minuten!«
Leopard hatte ihn kaum losgelassen, als Schildkröte auch schon begann, wie wild im Gras zu scharren. Immer größere Kreise hob er aus. Nicht einmal genügend Atempausen ließ er sich. Leopard sah ihm verwundert zu. Was tat Schildkröte da bloß?
Als Schildkröte die letzte Sekunde genutzt hatte, sah er
sich um und betrachtete die tiefen Furchen, die er ringsum in der Erde hinterlassen hatte.
»Sag mir, weshalb hast du das getan?«, fragte Leopard. »Na ja«, erwiderte Schildkröte. »Jeder, der irgendwann einmal diese Lichtung betritt, wird sehen, dass hier ein Lebewesen sein Äußerstes gegeben hat, um sein Leben zu retten. Du kannst mich zwar fressen, aber es wird mein Kampf sein, an den man sich erinnert!«
Keine Angst, meine lieben Kinder! Ich habe nicht die Absicht, mich von einem Leoparden auffressen zu lassen.
Aber ich glaube an die Kraft der Geschichten, die wir erzählen, genau wie Schildkröte. Wenn wir die Ungerechtigkeit
verschweigen, dann wird sie gewinnen. Wir müssen uns trauen die Dinge auszusprechen. Im langen Fluss der Zeit sind
Worte mächtiger als Schwerter.
Euer euch liebender Vater. S. 281-283
Lesezitat nach Beverley Naidoo - Die andere Wahrheit