PROLOG
A. D. 249
Bei Sonnenuntergang hatte vom Meer her der Wind aufgefrischt. Zu dieser Jahreszeit flämmten die Bauern ihre Stoppelfelder ab, doch die Brise hatte den Qualm, der den Himmel verschleierte, fortgeweht. Nun zog die Milchstraße ihre leuchtend weiße Spur über den Himmel. Der Merlin von Britannien saß auf dem Wächterstein hoch oben auf dem heiligen Hügel, dem Tor, den Blick fest auf die Sterne gerichtet. Obwohl ihn die Himmelspracht gefangen nahm, schenkte er ihr nicht seine ungeteilte Aufmerksamkeit. Er horchte angespannt, um auch noch das leiseste Geräusch aus der Hütte am Berghang unter sich zu erhaschen
Seit Tagesanbruch lag dort die Hohepriesterin in den Wehen. Es war Rians fünftes Kind, und die Geburt der anderen Kinder war leicht gewesen. Eigentlich durfte es also nicht so lange dauern. Die Hebammen hüteten ihre Geheimnisse, doch als er sich bei Sonnenuntergang auf seine Nachtwache vorbereitete, hatte er die Sorge in ihren Augen gelesen. König Coelius von Camulodunum, der wegen seiner überfluteten Felder mit Rian das Große Ritual vollzogen hatte, war ein stattlicher Mann mit hellem Haar und dem für die Belgen-Stämme im Osten Britanniens typischen stämmigen Körperbau. Rian war eine kleine, dunkelhaarige Frau aus dem Volk der Feen, der ersten Bewohner dieser Hügel.
Es wäre nicht verwunderlich, wenn das von Coelius gezeugte Kind zu groß für eine leichte Geburt wäre. Als Rian feststellte, dass sie von Coelius schwanger war, hatten einige der älteren Priesterinnen ihr dringend geraten, das Kind nicht auszutragen. Doch damit wäre der Zauber für das Land unwirksam geworden, und Rian sagte, sie habe der Göttin nun schon so lange gedient und glaube an IHRE Absichten.
Welchen Sinn mochte die Geburt dieses Kindes haben? Der Merlin ließ seinen Blick über den Himmel schweifen und versuchte, die in den Sternen stehenden Geheimnisse zu ergründen. Die Sonne stand gerade im Zeichen der Jungfrau, und der abnehmende Mond, der auf sie zulief, war an diesem Morgen am Himmel sichtbar gewesen. Jetzt verbarg er sein Gesicht und überließ die Nacht der Sternenpracht.
Der alte Mann duckte sich in die dicken Falten seines grauen Mantels und spürte die Kälte der Herbstnacht in den Knochen. Er hatte immer geglaubt, Rian sei dazu ausersehen, ihm die Augen zu schließen und die Lieder bei seinem Begräbnis zu singen. Doch während er dem Lauf des Großen Wagens über den Himmel folgte und nichts hörte, wusste er, dass er nicht vor Kälte zitterte, sondern vor Furcht.
Langsam wie grasende Schafe zogen die Sterne über das Himmelszelt. Im Südwesten leuchtete Saturn im Zeichen der Waage. Stunden vergingen, und die Willenskraft der Gebärenden ließ allmählich nach. Jetzt drang hin und wieder ein Schmerzenslaut aus der Hütte. Doch erst in der stillen Stunde, während die Sterne verblassten, ließ ein neues Geräusch den Merlin mit pochendem Herzen auffahren - das zarte, aufbegehrende Wimmern eines Neugeborenen.
Im Osten färbte der heraufziehende Tag den Himmel bereits hell, doch direkt über dem alten Mann funkelten noch die Sterne. Einer alten Gewohnheit folgend, richtete er den Blick nach oben. Mars, Jupiter und Venus standen in günstiger Konjunktion. Da er seit seiner Kindheit in den Lehren der Druiden unterwiesen worden war, prägte er sich die Stellung der Sterne ein. Dann stand er auf, verzog das Gesicht, als die steifen Gelenke protestierten, und ging langsam den Berg hinab.
Das Kind hatte zu schreien aufgehört, doch als der Merlin sich der Geburtshütte näherte, beschlich ihn ein ungutes Gefühl, denn er hörte jemanden weinen. Frauen traten zur Seite, als er den schweren Vorhang zurückschob, der im Eingang hing. Er war der einzige Mann, der das Recht hatte, hier einzutreten.
Cigfolla, eine der jüngeren Priesterinnen, saß mit einem gewickelten Bündel auf den Armen in der Ecke und summte leise. Der Blick des Merlin glitt an ihr vorbei zu der Frau auf dem Bett und blieb dort haften, denn Rian, deren Schönheit stets in ihren anmutigen Bewegungen zum Ausdruck gekommen war, regte sich nicht. Die dunklen Haare lagen in Strähnen auf dem Kissen; die eckigen Gesichtszüge nahmen bereits die unverwechselbare Leere an, die den Tod vom Schlaf unterscheidet.
"Wie . . . " Er machte eine kleine, hilflose Geste und bemühte sich, die Tränen zu unterdrücken. Er wusste nicht, ob Rian sein leibliches Kind war, doch sie war ihn wie eine Tochter gewesen.
"Es war ihr Herz", sagte Ganeda. Ihre Ähnlichkeit mit der Frau auf dem Bett trat beinahe schmerzhaft deutlich hervor, wenngleich Rians Ausdruck meist so sanft gewesen war, dass es stets leicht fiel, die beiden Schwestern zu unterscheiden. "Sie hat zu lange in den Wehen gelegen. Das Kind war groß, und ihr Herz versagte bei der letzten Anstrengung, es schließlich aus dem Leib zu stoßen."
Der Merlin trat ans Bett und schaute auf die Tote. Dann beugte er sich vor und drückte das Segenszeichen auf die kalte Stirn.
Ich habe zu lange gelebt, dachte er wie betäubt. Rian hätte die Sterberiten mich vollziehen müssen.
Er hörte, wie Ganeda hinter ihm Luft holte. "Sag an, Druide, welches Schicksal prophezeien die Sterne dem Mädchen, das in dieser Stunde geboren wurde?"
Der alte Mann drehte sich um. Ganeda schaute ihn an, mit Augen, die vor Wut und unvergossenen Tränen glänzten. Sie hat das Recht, danach zufragen, dachte er bitter. Ganeda war zugunsten ihrer jüngeren Schwester übergangen worden, als die vorherige Hohepriesterin starb. Er nahm an, dass die Wahl jetzt auf sie fallen würde.
Dann spürte er, wie sich sein Geist erhob, und antwortete auf ihre Herausforderung.
"Also sprechen die Sterne .. . " Seine Stimme zitterte nur wenig. "Das Kind, das zur Herbstwende geboren wurde, zu dem Zeitpunkt, da die Nacht der Morgendämmerung wich, wird an der Wende des Jahrhunderts stehen, an dem Tor zwischen zwei Welten. Die Zeit des Widders ist vorüber, jetzt sollen die Fische herrschen. Der Mond verbirgt sein Gesicht - diese Jungfrau soll den Mond verbergen, den sie auf der Stirn trägt, und erst in hohem Alter wird sie ihre wahre Macht erlangen. Hinter ihr liegt der Weg, der in die Dunkelheit und deren Geheimnisse führt, vor ihr leuchtet das grelle Licht des Tages.
Mars ist im Zeichen des Löwen, aber Krieg wird sie nicht erschüttern, steht er doch unter dem Stern des Königtums. Für dieses Kind wird Liebe mit Herrschertum einhergehen, denn Jupiter drängt zur Venus. Ihr gemeinsames Strahlen wird die Welt erleuchten. In dieser Nacht kommen alle auf die Jungfrau zu, die ihre wahre Königin sein wird. Viele werden sich vor ihr verneigen, doch ihre eigentliche Hoheit wird verborgen bleiben. Alle werden sie preisen, doch nur wenige werden ihren wahren Namen kennen. Saturn steht jetzt in der Waage - ihre schwierigsten Aufgaben werden darin bestehen, das Gleichgewicht zu halten zwischen der alten Weisheit und der neuen. Mercurius indes ist verborgen. Ich sehe für dieses Mädchen viele Wanderungen und viele Missverständnisse voraus, doch führen am Ende alle Wege hin zur Freude und zu ihrem wahren Zuhause."
Die Priesterinnen um ihn herum murmelten: "Er prophezeit Größe - sie wird die Herrin vom See, wie ihre Mutter vor ihr!"
Der Merlin runzelte die Stirn. Die Sterne hatten ihm ein Leben voller Zauber und Macht gezeigt, aber er hatte schon oft die Sterne für Priesterinnen gelesen, und die Konstellationen, die ihr Leben voraussagten, passten nicht zu denen, die er jetzt sah. Ihm schien, dass diesem Kind bestimmt war, einen Weg zu gehen, den noch keine Priesterin von Avalon je zuvor beschritten hatte.
"Ist das Kind gesund und wohlgestaltet?"
"Es ist vollkommen, Herr." Cigfolla erhob sich und drückte das gewickelte Kind fest an die Brust.
"Wirst du ihr eine Amme suchen?" Er wusste, dass im Augenblick keine der Frauen auf Avalon ein Kind nährte.
"Wir können sie ins Dorf zu den Bewohnern am See geben", antwortete Ganeda. "Dort ist immer eine Frau mit einem Neugeborenen. Wenn sie entwöhnt ist, werde ich sie zu ihrem Vater schicken."
Cigfolla legte beschützend die Arme um ihr Bündel, doch die Aura der Macht, welche die Hohepriesterin umgab, senkte sich bereits auf Ganeda, und wenn die jüngere Frau Einwände hatte, so äußerte sie diese nicht.
"Bist du sicher, dass es weise ist?" Dank seines Amtes konnte sich der Merlin die Frage erlauben. "Muss sie nicht in Avalon ausgebildet werden, um sie auf ihre Bestimmung vorzubereiten?"
"Was die Götter verfügt haben, werden sie geschehen lassen, was immer wir auch tun", antwortete Ganeda. "Aber es wird lange dauern, bis ich ihr ins Gesicht schauen kann, ohne meine tote Schwester vor mir zu sehen."
Der Merlin runzelte die Stirn, denn für ihn hatte es immer den Anschein gehabt, dass zwischen Ganeda und Rian nur wenig Zuneigung herrschte.S. 11-15
Lesezitate nach Marion Zimmer Bradley - Die Priesterin von Avalon