Prolog
Juli 1992
Sie war schon seit neun Tagen tot, als mein Schwiegervater mich anrief. Er hatte sich von Roissy direkt ins Büro begeben und die Lektüre der Ausgaben des >Figaro<, um die ihn eine zweiwöchige Abwesenheit gebracht hatte, sofort in Angriff genommen. Allein die Qualität des >Carnet mondain<, der Gesellschaftsnachrichten, rechtfertigte diese Vorliebe und seinen skeptischen Respekt vor der linken Presse. Dieses Interesse, das er mir zum ersten Mal entgegenbrachte, seit ich vor einem Jahr seinen Sohn geheiratet hatte, hatte ich der Tatsache zu verdanken, daß er mich mit seiner Lieblingslektüre hatte in Verbindung bringen können. » >Madame Richard Saint-John, geborene Helene Pernaud. ist in ihrem vierundsiebzigsten Lebensjahr gestorben... nach längerer Krankheit ... ihren Sohn David (hat mir doch davon erzählt, nicht wahr? Verheiratet mit der Tochter oder der Nichte Montaigu?>... ihre Enkelin Catherine .. im engsten Familienkreis (mir ist nicht klar, wie sie die wichtigsten Leute von Saint-John, Saint-John und Co. haben auslassen können) ... am 30. Juni 1992 in Couberville-sur-Mer.< Hrn. Wie dem auch sei, ich nehme an, daß du nicht mehr ausgehst. Zwei Spalten Todesanzeigen, drei Hochzeiten, eine Geburt. Schlechte Jahreszeit, der Sommer.«
Seit einer Woche hatte ich vor mich hin gedöst und die Decke angestarrt. Mein Bauch hat in konzentrierter Erwartung verkrampft die Viertelstunden abgezählt. Als ich auflegte, kam der Schmerz - oder eher ein Versprechen von Schmerz, endlich.
Als ich in der folgenden Nacht in dem heißen Halbdunkel vom Schnarchen meiner Nachbarin und dem gedämpften Lachen der Krankenpflegerinnen hinter der Wand in den Schlaf gewiegt wurde, hatte ich einen Traum. Ich sah sie alle, wie sie sich in der scharfen Helligkeit von Westen her um den lockeren Erdhügel gruppiert hatten. Das Meer hinter ihnen war wegen der Ebbe zurückgewichen, und der ganze Strand, diese wenigen Hektar Schlick, die es unbedeckt gelassen hatte, zitterte und wimmerte von Toten in Leichentüchern; David stand der Grabsäule gegenüber und hielt ein kleines Mädchen an der Hand - ohne Zweifel seine Tochter Catherine; sie wandten mir den Rücken zu; in ihrer Nähe Gabrielle, zu drei Vierteln sichtbar; diese schien zu sprechen, ohne daß ihr ein Ton über die Lippen kam; die Szene war übrigens stumm; plötzlich bewegte sich die Erde, Staubschleier sprudelten daraus hervor wie die Wasserfontäne aus dem Blasloch im Kopf eines Wals; ein Krater bohrte sich von innen ins Grab, etwa einen Meter von David entfernt; das kleine Mädchen wandte sich zu mir um, und ich schaute in das Gesicht einer Greisin. Blutgerinnsel strömten in das zu hohe Gras zwischen den schwarzen Schuhen; aus der schrnutzigen Höhlung kroch mit einer letzten Anstrengung, noch am Leben erhalten durch die makabre Parodie einer Nabelschnur, ein Neugeborenes, das ohne Stimme schrie.
Als ich bei Sonnenaufgang die Augen aufschlug, drehte ich den Kopf zu dem durchsichtigen Säuglingsbettchen aus Kunststoff und begegnete zum ersten Mal dem Blick meines Sohnes.
S. 5-6
Lesezitate nach Julie Wolkenstein - Juliette oder Das falsche Leben